Corvus Kowenzl
Ulysses Zwei
Kleines Oratorium des Wahnsinns
Liebe Leserinnen und Leser!
Es ergeht manchen und vielleicht sogar vielen unter Ihnen jedes Jahr knapp vor Weihnachten gleich: Die mit jedem Tag drängendere Frage: Um Himmels willen, was soll ich nur schenken? – treibt Sie vor sich her.
Natürlich sind damit nicht die Geschenke an die lieben Kinderchen gemeint – die braucht man nur mit Playmobil zuzuschütten sowie mit einer neuen Playstation auszustatten und schon hat man sich freigekauft.
Auch nicht das Geschenk an die Oma ist es, das ernsthafte Schwierigkeiten aufwirft – irgendein Bildband über Südtirol oder ein gesticktes Katzenbild ist ja im Handumdrehen bestellt.
Doch was schenkt man der Gruppe zwischen Grundschule und Altersheim? Immerhin rein statistisch gesehen die Mehrzahl. Schwierig, schwierig!
Einerseits sollte es natürlich ein originelles Geschenk sein, das zeigt, wie ausführlich sich der Geber den Kopf zerbrochen hat, um mal etwas ganz anderes zu schenken, andererseits sollte es auch eine gewisse kulturelle Distinktion aufweisen.
Bald beginnt die anfänglich heftige Motivation, doch noch auf ein Geschenk zu verfallen, das diesen Anforderungen genügt, ernsthaft zu erodieren, um nicht zu sagen, zu zerbröseln, und man klickt resigniert und stumpfen Blicks in den Angeboten von Online-Shops herum.
Vielleicht diese warmen Sporthandschuhe? – Nein, das könnte missverstanden werden. Also doch das Profi-Grillset? – Ist allerdings nicht gerade billig und außerdem läuft das Ding mit Strom, der eh bald unbezahlbar ist. Auch nicht gut. Dann wieder zurück zu den Luxus-Filzpatschen mit Norweger-Muster. Kann man schließlich immer brauchen. . . aber nein, das ist doch irgendwie. . . irgendwie zu fippsig. . . so vergehen qualvolle Stunden und Tage während der 24. gnadenlos näher rückt.
Aber nicht so dieses Jahr! Corvus Kowenzl hat ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können, denn es ist, erstens, originell (zumindest nie zuvor gesehen) und, zweitens, ein wertvoller Beitrag zur Kultur des Abendlandes, der fortan in keinem Bücherbord fehlen sollte. Es ist mir eine Ehre, Ihnen hiermit –
Ulysses Zwei – kleines Oratorium des Wahnsinns
– vorzustellen.
Wie die privilegierten BestellerInnen dieses Werks rasch feststellen werden, handelt es sich dabei um 1600 Verse in 100 Strophen einer überaus befreienden, glücksspendenden Lyrik, so ferne man täglich mit lauter Stimme mindestens eine Strophe rezitiert.
Es wird empfohlen, dabei verschiedene Lesegeschwindigkeiten und Betonungen zu versuchen, so entfaltet sich die Wirkung besser.
Man kann das Oratorium auf sehr transportfreundliche Weise als PDF verschenken, beispielsweise auf einem USB-stick mit einer Weihnachtsmasche herum. Das wäre die Variante für nerds, die sowieso nichts Reales mehr anrühren wollen.
Für die Älteren oder etwas traditioneller Eingestellten kann alternativ ein analoger Ausdruck wie jedes andere Buch verschenkt werden, was bei einem Gesamtumfang von 103 Druckseiten einerseits voluminös genug ist, um als richtiges Geschenk zu gelten, andererseits doch nicht so viel, um abschreckend zu wirken.
Wenn es wieder mal ein stressiger Tag im Büro mit einem grantigen Vorgesetzten war, der seinen Frust an einem ausließ; wenn wieder mal nichts so funktionierte, wie es von sich behauptete; wenn man fast nichts von dem, was man an diesem Tag erledigen wollte, erledigen konnte; wenn man abends wieder mal verwirrt und missgelaunt im überfüllten Bus nach Hause gondelt – dann wartet ab nun im trauten Heim das Remedium gegen alle Unbill dieser Welt: Ulysses Zwei – Kleines Oratorium des Wahnsinns.
