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Alois Schöpf
Der Sandler und das Heilige
Wie demonstrative Moral den Konsens einer Gesellschaft zerstört
Essay

Schon im Sommer durfte ich es feststellen. Im Herbst wieder nach einer abendlichen Sitzung im Haus der Musik. Und auch dieser Tage, als ich von einem Konzert im Congress Innsbruck zur Parkgarage zurückkehrte: Seit Wochen nächtigt ein, um es vornehm auszudrücken, Obdachloser direkt in der Tornische der Hofkirche. Nach dem Meisterkonzert waren es sogar zwei, die einträchtig in ihrem Schlafsack den Eingang blockierten.

Gewisse Überlegungen muss man im Zeitalter der Politischen Korrektheit mit dem Satz beginnen: Um Missverständnissen vorzubeugen… Ich unterziehe mich also der Pflicht: Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, dass ich gegen Obdachlose nichts einzuwenden habe, dass ich einige von ihnen im Rahmen der Innsbrucker Promenadenkonzerte sogar kennenlernen durfte, darunter befanden sich originelle und liebenswerte Zeitgenossen, aber auch solche, bei denen ich und das jeweils für die Sicherheit des Publikums zuständige Team von Schweißausbrüchen geplagt wurde, so lästig und aggressiv waren sie. Dem liebenswerteren Teil von ihnen würde ich es jedenfalls von Herzen gönnen, sofern sie es nicht über sich bringen, eine städtische Notschlafstelle aufzusuchen, wenn sie ihre Nächte, finanziert von der Stadt Innsbruck, in einem 4-Sterne Hotel freier Wahl verbringen könnten.

Gerade weil ich jedoch diese sogenannten Obdachlosen, die im Volksmund Sandler heißen, durchaus persönlich kennengelernt und nicht den geringsten Mangel an Intelligenz an ihnen festgestellt habe, möchte ich sie auch nicht aus der Entfernung berührungsloser Nächstenliebe als bedauernswerte Opfer einstufen, denen ungefragt geholfen werden muss, sondern ihnen Vernunftfähigkeit unterstellen: Sie wissen genau was sie tun, wenn sie sich in der Tornische der Hofkirche hinlegen.

Sie wissen, dass die Hofkirche, auch Schwarzmanderkirche genannt, eines der zentralen Kunstdenkmäler Innsbrucks, ja sogar eines der bedeutendsten Denkmäler der Renaissance nördlich der Alpen ist, wie Norbert Hölzl es in seinem Beitrag vom 27. August 2020 in diesem Blog eindrucksvoll dargestellt hat. Und sie wissen, wenn ihnen auch die kunsthistorische Bedeutung des kaiserlichen Kenotaphs in diesem Ausmaß nicht bewusst sein mag, zumindest, dass sie vor einer Kirche nächtigen, die für alle Gläubigen und jene, die vor Religion Respekt haben, als Heiligtum gilt, in das man nicht mit nacktem oder halbnacktem Oberkörper eintritt, in dem man nicht herumbrüllt, nicht besoffen herumwankt, in dem und unmittelbar vor dem man sich also insgesamt und überhaupt ehrerbietig verhält, auch wenn man nur ein ungläubiger Tourist sein sollte.

Indem dies unsere Obdachlosen als vernunftbegabte Wesen genau wissen, übermitteln Sie uns, wenn sie dennoch vor der Hofkirche schlafen und, ihren menschlichen Bedürfnissen folgend, während der Nacht zwangsläufig nicht nur dieses tun, dass sie, um es situationsadäquat auszudrücken, auf diese unsere Gesellschaft scheißen!

Daraus jedoch resultiert die Frage, wie beneidenswert tolerant wir eigentlich sind, wenn wir uns diese Botschaft über Wochen hinweg anhören, ohne jemals darauf eine Antwort zu geben. Ist es Feigheit, ist es Bequemlichkeit, ist es schlicht und einfach Dummheit, wenn wir nicht irgendwann sagen: Geschätzter, versandelter Zeitgenosse, wir haben vernommen, was du von uns hältst und respektieren es. Aber jetzt, da du es nicht nur einmal, sondern schon Dutzende Male gesagt hast, sei bitte so freundlich und hör dir auch unsere Meinung an: Die Hofkirche ist einer überwiegenden Mehrheit von uns sowohl als Kunstdenkmal, als auch als öffentlicher Raum, als auch als sakraler Raum heilig, und vor und in einem Heiligtum schläft man nicht und verrichtet nicht seine Notdurft! Solltest du dies nicht zur Kenntnis nehmen und nicht einsehen wollen, dass es in dieser Stadt andere, weniger provozierende Orte gibt, wo du dich hinlegen kannst, werden wir dich von hier vertreiben.

Über solch eine Rede, die ohnehin ins Paradies couragierter Bürger zu verweisen ist, würde der also Angesprochene berechtigter Weise milde lächeln und sich in der Überzeugung, weiterhin an dem Ort verharren zu können, den Schlafsack über die Ohren ziehen. Denn er kennt uns! Er weiß um die Feigheit seiner Stadtväter und Stadtmütter, die trotz der Bestätigung des Nächtigungsverbots für Obdachlose durch den Verfassungsgerichtshof weiterhin über ihn hinwegsehen werden. Und er weiß, dass der Eigentümer der Hofkirche, das Land Tirol, auf eine zivilrechtliche Klage verzichten wird. Und er weiß, dass er der katholischen Kirche, deren Priester in der Kirche die Messe lesen, durch die Großzügigkeit, ihn hier schlafen zu lassen, den Nimbus der Nächstenliebe verpasst, die sie dann umso mehr in Sachen Vergütung von Missbrauchsopfern, Abtreibung und Liberalisierung der Sterbehilfe vermissen lassen kann. Stolz weiß er auch, dass er jede Nacht, die er vor der Hofkirche verbringt, unbezahlte Werbung für einen Großkonzern macht, der sich die sogenannte „Caritas“ auf die Fahnen geschrieben hat. Und zuletzt weiß er vor allem um die abgrundtiefe Feigheit seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen, die an ihm vorbeigehen, sich über ihn ärgern, was ihn freut, und die nicht selten aus diesem Ärger heraus eine rechte Partei wählen, ohne dies je öffentlich einzugestehen, und er weiß, und das ist das Wichtigste, das er weiß, dass sie alle, die ihn sehen und wieder wegschauen, von der panischen Angst besessen sind, in den Augen ihrer Mitmenschen als Unmensch und nicht vielmehr als Verteidiger der Menschenrechte, als edler und guter Mensch also dazustehen.

Die demonstrative Moral, die den Sandler, der nicht Sandler genannt werden darf, weil diese Bezeichnung rassistisch ist, dringend benötigt, um sich im Lichte seiner schmutzigen Not als umso Welt errettender präsentieren zu können, spaltet die Gesellschaft, deren Zusammenhalt auf der anthropologischen Tatsache aufbaut, dass es in allen Kulturen der Welt als Gegenstück zu einem schwierigen, langweiligen, oft gefährlichen und schmutzigen Alltag nicht nur innerhalb des Religiösen – für viele jedoch immer noch vor allem darin -, sondern auch in einer inzwischen vollkommen säkularen Welt heilige Räume braucht, Tempel, Pagoden, Gärten, Kirchen, Arenen, Opernhäuser, Theater, Konzertsäle, aber auch Plätze, Straßenzüge, Innenhöfe und Märkte, deren Kostbarkeit, Gepflegtheit, Schönheit und Harmonie den Seelen nicht nur der einzelnen Individuen, sondern den Seelen aller als Gemeinschaft den Glauben an sich selbst zu erneuern helfen. In gleicher Weise wie Musik, Dichtung und Kunst durch Klang- und Leseräume des Heils, des Gelungenen, Vollendeten, Heiligen den Menschen Kraft und Hoffnung spenden – so pathetisch dies klingt, so pragmatisch ist der Effekt im täglichen Leben – benötigt auch die städtische Architektur heilige Orte der kollektiven Selbstvergewisserung.

So repräsentiert, um zum konkreten Anlass der Überlegungen zurückzukehren, der sogenannte Rennweg in Innsbruck wie kaum ein anderer Platz die Geschichte des Landes, die, ob wir sie nun bejahen oder angewidert von uns stoßen, die Grundlage unseres aktuellen kulturellen Daseins bildet. Mit der Hofkirche aus der Zeit der Renaissance, der Hofburg aus der Zeit des Barock, dem Landestheater aus der Zeit einer verspäteten bürgerlichen Revolution, mit dem Kongresshaus aus der Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs der Nachkriegszeit, mit der avantgardistischen Talstation der Hungerburgbahn vom Beginn des 21. Jahrhunderts und zuletzt mit dem Haus der Musik als gelungenes Beispiel zeitgenössischer Architektur. Nicht zu vergessen die großartigen, farbenprächtigen Aufmärsche der Tiroler Volkskultur, inklusive aller peinlichen Anbiederungen an eine heruntergekommene Monarchie und ein mörderisches Naziregime.

Wenn dieses Tableau und mit ihm das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, wenn also dieses abseits jeder Religion auch in einer säkularen Epoche und in allen Kulturen der Welt gespielte Spiel der Gegensätze zwischen Profanem und Heiligem (Hierophanem) im öffentlichen Raum nicht unter besonderen Schutz gestellt wird, ruiniert eine Gesellschaft die Grund- und Glaubenssätze, die ihr an solchen Orten einen sinnlich erfahrbaren Zusammenhalt geben. Ein oder zwei Sandler schaffen es naturgemäß nicht, diese Selbstvergewisserung nachhaltig zu stören oder gar zu zerstören. Man könnte also auch großzügig sein. Wenn sich hinter dieser Großzügigkeit nicht so sehr Humanität, als vielmehr die Eitelkeit, gut dastehen zu wollen, und somit die gefährliche Impotenz einer aus Feigheit und Faulheit resultierenden Scheintoleranz verbergen würden!

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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