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Helmuth Schönauer bespricht:
Moritz Baßler
Populärer Realismus
Vom International Style
gegenwärtigen Erzählens

Moderne Romane sind wie moderne Mehrsystem-Loks: du kannst überall damit fahren, aber die angehängte Ladung besteht meist aus fossilen Produkten oder überhaupt aus Müll.

Dieser seufzende Vergleich deutet auf das Dilemma des sogenannten Einheitsromans hin, wie er in der EU mittlerweile genormt produziert, vertrieben, aber kaum gelesen wird. Statt Abenteuer gibt es Spurtreue, statt Schicksal tritt psychologischer Schnickschnack auf.

Moritz Baßler untersucht seit Jahren dieses Phänomen, das er „populären Realismus“ nennt. Die ironisch als Mehrsystem-Lok vorgestellte grenzüberschreitende Dynamik heißt bei ihm „International Style“.

Damit ein Literaturwissenschaftler international so anerkannt wird wie ein Romanschriftsteller, muss er sich einen Hauptbegriff unter den Nagel reißen, mit dem er unverwechselbar in Verbindung gebracht wird.

Moritz Baßlers Markenbegriff heißt Midcult, der ursprünglich auf Umberto Eco zurückgeht. Midcult zeigt sich als jene weitverbreitete Kulturhaltung, mit der ein Publikum versucht, ohne Anstrengung an einem komplexen Diskurs teilzuhaben. (71) Daraus entsteht das Gefühl: „Man versteht beim Lesen sofort alles!“ (18) Die sogenannten „bedeutungsschweren“ Wörter wie Nazi, Migration oder Kapitalismus tun der Flüssigkeit des Textes keinen Abbruch.

Am Beispiel ausgewählter Romananfänge (36) zeigt sich, wie diese Gegenwartsliteratur oft schon im ersten Absatz alles aufgegriffen hat, was Commonsense ist. Das erwartete Diskussions-Modul wird niemals gestört, die Leser sind ab der ersten Seite voll von Austauschbarkeit der Situationen umspült.

Der Autor greift den Klassiker des Voraus-Wissens auf, indem er Heinrich Bölls Erzählung Wanderer kommst du nach Spa zitiert. Darin ist der Held systemkonform im Nazijargon unterwegs, er stirbt noch während des Krieges, weiß aber schon mit dem Wissen der Nachkriegszeit, dass die Nazis eine schlechte Sache sind.

Diese Literatur wird zurecht als bürgerlicher Kitsch bezeichnet. Texte, die das vorgebliche Nicht-Wissen fraternisierend mit dem Pseudo-Wissen bestreichen, gleichen einer berüchtigten Werbefloskel für eine Tagescreme. „Die cremig sanfte Textur lässt sich gut verteilen und zieht schnell ein.“ (51)

Dieser Vorgang ist in allen Sprachen zu Gange und führt etwa in Japan zur Entwicklung eines Übersetzungsjapanisch, (37) das wie eine adaptierte Esskultur auf Export ausgelegt ist.

Diese Creme hat zudem den Vorteil, die vier wichtigsten Grenzen des Literaturmarktes zu überwinden, jene zwischen a) Nationalitäten / b) Bildungsschichten / c) Jugendlichen und Erwachsenen / d) Medien. (Witzigerweise fehlt die Überwindung der Grenze männlich/weiblich, weil sie momentan die einzige Grenze ist, von der diese Literatur profitabel lebt.)

Als schönes Beispiel, wie sich Midcult (53) entfalten kann, dient der Bestseller Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann. Bei einem Verkauf von 2,5 Mill Exemplaren lässt sich nicht lange rätseln, was den Roman so erfolgreich gemacht hat. Es ist die Weite des dargestellten Gebiets, nämlich das Entstehen der Wissenschaften und das Ausformen des deutschen Idealismus zur Deutschen Klassik.

Wanderers Nachtlied wird etwa als Gedicht-Verhunzung in Prosa dargestellt, was dem Publikum ein Aha-Erlebnis vermittelt. Es kann plötzlich über Goethes Lyrik mitreden, ohne je ein Gedicht gelesen zu haben. Ähnlich ergeht es den anderen Wissenschaften, die im auffrisierten Wikipedia-Stil nacherzählt werden.

Der Markt vollendet diesen populären Realismus mit seinem ehernen Gesetz: „Wir bekommen nur, was wir wollen.“ (112) Nach diesem Gesetz bietet Amazon seine personifizierte Vorschau an. An diese Regel hält sich auch der sortierte Buchhandel, wenn er für die Stammkundschaft immer schon jene Überraschung parat hält, die diese gerade sucht.

Und letztlich arbeiten auch Verlage und Autorencluster nach diesem Konzept. Aus dem Klappentext des Vorgängerromans wird der aktuelle Roman mit dem Klappentext des zukünftigen Romans.

