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Helmuth Schönauer
Lebenslauf eines Binnenflüchtlings
Short Story

1. Die Fälschung

Gleich nach unserer Erst-Aufnahme in der Leitgebschule mussten wir uns in der Klasse vorstellen. Viele von uns hatten keinen Lebenslauf, oder zumindest einen solchen noch nie formuliert.

Ich antizipierte freilich damals schon jene Faustregel aus der Schriftstellerei, wonach man einen Romanhelden am ehesten glaubwürdig macht, wenn man sein Schicksal aus fünf gewöhnlichen Menschen zusammensetzt. Da ich im Alphabet ziemlich weit hinten war, hatte ich die Möglichkeit, mir aus den Bausteinen meiner Vorredner einen guten Lebenslauf zusammenzustellen.

Unsere Volksschullehrerin war gerade frisch entnazifiziert und ließ durchblicken, worauf es ihr ankam. Als Muttersprache sollten wir unbedingt deutsch angeben, auch wenn wir es nicht beherrschten. Als besonders gelungen galt ein Lebenslauf, wenn man irgendwoher vertrieben worden war.

Damals bestand die halbe Stadt Innsbruck aus Vertriebenen, im Landhaus gab es sogar ein Vertriebenen-Referat, das gleich neben den Franzosen lag, wie damals die Chefetage genannt wurde.

Als ich an der Reihe war, erklärte ich, dass ich ein sogenannter Binnenflüchtling sei. Meine Eltern hatte man aus dem Unterland vertrieben. (Ich sprach dieses Wort so langsam aus, wie es ging.) Mein Vater sei bei der Krankenkasse und meine Mutter warte mit mir jeden Tag auf ihn, bis er zum Essen komme. Bald sollte ich ein Geschwisterchen bekommen, sagten meine Eltern, dann würde ich abermals vertrieben, nämlich aus dem Schlafzimmer der Eltern, worin man den Neuen oder die Neue im Gitterbett aufziehen wolle.

Ich sage alles auf Deutsch, weil ich nichts anderes könne. Allerdings rede man im Unterland anders als in Innsbruck, weil man oft ein „ei“ hinten ans Wort hänge, um es sympathischer zu machen. (Wir sagten Dianei und Tischei, Kreidei und Tafei, wenn wir an die Tafel gingen.)

Die Lehrerin war verzückt, weil ich gerade ein Lebensbild vorstellt hatte, von dem sie gerade entnazifiziert worden war.

Ob wir schon gut in der Stadt integriert seien, wollte sie abschließend wissen?

Ich zitierte meinen Vater, der immer davon schwärmte, dass es in Tirol eine Einheitspartei gebe. „Da ist man mit allen im Land per du. Und wenn du aus einem Ort weichen musst (weichen sagte man damals, wenn etwas schief ging), bist du im nächsten Ort sofort willkommen, weil ja alle am gleichen Strang ziehen und bei der gleichen Partei sind.“

Die Lehrerin schickte mich mit vom Lob glühenden Antlitz auf den Platz zurück.

Die anderen waren nicht so gut im Zusammenkomponieren von Lebensläufen. Manche fingen zu weinen an, wenn sie den Herkunftsort nennen mussten, und die meisten Orte waren wirklich zum Wegziehen. Tobadill ist mir noch in Erinnerung, und Piösmes, da hatte ich bis Weihnachten zu üben, bis ich Karlis Herkunftsort aussprechen konnte.

Ein paar hatten keine Väter, weil diese oft den Umzug der Mütter in die Stadt verpasst hatten. Jemand sagte gar, sein Vater sei ein Schwarzer, was die Lehrerin aber gleich erklärte: So heißen die, welche die Verantwortung für das Land tragen.

Da mein erster Lebenslauf ziemlich erfolgreich war, habe ich ihn beibehalten. Später fügte ich noch hinzu, dass ich im Arbeitsleben Bibliothekar gewesen sei.


2. Die abgeschriebene Fälschung

Meinen Ur-Lebenslauf habe ich schon in der Volksschule erfunden und auf das Wesentliche gestrafft. Wann immer ich seither einen brauche, kann ich auf ihn zurückgreifen und mit jenen Schlagwörtern ausschmücken, die gerade gefragt sind.

Im Kern dieses biographischen Schlagschattens ist die Information verborgen, dass ich mit meinen Eltern als Binnenflüchtling nach Innsbruck gekommen bin, weil dort der Vater eine kleine Wohnung in Pradl angezahlt hatte, deren letzte Rate übrigens 2053 fällig sein wird.

Was wir heute Binnenflüchtling nennen, hieß damals Vertriebene. Und tatsächlich wurden meinen Eltern jeweils aus den Bauernhäusern ihrer Kindheit vertrieben und mussten heimatlos in Innsbruck Fuß fassen. Meinem Vater half aber die damals schon allmächtige Einheitspartei, das Trauma der Verdrängung aus einem Unterinntaler Ort zu beherrschen.

Mein Vater schwärmte bis ins hohe Alter davon und war glücklich wie meine Mutter und ich. Einmal wollte mich ein Südtiroler Freizeitmagazin als Glossisten gewinnen, aber ich müsse einen Lebenslauf schicken.

