Print Friendly, PDF & Email

Nicole Staudenherz
Fischfrei fasten
Ein Plädoyer für Wassertiere (Teil 1)
Essay

Die kontrafaktische Annahme, Fische wären quasi gefühllose Wasserpflanzen, hält sich hartnäckig. Leider nicht nur in der Fischerei-Industrie. Dabei ist es naturwissenschaftlich längst erwiesen, dass Fische zu einer bewussten Wahrnehmung von Schmerz in der Lage sind. Auch wenn sie keine Schreie von sich geben, die wir Menschen hören können (oder wollen?).

Die Zahlen sind erdrückend: Aktuellen Berechnungen zufolge tötet der Homo sapiens auf seinem weltweiten Vernichtungsfeldzug durch Ozeane und andere aquatische Ökosysteme Jahr für Jahr zwischen 0,79 und 2,3 Billiarden Fische – in Zahlen: 790.000.000.000 bis 2.300.000.000.000 Tiere.

Dabei ist jedes einzelne von ihnen ein empfindungsfähiges Individuum, das einen qualvollen Erstickungstod stirbt, sobald es seinem natürlichen Lebensraum, dem Wasser, entrissen wird.

Grundschleppnetze, Treibnetze, Langleinen: Diese und weitere Fangmethoden der industriellen Fischerei nehmen keinerlei Rücksicht auf die Leidensfähigkeit der Tiere. Doch auch der klassische Angelhaken fügt den Fischen erhebliche Schmerzen zu.

Um effektiven gesetzlichen Schutz für diese vernachlässigten Opfer der menschlichen Gedankenlosigkeit zu etablieren, spielen die naturwissenschaftlichen Beweise für das Schmerzempfinden der Fische eine wesentliche Rolle. Eine solche Beweisführung soll im ersten Teil dieses Plädoyers nachgezeichnet werden. Der zweite Teil wird auf die kognitiven Fähigkeiten und das Sozialverhalten der Fische eingehen.


Nozizeption

Für die Wahrnehmung von unerwünschten Sinnesreizen wie Schmerz sind sogenannte Nozizeptoren notwendig. Hierbei handelt es sich um spezialisierte Nervenendigungen (freie Nervenendigung) zur Aufnahme und Weitermeldung potentiell schädlicher Reize (Nozizeption, Schmerz), sog. ‚Schadensfühler‘. Die meisten Nozizeptoren sind polymodal, d.h., sie sprechen auf verschiedene Reizarten (mechanische, thermische, chemische) an. Nozizeptoren kommen nahezu in allen Organen vor, mit größter Dichte in der Haut […].

Der erste wissenschaftliche Beweis, dass Fische über Nozizeptoren verfügen, wurde vor etwa 20 Jahren erbracht: Dr. Lynne Sneddon, Spezialistin für das Verhalten von Meereslebewesen, veröffentlichte im Jahr 2002 die Ergebnisse einer Studie, bei der anatomische und elektrophysikalische Analysen des Trigeminusnervs bei Regenbogenforellen durchgeführt wurden.

Tatsächlich wurden Nozizeptoren mit ähnlichen physiologischen Eigenschaften wie bei anderen Wirbeltieren gefunden. Eine weitere Schlussfolgerung der Studie lautet, dass die nachgewiesene Nozizeption einen Einfluss auf das Verhalten und Empfinden der Tiere hat:

Diese Studie liefert signifikante Nachweise der Nozizeption bei Teleostfischen (Echte Knochenfische) und zeigt darüber hinaus, dass Verhalten und Physiologie über einen längeren Zeitraum beeinflusst werden, was auf Unbehagen schließen lässt.

Eine weitere Untersuchung von Sneddon und Kollegen bestätigte das Vorhandensein von 22 Nozizeptoren allein auf dem Gesicht und Kopf der Regenbogenforelle und zeigte negative Effekte von Schmerzreizen auf das Verhalten:

[…] Insgesamt wirkte sich die Verabreichung von schädlichen Substanzen negativ auf das Verhalten der Fische aus. Diese Verhaltensweisen können auf Unbehagen hindeuten und könnten als Indikatoren für Schmerzen oder das Auftreten eines schädlichen Ereignisses bei Fischen verwendet werden. […] Zusammengenommen zeigen diese elektrophysiologischen und verhaltensbiologischen Ergebnisse, dass die Regenbogenforelle über ein gut entwickeltes nozizeptives System verfügt. […] Die Ergebnisse der vorliegenden Studie belegen die Nozizeption und deuten darauf hin, dass schädliche Reize bei der Regenbogenforelle nachteilige verhaltensmäßige und physiologische Auswirkungen haben.