Und nachdem man sich zuhause die Hände gewaschen und die Fertigpizza ins Backrohr geschoben hat, kann man sich hinstellen und seine Wut und Hilflosigkeit und vergebliche Sinnsuche in purer Glückseligkeit verdampfen lassen, die das laute Rezitieren der Strophen dieses inspirierten Werkes nachweislich hervorruft.
Das überaus Praktische an diesem Oratorium ist, dass man es keinesfalls stur von vorne nach hinten durchzulesen braucht. Da jede Strophe dieselbe Heilkraft besitzt, reicht es, wenn man zur Steigerung des therapeutischen Effekts einige Strophen nacheinander rezitiert, wobei auch diese keinesfalls in der Reihenfolge gelesen werden müssen, in der sie im Text angeordnet sind.
Mit einiger Übung lassen sich die Strophen auch singen, denn es handelt sich immerhin um ein Oratorium, doch leider wurden auf Anweisung des Ministeriums für Klangverwaltung alle Noten weggespart, sodass freie Improvisation vonnöten ist. Doch auch so bleibt die volle Wirkung erhalten, das kann ich garantieren.
Beglaubigte Dankesschreiben von Leserinnen und Lesern aus aller Welt liegen vor.
Es verbleibt mir die Ehre, all jenen glücklichen Leserinnen und Lesern zu gratulieren, die sich Ulysses Zwei – Kleines Oratorium des Wahnsinns herunterladen werden und damit die Pforte zu einem neuen glückserfüllten Leben aufstoßen – ein Leben, in dem sie sich durch das Rezitieren der Verse endlich der Last enthoben wiederfinden, nach Ursache und Wirkung, nach Bedeutung und Zusammenhängen, Hauptteil und Schluss, nach Relevantem und Irrelevantem, auch nicht nach Handlung und nach Sinn zu fragen.
Ulysses Zwei. Kleines Oratorium des Wahnsinns.
1600 Verse heilsame Lyrik.
Vorrede
Dieses Oratorium ohne Musik. Also sooo viele Töne! Ersatzlos gestrichen. Macht nix. Bleibt der Text. Versmaß abgeschafft. Macht aber auch nix, gar nix und eh wieder nix! Wahnsinn kann sehr duldsam sein – es verbleiben seine Moleküle, frei schwebend in den Aerosolen geheiligter Zuversicht: Geduldige Bedeutungspartikel, hochstabil, unsterblich. Wer könnte sie zählen?
Herausgefangen, willkürlich, über fast ein ganzes Leben hin, doch niemals zeigt sich leergefischt der Äther: Es reichte nicht, nicht auch nur einmal, vergebens war die Mühe. Nur Müdigkeit, was bleibt. Doch Luft zum Rufen ist noch immer gratis. Mit lauter Stimme zu lesen, manchmal auch so richtig schreien. . .und schnell noch hingetuschelt: Geht’s uns nicht gut, uns allen?
1. Strophe
Versuche, uns zu retten. Alles verzagt.
Die Korrekturen nehmen wie immer kein Ende.
Momentan sag ich nur: Keine Zeit.
Schon wieder so viele emails.
Wir bitten dich, erhöre uns.
Sinnlosigkeit, fein geraspelt, zum Drüberstreuen.
Erneut Massenproteste in Minsk.
In Reinform schmeckt Aussichtslosigkeit eher süßlich.
Dagegen erheben wir natürlich Einspruch!
Man kann solche Sachen auch per Videokonferenz erledigen.
Was? – bis dahin sind die eh schon alle tot.
Vertrauen ist das Wichtigste zwischen Banken.
Wir werden die Grundwerte anrufen.
Die Meere sind bereits leer.
Anscheinend war es eine Gasexplosion.
Die Skisaison beginnt pünktlich! Verdammt nochmal!
Was gehen mich die Gaviale an?
2. Strophe
Schon wieder keine Ruhe. Schon wieder.
Inzwischen wackeln auch die Einlagensicherungen.
Das feuchte Laub worin die nackten Larven nachts sich krümmen.
Grad noch schnell diese mail fertigschreiben.
Konstruktive Kritik wäre ja willkommen.
