Print Friendly, PDF & Email

Bettina Maria König
Geteilte Liebe
Short Story

Beas Strafpredigt war eine der fürchterlichsten, die ich je über mich ergehen lassen musste. Dass ich sie seelisch unbeschadet überstanden habe, ist sicher nur der Tatsache zu verdanken, dass ich in Gedanken (und Gefühlen) nicht ganz bei der Sache war. Denn während sie tobte und mich unverantwortlich, dumm und unverbesserlich nannte, saß ich in Wirklichkeit immer noch neben Ben im Auto und spürte, hörte, roch und schmeckte ihn. Was für eine Kombination! Sie war unwiderstehlich. Sie schaffte es sogar, in Rekordgeschwindigkeit Julian an die Randgebiete meiner Sinne zu drängen. Und das wollte etwas heißen. Zudem sorgte sie eben auch dafür, dass Beas Ausführungen nur sehr abgefedert in mein Bewusstsein drangen. Als sie fertig war, umarmte ich sie nur stumm und glücklich und verschwand in mein Zimmer. Sollte sie sagen, was sie wollte, ich würde trotzdem tun, was ich tun musste! Ich glaube ja, das war der eigentliche Moment der weiblichen Emanzipation in meinem Leben: der Moment, als ich mich von meiner besten Freundin emanzipierte.

Ben hielt Wort. Was ich nicht anders erwartet hatte. Er rief gleich am nächsten Tag in der Früh an, und ich stürzte beim ersten Klingeln des Apparates aus meinem Zimmer, um Bea zuvorzukommen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte sie abgehoben. Einer Kopfwäsche von Bea hält der stärkste Mann nicht stand. Aber ich war schneller, und so telefonierte ich unter den vorwurfsvollen Blicken meiner Freundin, die sich vor mir aufgepflanzt hatte, genau drei Minuten lang. Zur Erklärung für meine jungen Leser*innen: Ein Festnetztelefon hat in der Regel kein besonders langes Kabel, und unseres war förmlich an den Garderobenschrank gekettet, auf dem es stand. Trotz Beas penetranter stummer Zensur gelang es mir, das nächste Treffen auszumachen. Ben hatte einen Abendspaziergang am Fluss vorgeschlagen, und ich sagte begeistert zu. Romantisch war er auch noch!

Kaum hatte ich aufgelegt, donnerte Bea auch schon los: „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Spinnst du jetzt? Ben ist vergeben. VER – GEBEN!!! Verstanden? Er hat eine Freundin! FREUN – DIN!!! Mit der er zusammenlebt! Die frisst dich auf, wenn sie das von euch erfährt! Und das ist nicht übertrieben!“. Ich wartete, bis sie fertig war und noch ein bisschen länger. Und dann sagte ich in die Stille: „Bea, er hat sich verliebt. Und ich mich auch. So etwas passiert. Er wird sie verlassen, da bin ich mir ganz sicher. Sie ist eh viel zu alt für ihn. Er hat jetzt mich. Und ich ihn!“. Bei diesem Gedanken begann ich zu strahlen und musste Bea einfach spontan einen Schmatz auf die Wange geben. Sie drückte mich genervt weg und seufzte. „Du arme kleine Irre, diesen Blick kenne ich. Dann tu halt, was du nicht lassen kannst. Aber komm dann nicht zu mir, um dich auszuheulen. Ich habe dich gewarnt, und ich tu’s nicht noch einmal!“. Sprach’s und verschwand in ihrem Zimmer.

Es war der romantischste Spaziergang meines bisherigen 19jährigen, mittlerweile schon fast 20jährigen Lebens. Wir hielten Händchen, erzählten uns gegenseitig von unserer Kindheit und Jugend – seine Erzählungen dauerten altersgemäß ein wenig länger – und suchten am Flussufer nach bunten Steinen. Einige davon habe ich sogar bis heute aufbewahrt. „Alma“, sagte Ben feierlich, nachdem wir eine Stunde lang am Ufer gesessen hatten, um dem Wasser beim Fließen zuzusehen, „ich habe mich echt in dich verliebt. Ich weiß, das ist schnell gegangen, aber es ist so. Das passiert, wenn alles passt. Ich will nicht, dass du wieder aus meinem Leben gehst.“ Und dann küsste er mich wieder. Oh, seine Küsse! Endlich ein Mann, der Julian in jeder Hinsicht das Wasser reichen konnte – sogar beim Küssen.