Das allein reicht allerdings als Beweis für die Fähigkeit des Schmerzempfindens von Fischen nicht aus. Denn Nozizeption und Schmerz hängen zwar direkt zusammen, sind aber zwei unterschiedliche Themenbereiche. Nozizeption ist ohne Schmerz möglich, organischer Schmerz aber niemals ohne Nozizeption.


Schmerzreaktionen und Schmerzvermeidung

Der Philosoph und Tierethiker Maximilian P. Elder erläutert dies anschaulich:

Wenn man sich zum Beispiel die Hand verbrennt, reagiert der Körper unbewusst mit dem sofortigen Zurückziehen der Hand. Für diese sensorische Reaktion auf Schmerz sind Nozizeptoren unter der Haut verantwortlich. Doch erst sehr bald danach wird man sich der Verbrennung bewusst und leidet darunter, indem man sein Verhalten ändert, um weitere Schmerzen und Schäden zu vermeiden. Das bewusste Gefühl des Leidens kommt zu der unbewussten sensorischen Reaktion auf den Schmerz hinzu. Streng genommen ist die Nozizeption kein Schmerz; es wäre ein kategorischer Fehler, die beiden gleichzusetzen. Nozizeption ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Schmerz und Leiden. Leiden wird nur empfunden, wenn die Nozizeption auf die Ebene des Bewusstseins gehoben wird.

Bei der Suche nach Beweisen für bewusste Schmerzwahrnehmung bei Tieren gilt es zunächst, die anthropozentrische Perspektive zu hinterfragen. Denn nichtmenschliche Tiere haben keine Möglichkeit, uns in Menschensprachen mitzuteilen, dass ihnen etwas weh tut. Zwar können beispielsweise viele Säugetier- und Vogelarten ihr Schmerzempfinden durch Schreien und andere Lautäußerungen artikulieren oder durch Mimik und Körperhaltung zeigen.

Fische hingegen können jedoch weder durch Lautäußerungen noch durch Veränderungen in ihren Gesichtern auf Schmerzen aufmerksam machen. Nicht weil sie es nicht können, sondern weil wir Menschen nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, Fische zu hören bzw. Veränderungen in ihren Gesichtern wahrzunehmen.

Um ein Schmerzempfinden bei Fischen nachzuweisen, gilt es also, andere Aspekte in die Betrachtung miteinzubeziehen. Denn Tiere zeigen auf vielerlei Art, dass sie Schmerz empfinden, unter anderem durch messbare physiologische Reaktionen, aber auch durch beobachtbares Verhalten.

Zur Feststellung, ob und wie stark Tiere Schmerz empfinden, wurde von Fachleuten eine so genannte Visuelle Analogskala (VAS) entwickelt, die eine Feststellung möglicher Schmerzsymptome und eine Einordnung ihrer Intensität erlaubt. In die VAS-Skala für Hunde fließen zum Beispiel Parameter wie Lautäußerungen, Körperhaltung und Reaktionen auf Nahrung, Berührung oder Kontakt mit Menschen ein, aber auch körperliche Anzeichen wie starkes Herzklopfen, Zittern oder ähnliches.

Darüber hinaus, so die fachliche Einschätzung, tritt infolge erlebter Schmerzen auch ein Lerneffekt ein. Demnach wird vermutet, dass Tiere schnell lernen, den schädlichen Reiz zu vermeiden und nachhaltige Verhaltensänderungen zeigen, die eine Schutzfunktion haben, um weitere Verletzungen und Schmerzen zu verringern, das Wiederauftreten der Verletzung zu verhindern und die Heilung und Genesung zu fördern.

