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Helmuth Schönauer
Barrierefreier Mikrozugang
Stichpunkt

Wenn jemand in der Gerüste-Branche arbeiten will, wird man ihn fragen, ob er schwindelfrei ist. Wenn nicht, wird man ihn zu seinem Schutz am Boden und ihm etwas Bodenständiges zukommen lassen, das ihn nicht gefährdet.

Wenn jemand im Radio moderieren will, so sollte er vielleicht reden können, möchte man meinen. Dem ist aber nicht so: Wer ins Radio will, dem darf das Mikrophon nicht verwehrt werden, denn alles andere wäre eine Diskriminierung. So hören wir auf allen Sendern zum Teil sensationell verstörte Sprechakrobaten, die eigentlich ein Fall für die Therapie sein könnten.

Angesichts der Podcast-Kultur, die in den letzten Jahren ins Kraut geschossen ist, wird es auch konventionellen Sendern unmöglich gemacht, jemanden vom Mikro wegzubringen, wenn er dies einfordert. Barrierefreier Mikrozugang heißt das Zauberwort. Die These knüpft an die barrierefreie Orthographie an, wo ja mittlerweile jeder schreiben kann, wie es ihm einfällt.

Freilich bleibt bei diesem Denkansatz der Konsument auf der Strecke. Der Leser muss sich mit einem Textgebilde herumschlagen, das zeilenweise sinnentleert ist. Und der Zuhörer muss sich Sprechversuche im Äther anhören, die ihn den Kanal wechseln lassen.

Im Sinne der Kundschaft hat man in seriösen Verlagen ein Grundlektorat beibehalten, das Textwürste in Sinneinheiten zerlegt. Im Sinne des Publikums sollten daher auch Radiostationen eine gewisse Atemtechnik bei den Moderatoren voraussetzen.

Besonders ärgerlich wird es natürlich beim öffentlich rechtlichen Funk, wo sich neben der Inkompetenz mancher Protagonisten auch pure Langeweile und Sinnverlust eingeschlichen haben. Wer einmal aus Versehen auf der Frequenz von Radio Tirol hängengeblieben ist, erlebt beispielsweise am Vormittag angefressene Sprechpersonen, die ihre Dienstzeit voller Schleim und Würgerei herunternudeln . Verständlich, wenn du nach dreißig Jahren immer noch im Studio hockst und im Fünfminutentakt Semmel von dir geben musst.

Besonders vorzüglich formuliert dies die sogenannte Hamma-Person. In Zirl hamma fünf Grad, in Schattwald hamma sechs Grad, in Nussdorf hamma sieben Grad. Heute hamma die Thermowäsche an, brrrr! Zu Mittag hamma neue Nachrichten und ein Interview über den Großbrand. Frühling hamma und die Pollen rücken wieder aus. Auf der Intensivstation hamma siebenundzwanzig Patienten.

Dieser angefressene Tonfall dürfte im ganzen Studio herumgeistern, wahrscheinlich eine spezielle Form von Lagerkoller im Phantom-Office.

Die Zwangskundschaft wünscht sich zwischendurch eine kleine „Sprech-Supervision“. Vielleicht sollte sich die Moderatorenschaft zwischendurch einmal selbst anhören, was alles so im Laufe eines Vormittags aus dem Studio hinausflutscht.

In der Pädagogik fällt oft der Seufzer, dass die Leute kaum noch lesen können und deshalb schwer zu eigenen Gedanken finden. Das gleiche gilt auch für den öffentlichen Diskurs. Wer Tag für Tag von mediokrer Sprache umweht wird, wird mit der Zeit selbst das Reden verlernen.

Wer überprüfen möchte, wie kaputt das Land daherredet, sollte einmal in einen runden Tisch der Meinungsmacher beißen. Da sitzen die sogenannten Chefredakteure herum und stottern um die Wette. So sehr diese Fachleute schriftlich manchmal in ihren Kommentaren aufregend sind, so miserabel sind sie akustisch. Vielleicht könnte man auch hier die Frage aus dem Gerüstbau stellen: Sind Sie schwindelfrei? Können Sie reden?

Übrigens können die meisten im Publikum gendern, es ist also nicht notwendig, die Geschlechter mehrmals pro Satz aufzuzählen. Stellen Sie sich diesen Beitrag gegendert vor. Sie würden Ihn sicher nicht fertig gelesen haben.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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