Überhaupt: Julian? Wer war das noch mal? Und vor allem: Wo war der Mann denn? Ich hatte seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Warum also sollte ich ihm die Treue halten? Vielleicht lag er ja gerade in den Armen einer anderen? Ich schüttelte den Gedanken ab, der nun doch ein wenig unangenehm war und widmete mich lieber wieder dem, der gerade wahrhaftig neben mir saß und den Arm fest um mich geschlungen hatte. „Wie wär’s denn, wenn du mit zu meinem Volleyball-Training kommst?“, sagte der Mann an meiner Seite gerade und schreckte mich aus meinen Julian-Gedanken. Ich hatte ihm von meinen sportlichen Ambitionen erzählt, dabei allerdings verschwiegen, dass meine Ballkünste doch etwas zu wünschen übrig ließen. Ich glaube, in diesem Moment hätte er mir auch Kamel-Sportreiten oder Ballon-Wettfahren vorschlagen können, ich hätte überall zugesagt. Und so wurde ich Teil seiner Volleyball-Mannschaft, der „Fliegenden Grillen“.

Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass mich die Mannschaft mit offenen Armen empfangen hätte. Auch wenn Ben mich sehr nett eingeführt hatte. Ich hatte mich bereits daheim umgezogen, und mit meinem modischen Sportdress wirkte ich wie ein Alien, als ich zum ersten Training in die Halle einlief. Der Rest der Mann- und Frauschaft trug das eigens angefertigte Grillen-Dress, jeweils mit Nummer und Spitznamen der Person und einer eindrucksvollen stilisierten Grille auf Brust und Rücken. Ich musste ein Kichern unterdrücken, denn wie eine fliegende Grille sah hier keiner aus, nicht mal Ben. Von seinen langen Beinen mal abgesehen. Gott sei Dank schaffte ich das mit dem Unterdrücken rechtzeitig, denn das hätte nicht gerade zum Erwärmen der anfangs reichlich frostigen Atmosphäre beigetragen. Vor allem der weibliche Teil der Grillen betrachtete mich mit großem Argwohn und vermied es, das Wort an mich zu richten. Sie spielten mir nicht mal den Ball zu. Der männliche Part allerdings taute während des Trainings, bei dem ich mich gar nicht so übel schlug, überraschenderweise schnell auf. Den Rest erledigte dann das gemeinsame Duschen, denn es stellte sich heraus, dass den Grillen nur ein Umkleideraum zur Verfügung stand. Über diesen Umstand wurde bereits beim Gang zur Kabine ausgiebig gescherzt und gelacht, sodass ich schließlich meine Scheu überwand und mich wie die anderen splitternackt Richtung Duschen begab. Das wurde von den Grillinnen nicht so goutiert, weshalb ich weiterhin mit Ignorieren bestraft wurde.

Ganz schlimm wurde es allerdings, als ich in meine Dessous schlüpfte, denn – ja: Ich trug Dessous und keine einfache Unterwäsche. Das hatte ich in Italien gelernt: Dass Stil bedeutet, von Kopf bis Fuß gut angezogen zu sein. Und auch untendrunter. „Nurrrä so – solo così bisttä du una vera donna – einä ricktigä Frau“, hatte die Boutiquenbesitzerin in Florenz mich aufgeklärt. Wobei – schlimm für die Mannschaftsgenossinnen, genau das Gegenteil für die Herren. Als ich wieder vollständig bekleidet war, hakten sie mich unter und zogen mich mit sich zu ihrer Stamm-Pizzeria, wo erst mal ein paar Runden Champagner ausgegeben wurden. Anscheinend war das mit dem teuren Sprudelgetränk in diesen Kreisen üblich, lernte ich dazu. Auch mir erschien es fast schon nichts Besonderes mehr. Da sieht man mal wieder, wie schnell man sich an Luxus gewöhnt. Einige Runden später erweichte sich auch ein Teil der Damen, und eine namens Betty ließ sich sogar dazu herab, mich zu fragen: „Also wie ist das jetzt? Zahlt es sich aus, mit dir Freundschaft zu schließen, oder bleibst du eh nicht in unserer Mannschaft?“. Ich lachte und versicherte ihr, dass ich gerne Teil der Grillen sein möchte, so man mich denn dortbehalten möchte. Die Männer grölten sofort unisono ein fröhliches „Ja!!“, während die Frauen etwas zögerlich nickten. Ich glaubte sogar gesehen zu haben, dass eine oder zwei angestrengt wegsahen. Und damit meine ich nicht Betty, die heute zu meinem angestammten Freundeskreis gehört.

