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Regina Hilber
Apopemptikon und Propemptikon
Ein Essay über
die ZWEI.
Oder:
Vom zueinander wie voneinander Berichten, Beweisen, Beichten
innerhalb fiktiver Paarkonstellationen
1. Teil


Präliminarien

Schriftsteller neigen gattungsmäßig zum Gaffen schreibt David Foster Wallace in seinem Essay über Fernsehen und Literatur in den USA .

Fernsehen und Literatur. Da ist sie schon, die Zweiheit als Dualismus bzw. als Bipolarität – und steht im Verdacht, nicht mehr weichen zu wollen als Impulsgeber für diesen Essay.

Als Ziffer unangetastet, pflastert die Zwei als bipolares Begriffspaar automatisch jegliche Gedankengänge zu. Im Vorfeld tummelt sich ein Reigen aus Antagonismen, Part und Gegenpart, Pol und Gegenpol, aus Verdoppelungen, aus Paarungen wie Stan Laurels und Oliver Hardys, aus Thelmas und Louises.

Kriegslinien. Zweifrontenkriege. Norden und Süden bzw. Nord- und Südgefälle. Norditalien versus Süditalien, Norddeutschland gegen Süddeutschland, pardon, Bayern!

Mindestens so geläufig ist das Ost-West-Pendant, sowohl innerhalb Europas als auch global. Auf Österreich bezogen konkurriert seit jeher das Mentalitätsbarometer mit den Himmelsrichtungen West gegen Ost, während der Norden (wo liegt der genau in Österreich?) selten sich ähnlich ideologisch gelagerte Schlachten liefert mit dem ihm entgegengesetzten Süden.

Europaweit betrachtet ergab sich bis 1989 (wir erinnern uns) Osten: Kommunismus (Ostblock, Eiserner Vorhang, Mangelwirtschaft). Westen: Konsum und Freiheit.

Oder die Wohnung, die eigene, die sich teilt in zwei Hälften, in einen Ostteil und einen Westteil mit unterschiedlichen Klimata: im Winter die eisigen, unbeheizten östlich gelegenen Räume (Küche, Kabinett, Kabuff) versus die beheizbaren Räume in der Westhälfte. Dort tut ein alter Meller-Ofen lebensrettende Dienste, schafft in der frostigen Jahreszeit samt steigender Gaspreise belebtes Tun in Zimmer Nummer eins, zwei und drei. Ein Dazwischen gibt es nicht. Kalt oder warm.

Sommers jedoch der schweißtreibende Ostteil an sonnigen Vormittagen, der mich in den zu dieser Zeit noch im Schatten liegenden Westteil scheucht, um arbeiten zu können.

Nach der Mittagsstunde dann umgekehrt wieder hinüber wandern in die Osthälfte, wo zwar die Hitze von den frühen heißen Tagesstunden noch in den Räumen flirrt, die Sonne aber in der Zwischenzeit weitergewandert ist, also nicht mehr auf die hohen Fensterscheiben knallt wie jetzt drüben an der Westfassade.

Ein Hin und ein Her ist es. Ein nomadisches Arbeiten wie Wohnen innerhalb der eigenen vier Wände. Sommer wie Winter. Von Klimazone Eins zur Klimazone Zwei wechseln, nur Frühjahr und Herbst sorgen für ein ausgeglichenes Raumklima auf der gesamten Wohnfläche. Ganze Romane könnten geschrieben werden in diesem Setting. Über dieses Setting.

Die Zwei als bipolares bzw. dualistisches Begriffspaar lauert überall, ich entkomme ihr nicht. Aporie in Folge der Abschweifung. Bewusst den einmal in Gang gesetzten Determinismen Einhalt gebieten mit Hilfe einer Maulschelle. Ein Codewort kann so ein Gegeninstrument sein: Maulschelle.


Auf Anfang

Schriftsteller neigen gattungsmäßig zum Gaffen schreibt David Foster Wallace in seinem Essay über Fernsehen und Literatur in den USA.

Schriftsteller neigen gattungsgemäß zum Gaffen, bin ich versucht zu korrigieren, denn das Gaffen bezieht sich meiner Meinung nach (gattungsgemäß) auf das schriftstellerische Spezifikum einer stets beobachtenden (und ergo gaffenden) Instanz. Liegt es an der Übersetzung von der englischen in die deutsche Sprache, oder meinte der Autor tatsächlich ´neigen gattungsmäßig zum Gaffen´?

