Print Friendly, PDF & Email

Walter Plasil
Leben mit Kleben
Satire

Die innovative Jugend war es, die mich auf neue Ideen gebracht hat. Unsere Letzte Generation eben. Die Suppen-, Farben- und Püree-Werfer, aber vor allem die Klimakleber.

Na, so ganz neu ist das mit dem Kleben auch wieder nicht. Im Baugeschehen gibt’s das schon lange. An die Fassaden werden Isolierplatten, an die Badezimmerwände Fliesen geklebt. Auch Klebeparkett gibt es. Sogar Hölzer und Metalle werden verklebt. Menschen wurden bisher weniger an Bauwerke geklebt.

Ich selbst habe früher einmal eine zerbrochene Keramikvase zusammengeklebt (ist nicht so gut gelungen). Nun aber, in meinem brandneuen Klebe-Leben habe ich einen neuen Anlauf als Verkleber von zu Klebendem gemacht.

Nach dem Erwerb eines Markenprodukts, nämlich eines Mega-Superklebers und einer zugehörigen Löse-Flüssigkeit, mittels derer man den Klebeakt quasi rückgängig machen kann, bin ich geradezu zum leidenschaftlichen Kleber geworden.

Das ist die eine Seite der Neuerungen. Aber ich schütte auch noch. Für den Fall, dass ich mich öffentlich äußern möchte, weiß ich jetzt, wie man sich auf angemessene Weise bemerkbar macht: Eben mit Schüttungen.

Kleben und schütten sind Zeichen eines offensiven Lebensstils in zeitgemäßer Form. So kann man sich mit einfachen Mitteln selbst verwirklichen. Wie ich klebe und schütte, sagt etwas aus über meine Persönlichkeit!

Schütten klingt einfach, aber man muss darauf vorbereitet sein. Ich führe in meinem Rucksack immer einige Dosen mit italienischem Tomatensugo mit. Wenn es meine emotionale Befindlichkeit gebietet, kann ich jederzeit, in welche Richtung und auf welches Ziel auch immer, einen kräftigen Guss an Sugo verschütten. Suppen und Pürees lehne ich ab, die kommen farblich nicht so prickelnd rüber.

Freilich, es braucht schon gewichtige Anlässe, bis ich mich wirklich aufrege. Letzte Woche, da war es wieder einmal so weit. Es geschah, als ich im Supermarkt bereits zweimal gerufen hatte: „2. Kassa bitte!“ Aber nichts geschah. In dieser emotionalen Ausnahmesituation musste ich es tun. Ich schüttete in großem Bogen den Inhalt eine Dose Sugo (mit Basilikum!) in Richtung der Kassen. Warum ich das getan habe? Na, um mit modernen Methoden mein Missfallen über die Versäumnisse auszudrücken!

Der prompt einsetzende Beifall der umstehenden älteren Generation in der Warteschlange war Balsam auf meine Seele. Es geht eben nicht an, dass man Missstände, wie zum Beispiel den geschilderten, duldend hinnimmt. Ich möchte meinen Beitrag leisten. Ich möchte aufrütteln!

Danach scheiterte übrigens der Versuch des Marktleiters kläglich, mich zwangsweise aus dem Laden zu befördern. Stattdessen verließ ich, freiwillig und hoch erhobenen Hauptes den Ort des Vorfalls. Im Hinausgehen sah ich noch, wie die zweite Kassa aufging. Schütten bringt´s eben!

Aber nun zum Kleben. Die Straßen – und Museumsankleber haben Pionierarbeit geleistet. Durch ihr Beispiel angeregt, wurde ich auch zum Kleber.

Aber da muss ich gleich etwas klarstellen: An Kunstwerke in Museen klebe ich mich nicht. Ich habe nämlich vom tragischen Fall eines Klebefreundes gehört.
Der hat sich unvorsichtiger Weise an einem Sonntagnachmittag angeklebt. Dann nahte die abendliche Schließung der Ausstellungsräume. Alle Besucher waren über eine Lautsprecherdurchsage angewiesen worden, das Gebäude zu verlassen. Es wurde plötzlich ruhig um ihn. Als er sich entkleben wollte, wurde ihm bewusst, dass sich das Lösungsmittel in einer Tasche befand, die er zuvor in einem Gepäcksschließfach bei der Garderobe deponiert hatte.

Bis Dienstag früh, zwei Nächte und den ganzen Montag (Montag ist Schließtag!) musste der Arme, angeklebt an ein scheußliches Bild von Quadraten, Linien und fahlen Farben, gepinselt von einem gewissen Mondrian, ausharren. Frage nicht, in welch jämmerlichem Zustand das Klebeopfer Dienstag morgens angetroffen wurde. 36 Stunden ohne Essen und Trinken, keine Toilette! Ja, so schlimm können die Folgen sein, wenn man sich verklebt hat!

Mir diente das als Warnung. Ich werde nur außerhalb von Kultureinrichtungen kleberisch tätig werden. Aber auch Straßen kommen für mich nicht in Frage. Die klimatischen Unabwägbarkeiten und der erhöhte CO2-Ausstoß an Kreuzungen sind mir viel zu hoch. Außerdem lösen diese Art von Klebungen lebensgefährliche Aggressionen aus. Gnade dem, der die individuelle Mobilität von Autofahrern einschränken möchte!

In Frankreich – so ein Bericht – hat die Straßenpolizei neue Wege gefunden. Um die angeklebten Straßendemonstranten herum wird einfach eine Umleitung eingerichtet. Den Angeklebten wird das Lösungsmittel konfisziert und erst am nächsten Tag zurückgegeben. Außerdem werden alle vorläufig Festgenommenen von klebeerfahrenen Beamten mit speziellem Polizei-Superkleber über Nacht an Laternenpfähle und Hydranten geklebt. Man hofft auf abschreckende Wirkung!

Die Proteste, so war zu vernehmen, wurden nach über 20 Stunden, in denen die Verklebten nicht wegkonnten, in eine Forderung nach freiem und jederzeitigem Zugang zu Lösungsmittel umgewandelt.

Öffentliches Protestkleben muss subtiler werden! Kleben muss in den Alltag integriert werden. Die Erfahrung zeigt das.

Ich klebe deswegen lieber in anderen Sphären! Und ich verklebe nicht mich, sondern anderes. Alles, das noch nicht verklebt ist, kommt in Frage. Weil das zu Verklebende eben noch nicht verklebt wurde. Wenn ich etwas klebe, das noch nie zuvor verklebt worden ist, befördere ich ein glücklicheres Leben für die nächste Generation. Es gibt Sinn und es bringt ein ganz konkretes Ergebnis in Form des Geklebten. Es dient auch als Weckruf dafür, noch mehr zu kleben. Und darin kann man ein Versäumnis sehen. Unsere vorherige Generation hätte das nämlich längst tun können!

Ich wollte klein anfangen. Also wollte ich ein dauerndes Ärgernis beseitigen, das mein Nervenkostüm schon Jahre belastete. Nachdem das Stiegenhaus-Reinigungspersonal ständig den Fußabstreifer vor meiner Wohnungstüre zu verschieben pflegte, habe ich ihn am Fliesenboden angeklebt. Das war einer der ersten Versuche für mich, eine bessere Welt im Kleinen zu schaffen. Aber ich wollte noch mehr an Klebungen zustande bringen.

Alle Sachen, die man gerne verliert, wie Geldbörsen, Kreditkarten, Schlüssel und Notfall-Intimartikel habe ich an einer Schnur aufgefädelt. Die Schnur habe ich dann, einmal um die Taille geschlungen, am Körper angeklebt. Durch die Kleidung darüber merkt man praktisch nichts davon.

Das Verlassen meiner Wohnung ist seitdem unglaublich entspannend geworden. Ich muss vor dem Fortgehen meine Kleidungsstücke nicht mehr abklopfen und darüber sinnieren, ob ich wohl nichts vergessen habe. Kurz an der Schnur gezogen, und alles ist immer verfügbar. Hätte man alles schon vor Jahren erfinden können! Hat die Generation vor uns verludert!

Die Schnur geht übrigens auch beim Duschen nicht ab! Ist eben ein Mega-Superkleber, dem nichts etwas anhaben kann.

Neulich, als ich im Kaffeehaus saß, musste ich die Toilette aufsuchen. Bei solchen Gelegenheiten entwendet oft ein anderer Gast (meist einer, der bereits darauf gelauert hat) den Stapel an noch ungelesenen Zeitschriften vom Tisch meines Sitzplatzes. Das passiert mir natürlich nicht mehr. Wenn ich dann vom WC zurückkomme und sehe, dass jemand sinnloser Weise an den Zeitungen zerrt, überkommt mich ein Lächeln. Ja, festgeklebt mein Lieber, sage ich ihm dann. Da staunst du, was?

So kann man ohne große Mühe zugleich die diebische Kleinkriminalität bekämpfen. Das Lösen der Klebung bei Zeitschriften ist zugegebener Maßen nicht ganz rückstandslos zu bewerkstelligen. Aber das Ausmaß meiner Routine im Umgang damit ist im Steigen begriffen. Ich mache Klebefortschritte.

Auch Autofahren ist geklebt viel entspannender. Anstatt des Anschnallens kann man sich ja auch ankleben. Kürzlich habe ich damit bei einer Verkehrskontrolle die Beamten verblüfft. Das kannten sie noch nicht. Und zurecht bekam ich deswegen kein Organmandat verpasst. Nicht angeschnallt, aber ordentlich angeklebt, schrieben sie in ihr Protokoll, und ließen mich weiterziehen. Also wieder ein Modell entwickelt, auf das unsere Alten auch hätten kommen können.

Von Jugendlichen in Bus und Bahn wird berichtet, dass sie sich das Smartphone ans Ohr kleben. Diese Meldung wurde aber als Fake News entlarvt, weil das eben nur so aussieht, als ob. Manchmal gibt es halt auch falsche Hoffnungen. Aber auch das wird noch kommen.

In einem Bericht aus den Rocky Mountains habe ich gelesen, dass sich dort Extrembergsteiger an die Seile kleben. Auch die Rettungshubschrauber verwenden Seile mit Klebung. Am unteren Ende kann sich der Gerettete dann ankleben. Zuvor wird ihm das Klebeset mit Anleitung zugeworfen. Warum gibt’s das erst jetzt? Ein Versagen der denkfaulen Alten!

Kürzlich wurde in den Schweizer Alpen ein Megazug mit Hunderten von Waggons und mehreren Lokomotiven zusammengekoppelt. Glaubt da wirklich noch jemand, dass das ohne Klebungen zustande gekommen ist? Das scheint gelungen zu sein, aber hätte man auch schon vor Jahren machen können.

In Flugzeugen werden neuerdings ganz kleine Klebepads ausgeteilt. Damit lassen sich beim Durchfliegen von Turbulenzen Gläser und Teller an den Klapptisch kleben. Für die Pads wird zwar noch eine kleine Gebühr eingehoben, aber sie sollen bald kostenfrei werden. Ryanair ist da sicher wieder Vorreiter.

Auch im Intimbereich kann viel mehr geklebt werden. Meine Freundin meinte zum Beispiel, wir küssen uns viel zu wenig oft. Und wenn, dann auch nur so kurz. Mit einer zeitweisen wechselweisen Verklebung unserer Lippen könnten wir unsere Kussbilanz kräftig aufmöbeln.

Vorerst ist vereinbart, mit der Vornahme dieser Klebung noch etwas abzuwarten. Es soll nämlich eine Klebefördergruppe geben, die im nördlichen Schweden (sind halt wieder die Fortschrittlichen!) neue Wege der Klebung entwickeln. Die Gruppe heißt so ähnlich wie: Küsst du noch oder klebst du schon? Authentische Berichte darüber sollen uns bald erreichen.

Radikale Elemente der Schwedenkleber möchten die Kleberei sogar auf den Sexualakt ausdehnen. Sie planen, einen Rekord für das Guinnessbuch aufzustellen. Sie wollen pärchenweise vier Tage (die moderne Viertageswoche halt) sexuell verklebt verbringen. Dazu möchte ich bemerken, dass ich dem nur zustimmen könnte, wenn zuvor einige wichtige Details geklärt wären.

Jedenfalls lassen solche Beispiele die künftige Entwicklung vorausahnen. Ich aber bin schon voll dabei. Dem Kleben und Lösen sind auf der Welt überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt. Da mutet die uralte Erzählung von Politikern, die auf ihren Sesseln klebten, direkt antik an. Das erregte damals noch Unmut. Heute ist es nicht mehr der Rede wert, denn jeder kann das nach eigenem Ermessen tun.

Detektive können sich an die Verfolgten kleben. Stalker an die Gestalkten. Nägel kann man an die Hämmer, Kleingeld in die Brieftaschen kleben. Bilder kann man mit Lösungsmittel wieder unbeschädigt aus dem alten Familienalbum lösen. An den Schuhsohlen klebende Kaugummireste verursachten bisher hohen Lösungsaufwand. Mit neuen Lösemitteln geht’s viel leichter!

Ich habe kürzlich nach einer Föhnwarnung meine Haare verklebt. Der Sturm konnte meiner gestylten Frisur nichts mehr anhaben. Das ist übrigens für Frauen mit langen Haaren eine Possibillity (Möglichkeit). Und es geht auch mit blonden Haaren!

Auch im dezenten Kleben steckt eine ganz subtile Form des Protestes. Einer, der sich eben gegen Zustände richtet, die vor den erfolgten Verklebungen geherrscht haben.

Ja, ich bin astreiner Privatkleber und Gelegenheits-Spontanschütter geworden. Man sollte sich nicht gegen den Zug der Zeit stellen, meinte schon Miraculix.

Was also mittlerweile geradezu antik geworden ist: Leserbriefe schreiben, bei Diskussionsveranstaltungen das Wort ergreifen, Bücher veröffentlichen, eine Demonstration anmelden, eine Bürgerinitiative oder gleich eine Partei gründen, Umweltschutzgesetze vorantreiben, auf das altgriechische Modell zurückgreifen und jene Partei wählen, die sich als das kleinere Übel herausstellt.

Wer stattdessen heutzutage nicht klebt und schüttet, ist zum Leben als verabscheuungswürdiger Grufti verdammt. Die letzte Generation wird das der alten Generation nie verzeihen!

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Walter Plasil

Walter Plasil, Jahrgang 1946, geboren in München, aufgewachsen in Wien, seit 1971 in Innsbruck. Führte viele Jahre das INGENIEURBÜRO WALTER PLASIL für Technische Gebäudeausrüstung und Energieplanung und war als Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger tätig. Walter Plasil: „Ich war immer ein Vielschreiber und habe nun, nachdem meine bisherige Tätigkeit dem Ende zugeht, Zeit und Lust dazu, auch zu veröffentlichen. Mein neuer Beruf daher: „Literat.“

Schreibe einen Kommentar