So war ich nun fortan eine „Fliegende Grille“, auch wenn das mit dem Fliegen auf mich nicht so zutraf. Ich kann allerdings sagen, dass sich dank mir das Unterwäsche-Niveau der weiblichen Seite der Mannschaft doch um einiges hob. Zudem stellte sich bald heraus, dass ich doch ein gewisses Geschick für das Stellen der Bälle hatte. Nach etwas Übung und Eingewöhnung schaffte ich es bald, den Herren, die als Schläger fungierten, die Bälle so aufzulegen, wie sie sich das wünschten. Ich platzte fast vor Stolz, als unser Spielertrainer – denn die Mannschaft hatte natürlich einen Trainer – nach ein paar Wochen zu mir sagte: „Du bist gar nicht so unbrauchbar, wie ich am Anfang dachte, Alma. Wir werden dich ab jetzt als fixe Stellerin einsetzen!“. Wobei ich zugeben muss, dass mir das Lob an sich eh nicht so wichtig war – sportlicher Ehrgeiz gehörte noch nie zu meinen herausstechendsten Eigenschaften. Aber es wurde in Bens Gegenwart ausgesprochen, der nun wie ein Honigkuchenpferd in meine Richtung grinste. Und es bedeutete, dass ich ab sofort auch auf die Turniere mitfahren durfte, an denen sich die Mannschaft ab und zu beteiligte. Das war somit eine Möglichkeit mehr, Ben nahe zu sein.

Gelegenheiten dazu schafften wir uns aber ohnehin, wo es nur irgendwie machbar war. Wir trafen uns zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Aperitif, zum Kaffee, auch wenn es manchmal nur wenige Minuten waren, die er sich wegstehlen konnte zwischen seiner Arbeit und den Verpflichtungen zuhause mit der Freundin. Nach jedem Training warteten wir nach dem Pizzaessen ganz unauffällig, bis alle weggefahren waren, um uns anschließend im Auto noch stundenlang zu küssen. Und wenn ich wusste, dass Bea bei Paul übernachtete, schleuste ich ihn in mein Zimmer, und wir liebten uns. Und wenn ich sage: Wir liebten uns, dann entspricht das vollkommen den Gegebenheiten. Mit Julian war es wunderschön gewesen; aber dieser Mann hier, der verschwand nicht dauernd wieder und behandelte mich mit der höchsten Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Auch beim Sex. Genau so musste es sein.

Doch nach der ersten Anfangseuphorie, die von Bea bald als unerträglich eingestuft wurde, schlichen sich leichte Trübungen in mein zunächst so makelloses Glück. Wir schafften es immer nur, ein paar Stunden zusammen zu sein, dann musste Ben heim zu seiner Freundin. Und nachdem er ein paar Wochen spät nach Hause gekommen war, machte sie ihm eine Szene, und er sagte – damit sie nicht Verdacht schöpfte – unsere nächtlichen Nach-Pizza-Stelldicheins für eine Zeitlang ab. Ich litt unsäglich und heulte wie ein Schlosshund, sobald ich mich in meinem Bett verkrochen hatte. Bea konnte ich nicht damit kommen, das war klar. Zudem war sie in letzter Zeit in einer hochexplosiven Stimmung, denn die Hochzeitsvorbereitungen erreichten nun ihren Höhepunkt, und sie fing doch an, etwas nervös zu werden – eine Prä-Nuptialem-Krise, nahm ich an. Das Fest war in einem Monat – wie gerne wäre ich dort mit Ben hingegangen!