Tatsächlich konnte beides auch bei Fischen in einer Reihe von Studien nachgewiesen werden. Einerseits kam es infolge von Schmerzreizen zu körperlichen Reaktionen wie verstärkter Atmungsrate und Kiemenaktivität oder zu einem Anstieg des Stresshormons Cortisol im Blut. Andererseits wurden sowohl spontane motorische Reaktionen als auch erlerntes Verhalten zur Schmerzvermeidung vorgefunden: So meiden Goldfische räumliche Bereiche, in denen sie zuvor Elektroschocks bekommen hatten, trotz Nahrungsentzug bis zu drei Tage lang.

Sie zeigen eine Fluchtreaktion angesichts steigender Hitze und sprechen positiv auf die Gabe von Morphium an. Zebrabärblinge zeigen nach einem chemischen Reiz beobachtbare Anzeichen von Stress und Furcht. Mosaik-Buntbarsche legen nach Stromschlägen ebenfalls ein Verhalten an den Tag, das auf gestörtes Wohlbefinden hindeutet. Forellen vermeiden es nach einer Injektion in die Lippe drei Stunden lang zu essen.

Die Schlussfolgerungen aus diesen und vielen anderen Experimenten legen nahe, dass Fische sich nicht reflexartig verhalten, sondern den Schmerz bewusst erleben, infolgedessen einen Lernprozess durchlaufen und ihr Verhalten nachweislich ändern.

Sneddon zieht folgende Schlüsse:

Die Forschung zur Frage der Schmerzwahrnehmung bei Fischen hat eindeutige Beweise dafür erbracht, dass es ein echtes Schmerzpotenzial gibt. Fische haben ein ähnliches sensorisches System, zeigen unerwünschte Verhaltensweisen und physiologische Reaktionen und normales Verhalten wird während eines potenziell schmerzhaften Ereignisses ausgesetzt. Daher ist sensorischer Schmerz mehr als wahrscheinlich, und es gibt Hinweise auf psychisches Leiden, da diese Verhaltensreaktionen verlängert werden und keine einfachen Reflexe sind.


Schmerz ist überlebenswichtig

Aus einer weiter gefassten Perspektive lässt sich zudem argumentieren, dass Schmerz eine wichtige Funktion für das Leben und Überleben tierlicher Individuen erfüllt. Nur durch bewusstes Wahrnehmen von Schmerz können Tiere in gefährlichen Lebensräumen flexibel reagieren und Verletzungen vermeiden, die andernfalls zu Krankheit und Tod führen würden.

In diesem Kontext wäre es widersinnig, Schmerzempfinden als eine exklusiv menschliche Eigenschaft zu betrachten. Das gilt auch für Fische. Wären sie nicht in der Lage, motiviert durch das Ziel Schmerzvermeidung ihre Verhaltensentscheidungen zu ändern, dann wären sie komplexen Gefahrensituationen in ihrem Ökosystem mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert.

Das Schmerzempfinden der Fische ist also wissenschaftlich belegt und Teil eines evolutionsgeschichtlichen Kontinuums, das sich über ein breites Spektrum tierlicher Lebensformen erstreckt.

Angesichts dessen wäre es an der Zeit, dass wir Menschen unsere kognitiven Fähigkeiten, auf die wir so unglaublich stolz sind, auch zum Wohl der Fische einsetzen. Wie lässt es sich heutzutage noch mit weithin geteilten Grundwerten wie Gerechtigkeit, Gewaltvermeidung und Fürsorge für Schwächere vereinbaren, dass jedes Jahr Billiarden empfindungsfähiger Wassertiere unserer Gier und Ignoranz zum Opfer fallen?

Tierverhaltensforscher und Fischexperte Jonathan Balcombe bringt es auf den Punkt:

Ganz gleich, welche Schätzung man heranzieht, solch schwindelerregende Zahlen verschleiern oft die Tatsache, dass jeder Fisch ein einzigartiges Individuum ist […] Es ist eine biologische Tatsache, dass jeder Fisch so einzigartig ist wie das sprichwörtliche Sandkorn. Anders als Sandkörner jedoch sind Fische Lebewesen. Das ist kein trivialer Unterschied. Wenn wir Fische als bewusstseinsbegabte Individuen begreifen lernen, werden wir vielleicht eine neue Beziehung zu ihnen aufbauen und pflegen. In den Worten eines unbekannten Dichters: ‚Außer meiner Haltung hat sich nichts geändert – daher hat sich alles geändert.‘


