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Alois Schöpf
Die Seelen im Eis
Zum Karfreitag

Das Liebesgebot ist das höchste Gebot, daher müssen lieblose Menschen nach ihrem Tod die härteste Strafe erleiden: Ihre Seelen werden ins Eis der Gletscher gefroren, und wer das sieht, kann den Anblick kaum ertragen ob so viel schwei-genden Jammers.

Überall im blauen Eis stehen die Büßenden, Schulter an Schulter, Kopf an Kopf, und sind doch meilenweit voneinander entfernt, fühlen die Einsamkeit, und keiner kann mit dem andern reden. So leiden sie für ihr kaltes Herz und warten auf den Tag ihrer Erlösung, an dem sie in ein neues Leben zurückkehren dürfen, um zu lernen, was Liebe ist.

Nun geschieht es zuweilen, dass unser Herr Jesus herabsteigt und über die Gletscher schreitet, um die Büßenden zu trösten und sie zu ermuntern, auszuharren, denn am Ende aller Leiden steht doch die himmlische Glückseligkeit, die nicht zu beschreiben ist.

Da geschah es einmal, dass eine Seele besonders laut klagte, ihr Schicksal bedauerte und die Tränen und bitteren Worte nicht endeten. Da sprach Jesus: „Was klagst du, dass es nicht zu ertragen ist?“
„Ach, wie soll ich nicht klagen und jammern, muss ich doch noch vierzig Jahre im Eis gefroren bleiben, und die Zeit will nicht vergehen. Wenn du der Erlöser bist, dann erlöse mich aus meiner Pein!“

„Das kann ich nicht“, sprach der Herr Jesus, „auch wenn ich es wollte, weil ich Mitleid mit dir empfinde. Denn deine Not ist die Not deiner Seele, und deine Seele ist frei nach den Gesetzen der Schöpfung. Wenn ich durch meine Macht deine Freiheit zerstörte, würde ich auch deine Seele zerstören und du wärest auf ewig verloren, als hätte es dich nie gegeben. Verzage nicht, auch die vierzig Jahre werden einmal vergangen sein. Und was sind vierzig Jahre gegen die Unendlichkeit der himmlischen Freuden?“

So sprach der Herr Jesus und schritt weiter über das Eis. Da kam er zu einem Büßer, der litt wie die anderen, aber seine Augen frohlockten und er pries den Tag, der angebrochen war.

Da wunderte sich Jesus und fragte: „Wie kommt es, dass du dich in deiner Not so freust?“
„Stell dir vor!“, sprach die Seele. „Heute hat endlich ein Vogel aus dem Schnabel jene Eichel verloren, aus der eine tausendjährige Eiche erwachsen wird, und aus deren Holz wird eine Wiege gefertigt, und das Kind, das als Erstes in diese Wiege gelegt wird, ist in meinem zukünftigen Leben mein Vater. So freue ich mich über meine baldige Erlösung!“

Da war der Herr Jesus bis ins Herz gerührt. Er streckte den Arm aus nach der Seele und sprach: „Komm herauf aus dem Eis, du bist befreit von deinen Sünden und befreit aus dem Kreislauf des Menschenlebens, gehe ein in die himmlische Glückseligkeit.“

So war das mit unserem Herrn Jesus am Gletscher.


Aus:
Alois Schöpf: Der Traum vom Glück. Ausgewählte Alpensagen. Seite 279

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Susanne Preglau

    Angesichts der aktuellen klimatischen Entwicklungen ist mit einer baldigen Befreiung aller Seelen aus dem Eis zu rechnen – so wird die klagende Seele keine 40 Jahre mehr auf ihre Erlösung warten müssen.
    Was allerdings die vorzeitige, gleichzeitige Befreiung all der kalten Herzen bedeutet, kann den mitdenkenden Beobachter nur mit Besorgnis erfüllen.

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