Ohne Kaffee spürt man die Langeweile viel weniger.
Das kann man ohne weiteres noch gute zehn Jahre hinausziehen.
Das Verfahren ist nun endlich eröffnet.
Die nächste Kampagne gegen Gewalt beim Wetterbericht.
Ich – hab – im – Au – gen – blick – kei – ne – Zeit. Klar!?
Drastische Erhöhungen der Dieselsteuer drohen.
Die Waffenruhe wird aber immer wieder gebrochen.
Parallelwelten sind deshalb keinesfalls zu dulden!
Das bedeutet den Abbruch aller Verhandlungen.
Die Orientierung der Kristall-Achsen zeigt das Spannungsfeld.
Aus diesem Grund wurde eine Ausgangssperre verhängt.
Wir bitten dich gleich nochmals: He da, erhöre uns!
3. Strophe
Da kann man nichts mehr machen.
Man hätte vielleicht doch ein wenig früher sollen?
Das wurde jetzt mal so in den Raum gestellt.
Bitte Münzen, nicht Barren!
Schon wieder Verhaftungen. Fast schon langweilig.
Genau, die Tropfen, nicht die Kapseln.
Mein Gott, das war halt mal so ein Gedanke!
Danach ist man müde und ein wenig schwindlig, mehr aber nicht.
Diese viel zu hellen Himmel mit den sturmverschliffnen Wolken.
Man muss immer achtgeben.
Auch Negativzinsen stehen wieder in Aussicht, sagte sie.
Dann war also auch das vergeblich.
Es ist offensichtlich, dass die Gutachter keine Ahnung hatten.
In der Nähe von Trapani auf Grund gelaufen.
Die hörten nicht auf, und hörten nicht auf, es war abstoßend.
Mit Wasserwerfern zurückgedrängt.
4. Strophe
Die hat sich regelrecht aufgeopfert.
Was, schon so spät? Jetzt muss ich aber schnell.
Ohne korrekt befülltes Rechnungsformular geht da gar nichts.
Und wieder drei Aktivisten zu Tode gefoltert.
Hm, ich sollte wohl etwas zu trinken mitnehmen.
Immer diese blöden Wahlen in Amerika.
Im dunklen Hintergrund des Walds, da seh ich eure Augen glänzen.
Der Einspruch ist deponiert, jetzt gilt es erstmal abzuwarten.
Schon die dritte Dürre in Folge. Warum eigentlich nicht?
Heute Abend ist wieder diese beliebte Kabarettsendung.
Hypothese: Die Integration von Randgruppen ist gescheitert.
Die Regierungen? – Machen Sie sich doch nicht lächerlich!
Können Sie sich auch nicht mehr konzentrieren?
Die mailbox ist schon wieder voll.
Das war jetzt aber ein wirklich eindringlicher Appell.
Jedes Frühjahr geht man Schwachsinn jäten.
5. Strophe
Es ist 0.30 Uhr.
Aber auch das ist egal.
Im Gegenzug werden erneut ein paar Leute getötet.
Klar gibt’s eine Dividende.
Diesmal ist der Karren so richtig festgefahren.
Mensch, reiß‘ dich doch zusammen!
Tut uns leid, aber für so was haben wir jetzt keine Zeit.
Erdrutsche in allen Arten von Landschaften.
Die Herrschaft der Idioten vom Typ A.
Der Himmel ist noch offen, man sieht die Sterne funkeln.
Am Ende weiß man: auch dort ging’s nur um Macht und Geld.
Schick mir bitte den link.
Schon wieder Sodbrennen bis zum Zwischenhirn hinauf.
Ja, ja, Sie sagen es, das hat man ja gänzlich übersehen!
Sie befinden sich nun im 15. von 20 möglichen Aufsichtsräten.
So also schaut das Ende aus.
6. Strophe
Ein gewundener Faden mitten durch die Sinnlosigkeit.
Schon wieder ein Anstieg. Juhu, Anstieg, Anstieg, Anstieg!
Endlich mein Morgenkaffee!
Ja ja, der David von Donatello, schön und gut, aber.
Schwarzblauer Himmel, ausgespannt über Werken und Tagen.
Der Bürgerkrieg ist absehbar geworden.
Unbestätigten Berichten zufolge sah er, dass das Licht gut war.
Eine schreckliche Bluttat. Und so ganz ohne Vorwarnung.
Heute ist home office angeraten.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. So sagt man halt.
Zuversicht kills.
Wenn man nur endlich mal Ruhe hätte. . . Ruuuheee!!
Das wars, meine Freunde, das wars. Wir treffen uns dann.
Gewaltfreie Proteste in Sofia. Oder war es Madrid?
Irgendwann knicken sie alle ein.
Es ist von überwältigender Wucht.
7. Strophe
Und noch immer geht der Föhn. Hört das nie auf?
Das sollte man auf jeden Fall mitdiskutieren.
Also, bitte sehr, das hier ist immerhin ein Kunstwerk.
Diese Scheiße stell ich in den Blog!
Schon wieder China, der gelbe Drache.
Da gibt es jede Menge neuer Jobs.
Sicherlich Schwachsinn, aber immerhin glutenfrei.
Die Zeit ist abgelaufen.
Es ist nie zu spät.
Aber nein! Unfaire Duelle sind doch der Kern des Ganzen!
Niemand hatte das am Radar gehabt.
Aber lieber Herr Kollege, sagte der Trottel dann.
Klar ist das illegal, aber es hilft.
Es wurden zwei Tische reserviert.
Wie bitte? – aber das kann denen doch völlig egal sein!
Das geht jetzt zum Obersten Gerichtshof.
8. Strophe
Dann nehmen wir doch lieber den Wasserstoffantrieb!
Die Arbeitslosenzahlen bleiben hoch.
Soweit die Vorhersagen, also, die Prognosen, meine ich.
Wir werden dann schon sehen.
Das liebe Tierchen wurde gestern eingeschläfert.
Eigentlich mag eh niemand mehr, besonders im Sommer.
Darüber wurde strengstes Stillschweigen vereinbart.
Ja, aber was, wenn der Lebenstraum das Träumen selbst ist?
Nächste Überschrift: Terror aus der Gefängniszelle.
Um Himmels Willen, da hat doch glatt ein Beistrich gefehlt!
Eine Unverfrorenheit ist das. Wir werden klagen.
Doch: Wahnsinn kann man tatsächlich pulverisieren!
Inzwischen wurde der öffentliche Nahverkehr noch mehr reduziert.
Die Atomwaffen wurden dabei stillschweigend übergangen.
Um was geht es dabei eigentlich?
Wir bleiben jedenfalls optimistisch.
9. Strophe
Diese Persönlichkeit ist untragbar geworden.
Also das ist nun wirklich das letzte Limit.
Im Rahmen einer kleinen Feier zum Saisonauftakt.
Malaysia gehört auch dazu.
Erste Bachelorarbeit: Rücktritte in Österreich.
Das ist ein klarer Fall für die Küstenwache.
Ja, was treibt denn das Universum auseinander?
Die Kundenbetreuung lässt überhaupt ziemlich zu wünschen übrig.
Ja, es wird eine Klage vorbereitet.
Bitte in diesem Stadium noch keine Details zu nennen!
Die Champions League interessiert mich nicht.
Noah aber fand Gnade in den Augen des Herrn. Kommentieren Sie!
Ein kunterbunter Jahrmarkt soll es werden.
Das Camp wurde nun evakuiert.
Diese Debatte wird mindestens zehn Jahre dauern.
Kilometerweit nichts als Leere.
10. Strophe
Bitte morgen, nicht heute.
Friedliche Massendemonstration in Washington.
Hast du meine mail nicht gelesen?
Das ist leider nur stundenweise möglich.
Dieses eine Mal zu viel.
Äh. . . wohin denn eigentlich?
Irgendwann verliert man jegliche Orientierung.
Da kündigt sich ein Generationenwechsel an.
Die Herrschaft der Idioten vom Typ B.
Wir sind immer optimistisch.
Aber das sind doch alles Auslaufmodelle!
Hey Mann, ich sowieso nur offroad.
Noch immer kein Endlager.
Die Mosaike des Sinnlosen ergeben immer irgend ein Leben.
Die machen beste Geschäfte damit.
Aber die Wildschweine vermehren sich ungebremst.
Fortsetzung folgt.
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