Als ich es schließlich nicht mehr aushielt, konfrontierte ich ihn eines morgens bei einem schnellen Kaffee in einem kleinen Cafè in der Stadt – einem unserer geheimen Treffpunkte – mit meinem Kummer. „Ben, ich kann nicht mehr. Ich kann das einfach nicht! Ich tauge nicht zur Geliebten!“, brach es aus mir hervor, und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht loszuheulen. Männer mögen keine Szenen in der Öffentlichkeit, eigentlich mögen sie sie nirgends, und ich registrierte, dass es Ben etwas unbehaglich zumute wurde. „Ich schaffe das nicht mehr – du küsst mich stundenlang, und dann fährst du los und verbringst die Nacht bei ihr!“, sagte ich darum sehr leise. „Es geht nicht mehr. Du musst dich entscheiden. Sie oder ich“, schloss ich und traute mich nicht aufzusehen vor lauter Angst, er könne gleich „Sie natürlich!“ antworten. Stille. Außer schwerem Atmen hörte ich nichts.

Ich starrte immer noch in meinen Schoß. Es dauerte eine Unendlichkeit, dann fasste er endlich mein Kinn und drehte mein Gesicht in seine Richtung. „Das verstehe ich gut“, sagte er dann, und seine Stimme klang ganz sanft. „Mir geht es genauso. Ich halte die Heimlichtuerei auch nicht mehr aus. Ich will dich. Nur mehr dich. Alles andere geht nicht mehr.“ Nun entkam mir doch eine Träne. Sie rollte mir langsam die Wange hinunter. „Ich rede mit Wanda. Ich sage es ihr. Versprochen!“ Jetzt gab es kein Halten mehr, und ich weinte und lachte zugleich. „Nana, ist ja gut“, versuchte mich Ben zu beruhigen und sah sich dabei nach alter Gewohnheit um, ob uns nicht jemand bei dieser Szene beobachtete, der dann seiner Wanda Bericht erstatten könnte. Dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass ihm das jetzt eigentlich egal sein konnte, und er zog mich zu sich, um mir einen langen Kuss zu geben. In aller Öffentlichkeit.

Als wir einige Minuten später aufbrachen, und ich zur Vorlesung auf die andere Seite der Stadt radelte, hatte ich das Gefühl, zu schweben. Ich muss gestehen, von der „Geschichte der italienischen Literatur“ habe ich an diesem Tag nicht viel mitbekommen. Dafür wusste ich am Ende der Stunde bis ins Detail, wie mein Auftritt bei Beas Hochzeit mit Ben an meiner Seite aussehen würde.

Bettina Maria König

Bettina König wuchs als Tochter eines tüchtigen Apothekers im sehr fernen Außerfern auf, wo es ihr aber bald zu kalt und provinziell wurde. Sie flüchtete nach Innsbruck und mutierte via Studium zum Dr. phil., um postwendend in die Riege der „Tirol Werber“ aufgenommen zu werden. Als das Bedürfnis nach Wärme noch größer wurde, nahm sie eine Stelle als Presseverantwortliche in Bozen an – nicht ahnend, dass es dort mit der Provinzialität noch schlimmer bestellt ist als im heimatlichen Reutte. Dem Berufsbild des professionellen Schreiberlings treu bleibend, durchlief sie in Südtirol mehrere Positionen und war zwischendurch auch freiberuflich als PR-Fachkraft, Journalistin und Texterin tätig. Das Bedürfnis nach kreativem Schreiben befriedigte sie unter anderem durch die Herausgabe eines Kinderbuchs („Die Euro-Detektive“) für eine Südtiroler Bank. Derzeit zeichnet sie für die Unternehmens-Pressearbeit von IDM Südtirol verantwortlich, hat die kreative Schreiblust aber immer noch nicht gebändigt. Zwei erwachsene Kinder.

Schreibe einen Kommentar