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Helmuth Schönauer
Catch 22
Stichpunkt

Catch 22 ist eine Floskel, mit der eine ausweglose Situation beschrieben wird, vielleicht ähnlich der klassischen Aporie. Sie geht auf Joseph Hellers gleichnamigen Roman zurück, worin jemand kampfuntauglich werden will, indem er sich blöd stellt, aber intelligent genug sein muss, um sich für das Militär als zu blöd anzustellen.

Dieser Zustand von blöd stellen und für blöd gehalten werden überlagert die Themen, die uns im neuen Jahr bevorstehen.

Impfen, Arbeiten, Wohnen, Mobilität. – Diese wohl auch im Jahr 2022 aussichtslos diskutierten Begriffe liefern vor allem deshalb gesellschaftlichen Zündstoff, weil sie auf ähnlichen Mehrheitsverhältnissen beruhen.

Hinter allen Themenkomplexen steckt das unlösbare Problem einer Zweidrittelgesellschaft.

– Beim Impfen hat die Nadel offensichtlich bei siebzig Prozent den Geist aufgegeben.

– Am Arbeitsmarkt sind etwa 2/3 eines Jahrgangs in Beschäftigung, der Rest ist auf Suche, outgesourct, physisch krank, depressiv oder hat schlicht genug geerbt.

– Am Wohnungssektor spielt es sich ähnlich ab. Gut 2/3 haben eine oder mehrere Wohnungen, ein Drittel aber taumelt entlang des Pfads des Prekariats oder der Obdachlosigkeit. (Hier muss man alle Anwesenden des Staatsgebietes mitzählen, nicht bloß die Staatsbürger.)

– Und in der Mobilität sind 2/3 ständig pendelnd, urlaubend oder migrierend unterwegs, was letztlich dazu führt, dass niemand ortsfest über seine Lage nachdenken muss. Ein dahinfließender Haufen stellt nämlich keine Fragen und lässt sich mit wenig Polizei gut steuern, wie man an den wöchentlichen Abfahrtssperren entlang der Transitrouten sieht. Andererseits wird der Haufen rebellisch, wenn man ihn nicht nach Mallorca oder Ischgl lässt.

Alle diese Zweidrittel-Themen werden uns in der nächsten Zeit beschäftigen, und es ist zu befürchten, dass es bei allem keinen Ausweg gibt.

(Das einzige Licht weit und breit stellt Karlheinz Töchterle in seinem Aufsatz „Aporetisches zur Migration“ auf den Scheffel, indem er seine Gedankengänge mit dem griechischen Begriff Aporie abschließt, was so viel wie Ausweglosigkeit bedeuten könnte.)

Zurück zu den Neujahrswünschen Marke „Catch 22“.

In literarischen Kreisen, die oft wie der G7-Gipfel organisiert sind und streng von der öffentlichen Meinung abgeschirmt agieren, gelten jene Jahre als besonders pfiffig, die man sich als Neujahrsgruß wünschen kann.

Diese Ausnahmejahre sind im Ablauf gewöhnlich wie alle, durch das Zitieren der Jahreszahl als fiktionale Besonderheit bereiten sie freilich Freude, Ordnung, Hintersinn und sonst noch allerhand, was Literatur an guten Tagen so schaffen kann.

Mit diesen skurrilen Jahreszahl-Wünschen sollen die Vorfahren vor hundert Jahren angefangen haben, als sie sich zuerst gegenseitig guten „August 1914“ gewünscht und anschließend den Ersten Weltkrieg begonnen haben.

(Es wäre eine gute Pointe, aber leider hat Solschenizyn den „August Vierzehn“ später geschrieben, als das Wünschen nicht mehr geholfen hat. Der Roman wurde erst 1971 publiziert.)

Anders bei George Orwells legendärem „1984“ aus dem Jahre 1949, das im Kalten Krieg so lange zitiert wurde, bis alle glaubten, dass die Dystopie schlagartig mit diesem Datum eintreten werde. Als das Jahr dann tatsächlich gekommen ist, haben die meisten zumindest den Anfang davon verschlafen.

„Catch 22“, die Chiffre für Wahnsinn, entstand als einer der ersten postmodernen Romane um 1960, als die besten der High-School-Absolventen regelmäßig zu Kampfpiloten ausgebildet und als Nonplusultra der Nation angesehen wurden.

Als Amerika freilich im Zehnjahresrhythmus neue Kriege aufmachte (Vietnam war erst im Anrollen), musste sich die Intelligenz überlegen, wie sie aus diesem Wahnsinn herauskäme.

Wenn man jemandem ein „Catch 22“ wünscht, so ist das ein Kompliment, denn man traut ihm zu, dass er zumindest ein Sensorium für Wahnsinn hat.

Neujahrswünsche und Literatur sind übrigens gleichermaßen wirkungslos, wenn man davon absieht, dass sie für ein paar Augenblicke eine gute Zukunft hilflos in Worte zu kleiden versuchen.




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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rudolf Matuschek

    Danke.
    Die Floskel Catch 22 ist hiemit
    in mein Gedächtnis eingerückt..
    Die Absätze knapp, aufklärend
    intelligent flockengleich fallend.

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