Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer bespricht:
Hans Prugger
Das Zeit- und Wunderbiechl
Transkribiert von Peter Fischer

Was ein echtes Anwesen ist, hat ein Hausbuch. Darin sind wesentliche Punkte der Anlagenchronik aufgezählt, die wichtigsten politischen Einrichtungen rund ums Haus, sowie die wesentlichen wirtschaftlichen Maßnahmen zur Versorgung. Aus heutiger Perspektive werden diese Vorkommnisse im Lastenbuch der Hausverwaltung verzeichnet, mittlerweile digital abrufbar.

„Das Zeit- und Wunderbiechl“ hat seinerzeit Hans Prugger (1660-1737) geführt. Es stellt heute ein wertvolles Dokument zur Wirtschaftsgeschichte des agrarisch-touristischen Tirol dar. Die Bilder, die wir vom Leben auf dem Bauernhof romantisiert herumtragen und ökonomisch ausschlachten, haben freilich nur wenig mit der damaligen Realität zu tun. Die Chronik stammt aus einem „stattlichen“ Hof zu Götschen im Weiler Sperten bei St. Johann in Tirol. Das Buch hat sich wundersam als Handschrift bis in die Gegenwart gerettet, wo es jetzt in Zusammenarbeit mit dem Museum St. Johann mustergültig transkribiert und kommentiert worden ist.

Peter Fischer erzählt dabei mündlich-griffig von den Qualitäten des Inhalts, in einem Inventar setzt er im Anhang trocken-wissenschaftlich die Wörter von damals dem Gebrauch von heute aus.

Beiden Vorgangsweisen wohnt die Begeisterung für ein Werk inne, die wir uns heute im Zeitalter der Digitalisierung selten vorstellen. Dabei steckt hinter all diesen Selbstverständlichkeiten großes Bemühen, uns Gegenwärtigen zu zeigen, dass unsere Vorfahren ähnlich tapfer ums Leben gerungen haben, wie wir es in guten Stunden tun.

Das Buch selbst „spielt“ zwischen 1640 und 1710, die einzelnen Jahre sind lapidar im Vorspann aufgeführt und erzählen merkwürdigen Stoff:
„1650 / Selbstmord der Samerbäuerin / in Graz hat eine Kuh zwei Kinder getragen (?) / eine Frau schleppt eine Seuche in die Hofmark Pillersee ein / zwei Personen fallen von einem Kirschbaum und sterben / Getreidepreise“
„1672 / ein Krimineller wird inhaftiert und dann nach Innsbruck gebracht / Hofschmalzbeschreibung / Erzbischof Max Gandolf von Kuenburg ist in St. Johann und stiftet sechs Reichstaler zum Scheibenschießen / Georg Seiwald zu Wiesenschwang wird Vierteiler / Getreidepreise“
„1699 / trotz negativer Prophezeiungen hat Prugger das Jahr 1699 erlebt“

Diese lapidare Chronik ist auf jeden Fall vor der Transkription zu lesen, die dann ziemlich flüssig zu sich zu nehmen ist. „1669 / Dann so hat es dermahlen auch gar einen gueten Herbst abgegeben.“

Über die persönliche Biographie und die unmittelbaren Verläufe von Witterungen und Jahreszeiten hinaus sind natürlich jede Menge historischer Ereignisse angeführt, die ihre Einmaligkeit dadurch erleben, dass der Weltgeist ungehemmt bis in die kleinsten Zellen des Landes vordringen kann.

Hans Prugger ist naturgemäß politisch interessiert und nimmt diverse Funktionen ein, die ihm einen Wissensstand ermöglichen, der weit über das übliche Maß hinausgeht.

Wie die historischen Fakten zu lesen sind, wird sich jeder Leser zurechtlegen. Ein zusätzlicher Aspekt sollte freilich nicht vergessen werden. Die Darstellungen sind aus heutiger Sicht auch starke Poesie, weil sie etwas Zeitloses und Elementares in sich tragen.

So lassen sich die angehefteten Witterungsberichte nicht nur lesen, weil man etwas zum Klimawandel erfahren will, in ihrer beharrlichen Aufzählung von Gewittern, Winden, Regen und Sonne sind sie ein Langgedicht, eine Ode an das Klima schlechthin.

Wie in den später weitverbreiteten landwirtschaftlichen Kalendern hat auch Hans Prugger die wichtigsten Parameter für einen Hofbetrieb stets im Auge. Maße und Messeinheiten, Angaben zum Geldwesen und Änderungen des Geldwerts lassen das Herz jedes Geheimbörsianers höher schlagen.

Die Jahresbilanzen fallen insgesamt wahrscheinlich immer so aus, dass man überleben kann. Dennoch blitzen aus manchen Jahreseintragungen verzweifelte Meldungen heraus: „1665: 2. bis 4. April Schneestürme, daher keine Karfreitagsprozession. / 1666: 7. bis 25. März intensive Schneefälle und kalt. 14. Juni und 18. August große Unwetter.“Auf unsere heutige Zeit übertragen würde man wahrscheinlich die Schließtage eintragen, an denen wegen Wind irgendein Sessellift außer Betrieb war.

Das Zeit- und Wunderbiechl verströmt jetzt, da der Schrecken und das Ungemach der damaligen Zeit längst vorbei sind, pure Unterhaltung. Das hat die Geschichte so an sich, dass sie am Schluss zur Unterhaltung für die Nachkommen wird.

Das Projekt Transkription einer alten Chronik stellt global gesehen einen gelungenen Versuch dar, das große Weltgeschehen für einige Stunden anzuhalten und den lokalen Fundus zu würdigen. Hoffentlich schreiben sie in dreihundert Jahren ähnlich positiv über uns und unsere Wirtschaftsform, wie wir es jetzt über den Hans Prugger tun.

Hans Prugger: Das Zeit- und Wunderbiechl. Transkribiert von Peter Fischer. Abb.
St. Johann: Verlag Hofinger 2021. 524 Seiten. Fotos. EUR 29,90. ISBN 978-3-9505074-0-9.
Hans Prugger, geb. 1660 im Weiler Sperten bei St. Johann, starb 1734.
Peter Fischer, geb. 1967, ist Kulturbeauftragter der Gemeinde St. Johann.


PS:
„Bestseller bespreche ich nicht, die hat schon jemand gelesen!“ Dieser Satz kann als Leitmotiv für jene 6000 Buchbesprechungen gelten, die Helmuth Schönauer seit 1986 verfasst hat und die als einmaliges Zeitdokument in einer mehrbändigen Buchfassung vorliegen. Schönauer bedient mit seinen Rezensionen nicht den Markt, sondern wendet sich an 2000 vor allem österreichische Bibliothekare und deren Leserschaft, aber auch an etwa 500 Autoren, von denen er die meisten persönlich kennt. Dieses Rhizom ist der Nährboden, aus dem seine deskriptive literarische Anthropologie erwächst, ein breit dahinfließender Strom des Zeitgeists und seiner Mythen, von dem besonders markante Beispiele den Lesern des schoepfblog allwöchentlich zur Verfügung gestellt werden.“                                              A.S.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar