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Klaus Schredelseker
Die Rolle von Innovation und Unternehmertum
in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
Essay

Wirtschaftsstudenten der Universität Innsbruck überqueren täglich den Böhm-Bawerk-Platz, wobei die wenigsten wissen, warum der Platz so heißt.

Eugen Ritter von Böhm-Bawerk (1851–1914) war neben Carl Menger (1840-1921) einer der Begründer einer wirtschaftswissenschaftlichen Denkweise, die sich bis heute als Austrian Economics erhalten hat.

Ihre Kernpunkte lassen sich leicht zusammenfassen:
• Soziale Phänomene sind das Ergebnis absichtsgeleiteter Handlungen Einzelner und nicht das von Kollektiven (methodischer Individualismus)
• Alle Akteure handeln auf der Basis ihres subjektiven Wissens, ihrer Bedürfnisse und ihrer Erwartungen (Subjektivismus)
• Märkte sind komplexe, sich ständig wandelnde Systeme, die nach Gleichgewichten streben, sie aber nie erreichen können
• Ein wie in den Naturwissenschaften übliches Denken in linearen Zusammenhängen von Input und Output, von ‚Mehr ist Besser‘ wird der Komplexität von Märkten nicht gerecht.

Vieles davon erscheint selbstverständlich und ist mittlerweile in modernes ökonomisches Denken eingeflossen. Gleichwohl ist die österreichische Schule der Nationalökonomie (wie sie umständlich bei uns heißt) in der Zunft ein Randphänomen: In der Klassifikation der American Economic Association wird sie, zusammen mit marxistischer, feministischer oder evolutionärer Ökonomie als ‚heterodox approach‘ aufgeführt.

Die Schublade ist durchaus nachvollziehbar, denn nach außen tritt die österreichische Schule zuweilen schon etwas kauzig auf:
• einmal in missionarischer Mission, um die Allüberlegenheit marktwirtschaftlicher Allokationsmechanismen zu predigen (im Kern haben sie meist recht, aber es nervt)
• zum anderen als innerer Zirkel Erleuchteter, die im Besitz der Wahrheit immer wieder, so wie auch die Marxisten, sich selbst und ihre großen Altväter zitieren (auch das nervt).

Leider tritt neben den eher ideologischen Positionen das gewaltige methodische Potential, das der Austrian Approach bietet, dadurch in Vergessenheit.

Das berühmte, 1984 gegründete Santa Fe Institute, in dem sich auf Initiative eines Nobelpreisträgers der Physik führende Wissenschaftler aus nahezu allen Disziplinen dem schillernden Begriff der Komplexität (nicht zu verwechseln mit Kompliziertheit) zu nähern versuchten, hat in weiten Teilen Erkenntnisse befördert, die im Denken der österreichischen Schule angelegt waren.

So schuf Friedrich August Hayek bereits 1952 den Begriff der Komplexen Systeme und publizierte 1967 einen Aufsatz mit dem Titel The Theory of Complex Phenomena, in dem er zeigte, dass jedwede soziale Entwicklung ein urwüchsiger bottom-up und kein geplanter top-down Prozess ist.

Leider ist Komplexität zu erfassen nicht ganz einfach: der große französische Philosoph Edgar Morin nannte Komplexität ein mot problème et ne pas un mot solution.

Kerneigenschaften komplexer Systeme sind die Interaktion heterogener Elemente oder Akteure, das Fehlen eines globalen Koordinators, ständiges Anpassen an wechselnde Bedingungen, Nichtlinearitäten und immer wieder Emergenz von neuen, unerwarteten Phänomenen. Typische Beispiele für komplexe Systeme sind das Klima, der Kosmos, eine Ameisenkolonie oder eben auch der Finanzmarkt.

Hayek hatte durchaus eine Vorstellung davon, aber nicht die Instrumente, das Gedachte in realen Abläufen zu dokumentieren. Heute haben wir Instrumente, die diesen Anforderungen nahekommen: Computersimulationen und Agenten-basierte-Modellierungen (ABM), die in den verschiedensten Disziplinen Anwendung finden.

Damit können wir das zentrale Postulat Hayeks umsetzen, den methodischen Individualismus. Er verlangte in seinem berühmten Beitrag von 1945 The Use of Knowledge in Society, dass economics must show how a solution is produced by the interactions of people each of whom possesses only partial knowledge, womit er sich in Gegensatz zur herrschenden Neoklassik stellte, die üblicherweise in ihren Modellen Gruppen mit ähnlichen Interessen (Arbeitnehmer, Unternehmer, Sparer, Konsumenten etc.) zu einer homogenen Gruppe zusammenfasst und zum representative agent zusammenfügt, der in seiner interessentypischen Art wie ein Individuum agiere.

In einer Agenten-basierten Modellierung indessen agieren die Akteure autonom; sie sind unterschiedlich informiert und talentiert und treten in der virtuellen Welt des Computers gegeneinander an; sie versuchen, mit unterschiedlichen Methoden einander auszutricksen und wählen dabei die Strategie, mit der ihnen dies am besten gelingt. Welche das ist, wird nicht vom Systemdesigner vorgegeben (allenfalls werden Startstrategien offeriert), noch weniger wird das Systemverhalten vorweggenommen, denn es resultiert aus der Interaktion der Agenten (Emergenz).

Der Unterschied zur in neoklassischer Tradition stehenden Portfoliotheorie ist eklatant: Markowitz, der Vater der modernen Finanztheorie und Nobelpreisträger von 1990, nahm an, dass alle Investoren Finanzanalyse betreiben und auf Basis der dabei gewonnenen Erwartungen die von ihm entwickelte Optimierungsstrategie umsetzen (repräsentativer Investor). Mit keinem Wort erklärt er, warum sie das tun sollten, es erschien ihm einfach als selbstverständlich, dass, wer gute Entscheidungen treffen will, sich vorher informieren sollte.

Heute wissen wir, dass gerade dies nicht rational sein kann: Zu halbwegs stabilen Ergebnissen führt nicht die Homogenität der Handlungsstrategien, sondern Heterogenität!

Der Finanzmarkt gilt als Inbegriff eines komplexen adaptiven Systems, er ist komplex, da heterogene Akteure absichtsvoll handeln und ihr Handeln permanent Einfluss auf das aller anderen hat; er ist adaptiv, da er sich immer wieder an neue Bedingungen, neue Erfahrungen und neue Erkenntnisse anpasst.

An zwei einfachen Überlegungen sollen die gewaltigen Umwerfungen deutlich gemacht werden, die ein Denken in Kategorien von Komplexität bewirkt. Beide Phänomene sind in mehrfachen Agenten-basierten Studien gut belegt.

• In finanzwirtschaftlichen Lehrtexten wird, in Anlehnung an naturwissenschaftliches Denken, unterstellt, dass derjenige, der besser informiert ist und der besser mit der Materie vertraut ist, im Schnitt auch bessere Entscheidungen trifft.

In den Natur- und Ingenieurwissenschaften mag dies unbestritten sein, in einem komplexen System wie dem Finanzmarkt ist es Unsinn. Wer ein Portefeuille zusammenstellen will, ist in der gleichen Rolle wie Aschenbrödel: Die guten ins Töpfchen, die schlechten in Kröpfchen. Finanzwirtschaftlich übersetzt: die Titel, die nach Ansicht des Investors den Markt outperformen, kommen ins Portefeuille, diejenigen, die sich schlechter entwickeln, werden herausgenommen.

Jeder Einzelne hat zwar eine klare Position, die Markträumungsbedingung erfordert allerdings, dass im Markt sich beide Sichtweisen volumensgleich gegenüberstehen. Wenn es nun sehr gut informierten Investoren (mit gewaltigem finanziellen Potential) gelingt, die richtige Marktseite mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von über 50% erkennen zu können, gilt für alle anderen, d.h. für die überwältigende Mehrheit der Investoren, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit falsch liegen werden.

Für einen gänzlich uninformierten Investor, der einen Münzwurf entscheiden lässt, ist die Wahrscheinlichkeit, richtig oder falsch zu liegen, fifty-fifty. Er entscheidet somit besser als die meisten, die weit besser informiert und weit erfahrener sind als er.

Die klassische Finanzanalyse mag ein sinnvolles Instrument der Entscheidungsfindung sein, wenn, dann allerdings nur für sehr wenige Portefeuilles mit hoher Kostentragfähigkeit. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum ihr dennoch in allen Lehrtexten eine herausragende Rolle zukommt. Zu unseren Studierenden gehören schließlich auch solche, die über weniger als dreistellige Milliardenbeträge zu entscheiden haben werden.

• Ein zweites Problem: Seit Jahrzehnten ist das Handelsrecht bemüht, den Informationsfluss von Unternehmen an die Anleger zu verbessern; das internationale IFRS-Regelwerk für financial reports umfasst heute Tausende von Seiten und verursacht ungeheure Kosten bei den Unternehmen.

Dahinter steht wieder ein als linear angenommener Zusammenhang: Je mehr Information schlecht informierten Marktteilnehmern zur Verfügung stehe, umso geringer sei das Informations- und damit auch Ausbeutungsgefälle zwischen gut und schlecht informierten Marktteilnehmern.

Der Zusammenhang ist allerdings nicht linear, wie einfache ABM-Studien belegen. Eine Verbesserung der dem Markt zugänglichen Information hat zunächst einmal zur Folge, dass die Zahl derer, die sich dieser Information bedienen, steigt, was zu verstärktem Herdenverhalten führt und sowohl auf die Markteffizienz als auch auf die Rendite der Informationsnutzer einen negativen Einfluss hat: Trotz mehr Information stellen sich die Nutzer einer verbesserten öffentlichen Information schlechter als zuvor.

Ab einem gewissen Schwellenwert kehrt sich das Ganze um und die verbesserte Information kommt ihren Nutzern zugute. Es gibt keinen Grund für die Annahme, wir hätten diesen Punkt bereits überschritten. Komplexe Systeme folgen nicht einer linearen Logik.

Es ist hier nicht der Ort, diese Zusammenhänge zu vertiefen. Die beiden Probleme sollten nur die Augen öffnen für das ungeheure heuristische Potential eines Denkens, das am zentralen Prinzip des methodischen Individualismus, für das die österreichische Schule vor allem anderen steht, orientiert ist.

Es wäre zu wünschen, dass die Austrian Economics aus der sektiererischen Nische, in die sie sich hineinmanövriert haben, wieder herausfinden. Der Weg kann nur über die Rückbesinnung auf das methodische Fundament beschritten werden, das Menger, Böhm-Bawerk, Mises, Hayek & Co, aber auch die beiden true believers als Häretiker geltenden Schumpeter und Morgenstern, gelegt haben.

Ich fühle mich durchaus der österreichischen Schule verbunden, als ein Ökonom, der den Markt als das verstehen will, was er ist: als ein komplexes System autonom handelnder Akteure, und nicht als ein lineares System des ‚Mehr ist besser‘.

Hier ist ein Rückgriff auf die österreichische Schule, insbesondere auf Hayek, hilfreicher als jedes noch so sophistizierte neoklassische Modell mit vielen komplizierten Formeln, die meist das Ergebnis bereits in ihren Annahmen tragen und somit letztlich redundant sind.

Der Markt ist ein komplexes adaptives System, und wenn wir diese Komplexität einmal richtig verstanden haben, vielleicht gar nicht einmal so kompliziert. Wie sagte Einstein: „Man sollte alles so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.“

Moderne financial economics werden wegen des hohen Mathematisierungsgrads oftmals als sehr kompliziert empfunden, machen es sich aber zu einfach, da sie an der Komplexität des Phänomens ‚Markt‘ vorbeirechnen.

Ökonomen der Austrian Economics denken weniger kompliziert, dafür aber komplexer und sind somit näher dran an der realen Welt.

Vortrag, Freitag, 14. Oktober 2022, Kaiser-Leopold-Saal, wegen Erkrankung abgesagt. Wir danken für die Zurverfügungstellung der Druckfassung.


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Klaus Schredelseker

Prof. Klaus Schredelseker: 1962 – 1968, Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaften in Paris, Mannheim, Berlin und Mailand; 1968 – 1976 Assistent bei Prof. Dr. Klaus v. Wysocki in München; 1976 – 1986 Professor an der Bergischen Universität - GH Wuppertal; seit 1986 Professor an der Universität Innsbruck; 1973 – 1999 Gastprofessuren in Poznan, Strasbourg, Bergamo, Trento, Siena. Begründer und Leiter des Studiengangs Internationale Wirtschaftswissenschaften und Gründungsratsmitglied an der Freien Universität Bozen.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Andreas Braun

    Lieber Klaus!
    Freue mich sehr über Deine beiden wertvollen Beiträge im „schoepfblog“, da diese Anstoß geben, prinzipieller als üblich über das Phänomen „Wirtschaft“ zu reflektieren!
    Beim Stichwort Komplexität (schließlich hat 2021 sogar der Physiker Giorgio Paresi – aus Deinem Sehnsuchtsland Italien, den Nobelpreis für seine diesbezügliche Forschung erhalten) konnten die gescheiten Herren der Austrian School of Economics bzw. auch aktuelle Lehrmeister des Neoliberalismus zwei die Wirtschaft entscheidend verändernde Entwicklungen noch nicht angemessen in ihre Analysen einbeziehen:
    Zum einen sämtliche digitale „social credit systems“, seien sie chinesischer oder amerikanischer Prägung, welche unseren Begriff individueller Liberalität diametral verändern.
    Und zum anderen den massiv zunehmenden Lobbyismus, der die politischen Rahmenbedingungen, innerhalb welcher die Wirtschaft waltet, zugunsten der Stärkeren und Größeren determiniert. Das politische Idealziel einer gerechten Gesellschaft bleibt damit auf der Strecke.
    Kurzum: zu den von Dir apostrophierten Grundpfeilern gesellschaftlichen Zusammenlebens, der individuellen Freiheit und der Annäherung an ein gerechtes bonum commune gibt‘s noch sehr viel Stoff für Herz und Hirn!
    Lb Gruß

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