Schriftsteller und Übersetzer, da spießen sich bereits zwei entgegengesetzte Pole. Sollten beide nicht zueinander arbeiten bei der Übertragung? Eine Wunschvorstellung bleibt das in den allermeisten Fällen.

Der schnelllebigen Verlagswelt mit ihren ökonomischen Bestrebungen stehen zumeist Sorgfaltsambitionen plus Idiosynkrasien der Autorinnen bzw. Autoren frappant gegenüber. Übersetzer und Autor wiederum stünden in lange währender, gewollter bis nicht gewollter Dauerkommunikation, zwischen ihnen der große Teich. Wiederholt Osten und Westen.

Ob gattungsmäßig oder gattungsgemäß, wir wollen uns natürlich aufführen, wir beide (du und ich, das Schreiber-Ich und das Alter Ego-Ich oder sind noch mehrere Ichs zu Gange?) und eine kleine literarische Weltenerfindung ins Spiel setzen als fiktive bzw. semifiktive Paarungen, die von sich selbst (aber zu allererst selbstverständlich aus mir, der Schriftstellerin Gedankenwucherei heraus) berichten, beweisen und beichten dürfen.

Als Schriftstellerin kann ich nicht anders als meine Paarungen jetzt schon begaffen zu wollen – gattungsgemäß natürlich – begaffen zu wollen, obwohl sie noch gar nicht zu Papier gebracht sind.

Die Kopfgeburt wägt noch keine Präliminarien ab. Hier sind sie also – die Paarkonstellationen im Geleitgedicht-Doppel:

Alice B. Toklas und Gertrude Stein mit Auntie ,
Maxim Biller mit Péter Nádas
und
die exzentrische Elsa von Freytag-Loringhoven mit mir.

Als Protagonistinnen und Protagonisten schieben wir freiwillig bzw. unfreiwillig ins Spielfeld geführte Paarungen, das Apopemptikon wie das Propemptikon, über den Tisch, der gerade so groß ist, dass er ganze Schreibtischwelten umspannt – gattungsgemäß – umspannt, dabei aber nicht gleich alle Ozeane überquert.

Das Feld der Übertreibung und Abschweifung gehört den narzisstischen Hedonisten. Dieser temporäre Horizont hier bedeckt die achtzig mal hundertsechzig Zentimeter aus Massivholz. Was über die Kante hinausgetrieben wird wie ein gewalkter Teig auf dem Nudelholz bleibt Ausschussware, wird mit einem scharfkantigen Messer abgeschnitten. Die Großmutter hatte es vorgemacht, damals in den Siebziger Jahren.

Die Zwei als Apopemptikon mit seinem Pendant, dem Propemptikon: Was war zuerst?

Das Abschiedsgedicht (Apopemptikon) des Fortgehenden an die Zurückbleibenden oder umgekehrt, das Geleitgedicht (Propemtikon) von den Zurückbleibenden an den Abreisenden, den Scheidenden?

Der, der fortgeht, weiß in der Regel früher Bescheid als diejenigen, die an einem Ufer stehend den Fortgang des in die Ferne Ziehenden zu begaffen angehalten sind – daher wird das Apopemptikon als Ausgangslage im Folgenden vorangestellt.

Nicht Homerische Geleitgedichte werden intendiert – die Antike war gestern – was heute in den Fokus rückt, bewusst oder zufällig, oder auf Nebenstraßen in Schlaglöchern oder Pfützen dahin dümpelnd, nimmt Aufstellung.


Fortsetzung Donnerstag 30. Juni


1 Vollständiger Titel: E Unibus Pluram: Fernsehen und Literatur in den USA – Führ dich natürlich auf
2 so nannten Gertrude Stein und Alice B. Toklas ihren Ford Model T


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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Regina Hilber

    Liebe Christine, bleib dran an Teil 2 in der kommenden Woche! Es bleibt der Spaß an der Sache meine größte Motivation beim Verschriften.

  2. c. h. huber

    eins steht für mich fest, liebe regina: die frequenz des fremdwörter-dudens wird nach diesem essay – oder ists eine doktor*innen-arbeit? – luftige höhen erklimmen! ebenso tuts meine bewunderung für dich

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