Hinweis:

Bei den hier vorgestellten wissenschaftlichen Studien wurden größtenteils an Fischen Tierversuche durchgeführt. Aus Tierschutzsicht sind solche Versuche abzulehnen, auch jene, die in den erwähnten Studien durchgeführt wurden. Die Erkenntnisse und Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Forschungen rechtfertigen die Versuche an den Fischen nicht. Die Forschungen werden in diesem Text nur erwähnt, die naturwissenschaftlichen Beweise für das Schmerzempfinden von Fischen darzustellen, und um basierend auf dieser Beweisführung die Etablierung neuer ethischer Standards für den Umgang mit Fischen und anderen Wassertieren zu fördern.


Quellen:

Artikelsammlung zu Wassertieren, vgt.at/presse/news/2022/news20221229ff.php
Balcombe, J. (2020): Was Fische wissen: Wie sie lieben, spielen, planen: Unsere Verwandten unter Wasser.
Bufalari, A. et al. (2007). Pain Assessment in Animals. Veterinary Research Communications, 31(Suppl. 1), 55–58, researchgate.net/profile/Chiara-Adami/publication/6156388_Pain_Assessment_in_Animals/links/0b6ab1e0a74f9ff5bb7abfdd/Pain-Assessment-in-Animals.pdf
Dunlop, R. et al. (2006): Avoidance Learning in Goldfish (Carassius auratus) and Trout (Oncorhynchus mykiss) and Implications for Pain Perception. Applied Animal Behaviour Science, Volume 97, Issues 2–4, 255-271, sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0168159105001802
Elder, M. (2014): The Fish Pain Debate: Broadening Humanity`s Moral Horizon, Journal of Animal Ethics 4(2): 16-29, academia.edu/26870159/The_Fish_Pain_Debate_Broadening_Humanitys_Moral_Horizon
Nordgreen, J. et al. (2009): Thermonociception in Fish: Effects of Two Different Doses of Morphine on Thermal Threshold and Post-Test Behaviour in Goldfish (Carassius auratus), academia.edu/17578540/Thermonociception_in_fish_Effects_of_two_different_doses_of_morphine_on_thermal_threshold_and_post_test_behaviour_in_goldfish_Carassius_auratus_
„Nozizeption“, DocCheck Flexikon, flexikon.doccheck.com/de/Nozizeption
„Nozizeptoren“, Spektrum.de Lexikon der Biologie, spektrum.de/lexikon/biologie/nozizeptoren/46863
Sneddon, L. (2002): Anatomical and Electrophysiological Analysis of the Trigeminal Nerve in a Teleost Fish, Oncorhynchus mykiss, wellbeingintlstudiesrepository.org/cgi/viewcontent.cgi?article=1046&context=acwp_vsm
Sneddon, L. et al. (2003): Do Fishes Have Nociceptors? Evidence for the Evolution of a Vertebrate Sensory System. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 270(1520): 1115-21, ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1691351/pdf/12816648.pdf
Sneddon, L. (2006): Ethics and Welfare: Pain Perception in Fish, Bull. Eur. Ass. Fish Pathol., 26(1), 6-10, wellbeingintlstudiesrepository.org/cgi/viewcontent.cgi?article=1004&context=acwp_aff#:~:text=Research%20into%20the%20question%20of,during%20a%20potentially%20painful%20event
Sneddon, L. (2009): Pain Perception in Fish: Indicators and Endpoints. ILAR Journal 50, 338-342, wellbeingintlstudiesrepository.org/cgi/viewcontent.cgi?article=1010&context=acwp_aff
Sneddon, L. et al. (2014): Defining and Assessing Animal Pain, Animal Behaviour, Volume 97, November 2014, 201-212, wellbeingintlstudiesrepository.org/cgi/viewcontent.cgi?article=1068&context=acwp_arte
Sneddon, L. (2015): Pain in Aquatic Animals, J Exp Biol (2015) 218 (7): 967–976, journals.biologists.com/jeb/article/218/7/967/14518/Pain-in-aquatic-animals

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Maria Federspiel

    Ich habe unterschrieben!

Schreibe einen Kommentar