Da habe ich meinen Ur-Text aus den 1950er verwendet und Sätze mit „Glosse“ und „Kolumne“ hineingeklebt.

Ich kam als Glossist auf die Welt. Meine Eltern bestaunten mich und sagten zwei tolle Dinge:
– Der ist uns gut gelungen.
– Und: Schau einmal, der ist ja bei der Geburt schon fertig.

Tatsächlich konnten sie mir nichts mehr beibringen, weil ich immer schon alles wusste. Das kommt mir auch jetzt noch beim Glossenschreiben zugute, dass ich immer alles weiß.

Einen gelungenen Lebenslauf erkennt man übrigens daran, dass er sich bei den eigenen Kindern wiederholt.

Also: Wir Eltern waren bei der Geburt unserer beiden Kids jeweils erstaunt, wie komplett sie schon waren. Und das, obwohl sie als Frühgeburten in Erscheinung traten.

Für uns hatte das den Vorteil, dass wir die Kinderbeihilfe früher beziehen konnten.
Und wir sagten unisono: Die sind uns gut gelungen.

Freilich sind sie später keine Glossistinnen und Glossisten geworden, aber auch ich verwende diesen Beruf ja nur für den Lebenslauf, wenn ich mich als Texter irgendwo zur Verfügung stelle.

In meinen Lebenslauf füge ich dann immer hinzu, dass jede Zeitung innerhalb eines Jahres eingehen wird, wenn ich darin schreibe. Das erklärt, warum ich nicht bei großen Zeitungen tätig bin. Das Südtiroler Freizeitmagazin ist prompt nach sechs Monaten eingegangen, nachdem ich darin wundersame Texte unter dem Titel „Wetterfühlig“ veröffentlicht hatte.

Am öftesten musste ich übrigens das Wort „Bibliothekar“ in meinen Lebenslauf hineinkleben. Dieser Begriff ist ausgesprochen zeitlos besetzt und international.

Ein Lebenslauf ohne „Bibliothekar“ lässt sich im Umkehrschluss kaum niederschreiben. Und es gibt sogar ein statistisches Bonmot, wonach in jedem zweiten Roman eine Kellnerin und in jedem dritten ein Bibliothekar vorkommen.
Das hat erzähltechnisch den Grund, dass die handelnden Personen immer ins Gasthaus gehen, wenn sie sich gegenseitig ausweinen, und in die Bibliothek, wenn sie ihre Leere im Kopf auffüllen wollen.

Für den Lebenslauf hat diese Berufsangabe den Vorteil, dass niemand mehr nachfragt. Der Bibliothekar ist wirklich etwas Endgültiges, das jeden Zweifel ausschließt. Das hängt damit zusammen, dass niemand freiwillig Bibliothekar wird. Der Weg zu diesem Beruf ist ein gekrümmter. Erst, wer gesehen hat, wie lebensfeindlich die meisten Berufe sind, wird sich diesem Beruf zuwenden und freiwillig als seinen Lebenssinn begreifen.

Gegenwärtig verwende ich das Wort Bibliothekar hauptsächlich für meine Kurzgeschichten, die ich monatlich bei meinen Kids abliefern muss, damit sie mich nicht ins Altersheim stecken. Solange er selber schreiben kann, kann er sich auch selber den Haushalt führen, sagen sie pragmatisch.


3. Die Fälschung für das Altersheim

Für meine Kids muss ich immer etwas Positives am Schluss meiner Geschichten schreiben, damit sie mich nicht ins Altersheim schicken.

Also: Ich werde 2053 hundert Jahre alt, das will ich erleben, weil dann die Wohnbauförderung abgelaufen ist, die mein Vater 1953 für seine Kleinwohnung in Pradl unterschrieben hat.

Die Kids raten mir neuerdings, mit dem Entwurf eines Altersheim-Lebenslaufs schon einmal zu beginnen, weil ich ihn womöglich überraschend bald brauchen werde. Wie bei allen wissenschaftlichen Arbeiten gibt es auch für diese Einlieferungs-Lebensläufe anerkannte Ghostwriter, die für kleines Geld große Lebensläufe machen.

Aber auch das Plagiieren ist eine Option, seit sich das Abschreiben bis in die höchsten Politkreise durchgesetzt hat.

Als gelernter Archivar kann ich gar nicht anders, als wissenschaftlich zu denken. Alles, was ich schreibe, ist eine Erkenntnis für das Archiv, die ich möglichst hinauszuzögern trachte, damit sie nicht in den Geruch eines Vorlasses kommt.

Mein Lebenslauf ist ein Vorlass! Und: Rachmaninow musste 1897 die Uraufführung der ersten Symphonie als Fiasko erleben.

Jetzt heißt es fit sein, um daraus einen Einlauf für das Altersheim zu kreieren. In manchen Altersheimen wird zu Weihnachten Rachmaninow gespielt, das ist schon mal eine Konnotation, die ich mitliefern soll.

Bei meiner Geburt war der Kontinent noch erfüllt von Trauer um Stalin, der im März gestorben war. Noch im embryonalen Zustand habe ich Trauermusik gehört unterbrochen von der Kreissäge Edith Piaf, die mich regelmäßig von der Nabelschnur warf.

Vielleicht kann ich den Lebenslauf für das Altersheim fertig schreiben, wenn ich schon drin bin.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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