Der Höhepunkt dieses essayistisch angelegten Handbuchs über den Populären Realismus ist eine kleine Skizze auf Seite 118. Darauf sieht man links, wie Literatur mit Innovation, Information und Evolution funktioniert: Der Autor kommuniziert über ein Kästchen, das mit Werk definiert ist, mit dem Leser. Dieses Bild erinnert an einen gelungenen Auftritt, wenn ein Handwerker, den Handwerkskoffer in der Hand, eine Veränderung bei der Kundschaft bewirkt, sei es, dass er etwas einbaut, repariert oder demontiert.

Auf der rechten Seite der Skizze steht ein Kästchen leicht erhöht auf zwei Stützen, die von Produzent und Rezipient getragen werden. Im Kästchen steht: Ikone.

Tatsächlich geht etwas fast Religiöses vor sich, wenn diese Ikone aus Stil, Nimbus, Performance und Community leicht erhöht durch den Alltag getragen wird. Das Buch wäre in diesem Fall mit einem Heiligenbildchen zu vergleichen, das man anbeten und gegen Feinde verteidigen soll. Inhalt und Form einer Ikone sind hermetisch. Ein Austausch der Ikonen bringt wenig, es wäre, als ob man fragte, welcher Heiliger heiliger ist.

Während die echte Erzählliteratur bewohnbare Strukturen verkauft, geht es im populären Realismus um die Verlässlichkeit solider Markenware. Mit einem Tatort vergleichbar stellt sich nicht die Frage, worum es geht, sondern in welchem ikonenhaften Milieu er spielt.

Im angewandten (zweiten) Teil des Essays werden zuerst einige Milieustudien des Literaturbetriebs begutachtet, ehe es dann in mäandernder Gelassenheit quer durch die jüngste Gegenwartsliteratur geht.

Der Literaturbetrieb ist voll von sogenannten Mätzchen. Das fängt schon damit an, wie der Autor seinen Status als Professor präsentiert. Ab und zu lässt sich der gelehrte Herr aus Münster am flachen Land blicken und betritt bei dieser Gelegenheit einen Buchladen in der Lesewüste.

Diese Lektüre am flachen Land unterliegt nämlich anderen Gesetzmäßigkeiten als jene in den diversen Diskussions-Discountern im studentischen Milieu. Überall poppen Blasen auf, worin Ikonen angebetet werden. Die Aufgabe des Wissenschaftlers sei es nun, meint der Autor in Selbstlegitimation, zwischen den Blasen zu vermitteln und einen Überblick herzustellen.

Dabei wird er freilich Opfer der Germanistenfalle. Beim germanistischen Arbeiten nämlich kommt immer das hinten raus, was man sich vorne ausgesucht hat. Für jede These gibt es ein Buch als Beleg, und bei kluger Auswahl der Primärliteratur lassen sich ganze Romane über die Romane schreiben. Manche halten die Literaturwissenschaft ähnlich wie die Theologie für keine saubere Wissenschaft, sondern für eine empfundene.

Aus den diversen Literaturzirkeln seien zwei besonders witzige hervorgehoben. Das Literarische Quartett neu ist mittlerweile als Kasperl-Krokodil-Stück aufgebaut, wo es nur darum geht, die Sendezeit nicht zu überschreiten und die jeweiligen Rollen als guter und schlechter Rezensions-Cop sauber durchzuspielen.

Kathrin Passing hingegen hat jüngst beim Bachmannpreis in Klagenfurt das Rezensionswesen insofern ad absurdum geführt, als sie mit dem ALK (automatisierte Literaturkritik) alle Preisentscheidungen voraussagen konnte. (142)

Die umfangreiche Lektüre der Gegenwartsliteratur bringt schließlich einige passable Beschreibungen hervor, die man nicht zu wichtig nehmen sollte, sie sind eher für das Semesterbriefing einer Online-Vorlesung gedacht.

Die drei wichtigsten Strömungen: Tentakuläres Erzählen. Autofiktion. Kalkülromane.

Darunter werden die einzelnen Werke mit griffigen Schlagworten abgegriffen wie: „Nazis am Baggersee / In der Traumfabrik / Identitäten verhandeln / Der Autor als Welt / Der Autor als Persona / Postironische Katharsisse / Formen des Nichtseins / Die Zukunft des Erbes / Vom richtigen Leben / Vom guten Leben.“

Für all diese Schlagworte gibt es den richtigen Roman, der nach Midcult-Tradition lockere Diskussionen ohne Anstrengung ermöglicht.

Immer öfter beklagen sich Konsumenten, denn von Lesern kann man ja nicht sprechen, dass nichts Brauchbares in den gegenwärtigen Romanen drinsteht.

Auf dieses Gefühl reagiert ein Rezensent des neuen Wolf-Haas-Romans elegant, indem er dessen tollen Einleitungssatz umformuliert: „Es ist aber schon wieder nichts passiert.“

Genau darum geht es beim International Style gegenwärtigen Erzählens. Wie klug ist da schon eine Schweizer-Bank, die seit Jahrzehnten den Slogan laufen hat: „Wir investieren nicht in Konjunktiv.“ (377)

Moritz Baßler: Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. München: C. H. Beck 2022. 407 Seiten. EUR 24,90. ISBN 978-3-406-78336-4.
Moritz Baßler, geb. 1962, lehrt Neuere deutsche Literatur in Münster.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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