Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer
Ausgeruhte Lebensläufe
Stichpunkt

Manchmal werde ich von Freunden eingeladen, dass ich mit ihnen im Garten liege oder im Pool stehe.

Die Gegenwart unterscheidet sich immer von der Vergangenheit. Wenn man es weiß, ist man klug, würde Arthur Schnitzler sagen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen jetzt und früher ist freilich die Art des Gesprächs. Während man früher aus einem gemeinsamen Lese- oder Filmschatz zitierte, um so über den Umweg der Kunst eine Gemeinsamkeit zu finden, die durchaus über Distanzen hinwegspringen konnte, wird heutzutage nichts mehr zitiert, sondern man lässt das Netz sprechen.

Wenn du fragst, wie es den Kindern so gehe, macht das Gegenüber meist das Smartphone auf und zeigt dir Bilder von quietschenden Säuglingen oder mountainbikenden Kids in einem uninteressanten Gelände. Ähnliches widerfährt einem, wenn man nach dem letzten Urlaub fragt. Die elendslangen Diashows von früher sind mittlerweile zu rasanten Fotostraßen zusammengeschnitten, die du über dich ergehen lassen musst, wenn du das U-Wort sagst.

So gesehen ist die Pandemie ein Segen, weil die Motive im Lockdown zurückgedrängt worden sind. Freilich siehst du jetzt allenthalben jede Menge Leute auf einer Couch sitzen, und die euphorisierten Eltern erklären dir, wie gut Couch und Psychiater sind. Vor allem, was die Couch betrifft, sie ist nämlich von IKEA.

Unsere Spielregel für den Garten freilich lautet: Wir reden nur Sachen, wofür man kein Handy braucht. Wir sind also auf unsere Erinnerungen angewiesen und auf die Fairness, dem Gegenüber in kurzen, vollständigen Sätzen das zu erzählen, was niemand mehr zu beherrschen scheint: Nämlich über das interessante eigene Leben ohne Aktionismus zu berichten.

Ein günstiges Arrangement für diese Absicht nennt sich „nachgeholte Biographie“. Dabei sucht man sich aus dem eigenen Leben eine Jahreszahl heraus, in der zuerst nichts geschehen ist, beim Nachdenken und gemeinsamen Erinnern jedoch allerhand losgetreten wird.

Um den Frieden im Garten und Pool nicht zu stören, wählen wir Ereignisse aus, die vielleicht alle erlebt haben, so dass sie mitreden können. Das können Filme aus den Sechzigern sein, Kleidung aus den Siebzigern oder Spielzeug aus den Achtzigern. Uns bleibt oft der Mund offen, wenn wir sehen, was wir ohne Digitalisierung alles zusammenbringen.

Ein recht aufregendes Movens ist immer, wenn ich als Bibliothekar gebeten werde, meine Schlüsseljahreszahlen mit entsprechenden Büchern zu unterlegen. Da ich bei meiner Geburt noch nicht lesen konnte, wiewohl ich nach Einschätzung meiner Eltern schon fertig war, musste ich später die ersten fünfzehn Lebensjahre nachlesen. Ich tat dies während meiner Studien, sodass ich 1978 beim Dienstantritt als Universal-Bibliothekar damit durch war.

Als Muster einer nachgearbeiteten Lesebiographie muss natürlich immer mein Unterfangen herhalten, zu fünf wichtigen Jahreszahlen jeweils zwei Romane zu lesen. Mittlerweile kann ich diese Biographie schon fast auswendig, was den Vorteil hat, dass sie auch im Falle eines Verhörs durch die unbelesene Behörde glaubwürdig wäre.

1953 / In der Weltgeschichte wurde meine Geburt überstrahlt vom Tod Stalins. Die allgemeine Stimmung lässt sich in zwei Romanen dieses Jahres zeigen. Wolfgang Koeppen publiziert die „Trilogie des Scheiterns“, und der mittlere Teil, „Das Treibhaus“, erscheint zu meinem Geburtstag. Aus österreichischer Sicht ist Franz Tumlers „Ein Schloss in Österreich“ bemerkenswert. Darin versucht der halb-entnazifizierte Schriftsteller, alles wieder gutzumachen, indem er ein Thema aus 1939 nimmt und die Nazi-Zeit völlig zurückgenommen und ausgeblendet beschreibt. Ein Roman der völligen Verinnerlichung und Ablenkung.

1960 / Frankreich zündet in der Sahara die erste Atombombe und ich gehe in die Volksschule. In der Literatur sind sie immer noch mit dem Krieg beschäftigt, der spätere Nobelpreisträger Claude Simon lässt im Roman „Die Straße in Flandern“ einen großbürgerlichen Soldaten samt Truppe untergehen, in London erweitert Erich Fried seinen früheren Text aus dem Krieg zu seinem einzigen Roman „Ein Soldat und ein Mädchen“.

1968 / Ich scheitere dreimal an diesem berühmten Aufstandsjahr. Einmal bin ich zu jung, um aktiv daran teilzunehmen, zum anderen versiegt die Revolution auf dem Weg nach Tirol, zum dritten berichtet die damalige Literatur noch nichts von den Studentenunruhen. Statt dessen entwickelt Thomas Bernhard einen Zustand völligen Desasters und nennt ihn „Ungenach“. Gisela Elsner karikiert im „Nachwuchs“ die bundesdeutsche Nachkriegsjugend, ihre Bücher gelten daher in Österreich als „jugendgefährdend“.

1972 / Ich maturiere „in weiß“, und die beiden größten österreichischen Glanzlichter der zweiten Jahrhunderthälfte setzen zum Durchbruch an. Peter Handke schreibt über den Suizid der Mutter und nennt es „Wunschloses Unglück“, Ingeborg Bachmann schickt im Erzählband „Simultan“ eine Heldin zum See, aber alle drei Wege führen ins Nichts.

1978 / Ich trete den Beruf des Bibliothekars an, ohne zu ahnen, dass er lebenslänglich dauern wird. Zwei Arbeiterromane begleiten mich. Gernot Wolfgruber lässt im Roman „Niemandsland“ einen Arbeiter träumen, dass er Angestellter wird, und Peter Weiss liefert den mittleren Teil der „Ästhetik des Widerstands“ ab. In diesem Monumentalwerk scheitert der Sozialismus trotz Bewusstsein und Bildung.

An manchen Garten-Tagen wirkt mein Lebenslauf so rund, dass niemand mehr darüber reden will. Da wir alle Rentner sind, wenn wir im Pool stehen, reden wir über die Pension, die alle gleichmacht. Was immer jemand getan hat, jetzt im Pool sind wir alle auf Augenhöhe mit uns selbst.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar