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Karlheinz Töchterle
Aporetisches zur Migration
Essay

Unser Papst war jetzt schon zum zweiten Mal auf Lesbos (der Insel der frühesten europäischen Lyrik, eines Alkaios und einer Sappho, wegen deren Liebeslieder an Mädchen solche Liebe „lesbisch“ genannt wird) und klagte über die Hartherzigkeit Europas, und unser Bischof, der auch schon dort war, pflichtete ihm bei. Es drängt sich die Frage auf, ob es nicht in der Macht der beiden stünde, einen spürbaren Beitrag zur Linderung des dortigen Leids zu leisten. Der Bischof könnte etwa einige der vielen leeren oder halbleeren Liegenschaften seiner Diözese als Flüchtlingsunterkünfte adaptieren (bei uns im Stubai z. B. gibt es fünf geräumige Pfarrhäuser, aber nur noch einen Pfarrer), der Papst hätte sogar einen, wenn auch kleinen, Staat zur Verfügung, um dafür Platz zu schaffen.

Man kann sich Gründe vorstellen, die sie daran hindern. So würden beiden alle möglichen Widerstände entgegenstehen, die sie wohl schrecken und deren Überwindung nicht einfach wäre. Und beiden ist vielleicht auch klar, dass sie zwar einigen Menschen zu Hilfe kämen, diese Hilfe das Problem insgesamt aber keiner Lösung näherbrächte, sondern es sogar noch verschärfen würde.

Denn die päpstliche und bischöfliche Hilfe spräche sich rasch und wahrscheinlich weltweit herum, und die Folgen liegen auf der Hand: Lesbos wäre gleich wieder voll, und noch viel mehr als jetzt drängten sich dorthin und sonst nach Europa – der berüchtigte und in der heutigen lingua franca „pull-Faktor“ genannte Effekt wäre unausbleiblich. Denselben Effekt vermutet man ja auch bei den Seenotrettungen im Mittelmeer und jetzt im Ärmelkanal. Spricht man das allerdings aus, wie seinerzeit u. a. ein gewisser Sebastian Kurz, wird einem sofort ganz üble Gesinnung und Unmenschlichkeit gegenüber Ertrinkenden unterstellt.

So sind zwar die Klagen, dass Europa Massenflucht und Migration einigermaßen hilf- und ratlos gegenüberstehe, allgegenwärtig, und auch daraus folgende Appelle oder Anschuldigungen, kaum hingegen taugliche Vorschläge für stimmige Reaktionen.

Denn das ist riskant, sobald man vom Pfad des Korrekten auch nur geringfügig abweicht, und es grenzt an Hybris, offen darüber nachzudenken, zumal nicht nur Europa, sondern alle Gunstlagen der Welt mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen haben. Die USA z. B. sollen nach einem Bericht des deutschen Monatsmagazins „Cicero“ zwischen Oktober 2020 und September 2021 (also nicht nur unter dem bösen Donald Trump) mehr als 1,7 Millionen Menschen festgenommen haben, die illegal die Südgrenze überqueren wollten, darunter viele bereits einmal woandershin ausgewanderte Haitianer, die aufgrund hoffnungserweckender, aber eben irreführender Nachrichten an die Grenze gelockt worden waren.

Daher vor solchen Überlegungen eine biographische Notiz, die zumindest eine gewisse Sensibilität in Flüchtlingsfragen belegen möge: Im Jugoslawienkrieg haben unsere Kinder, damals Teenager, den von ihnen bewohnten Halbstock in unserem Haus für ein paar Monate lang zugunsten einer vierköpfigen Flüchtlingsfamilie geräumt. Damals schien uns das sinnvoll und angebracht, heute denken wir ähnlich, wie ich es oben Papst und Bischof nur unterstelle.

Nun sieht allerdings nicht jeder die Migration als Problem an. Historisch betrachtet waren die Stoiker wohl die ersten, die gegen den allgemein selbstverständlich, ihnen aber naiv erscheinenden Patriotismus und die Exklusivität der griechischen Polis ein sich aus der Gleichheit aller Menschen ergebendes Weltbürgertum propagierten. Christliche Denker folgten ihnen, und auch heute gibt es diesen Ansatz, dem nicht zuletzt die UNO in ihrem Migrationspakt zu folgen scheint, wenn sie das Phänomen einleitend als dem Menschen gleichsam wesenshaft zuschreibt.

Und dann gibt es vor allem im deutschen Kulturraum (stoisch, christlich und inzwischen auch vielfach anders begründbar) nicht nur Indifferenz oder Aversion gegen abgegrenzte Staatlichkeit, sondern einen regelrechten Hass auf den Nationalstaat, insbesondere auf den deutschen und den österreichischen, diedurch die Naziverbrechen ihre Existenz  auf ewig kontaminiert haben. Neben diesen Extremen findet sich eine Anzahl weiterer Argumente und Motive, Migration grundsätzlich als wünschenswert und daher als unproblematisch zu betrachten, etwa in progressiv linken Kreisen, wo Skepsis gegen konservativ-nationales Denken und internationale Solidarität als Motive zusammenkommen.

Es gibt aber auch die Gegenposition radikaler Gegnerschaft gegen jegliche Zuwanderung von Fremden. Auch hier mögen die Motive unterschiedlich sein, zumeist wird man extremen Nationalismus, Rassismus und/oder Xenophobie nennen können.

Auf breiteren Konsens stoßen dürfte eine Position zwischen diesen Extremen, die Massenflucht und Migration als facettenreiches Faktum betrachtet, das ohne Gegenmaßnahmen Europas Integrations- und Finanzkraft nicht nur mittelfristig überforderte, sondern sein Antlitz insgesamt massiv veränderte und dem man sich daher mit differenziertem Problembewusstsein stellen muss.

Am nachhaltigsten wäre es natürlich, bei den Ursachen von Flucht und Migration anzusetzen. Die Hauptursachen sind Kriege und Unterentwicklung. Jene etwa durch Einstellung von Waffenlieferungen (eben auch aus Deutschland und anderen mächtigen EU-Ländern) austrocknen zu wollen, ist genauso Utopie wie die Hoffnung, dass ein wirtschaftliches Aufholen einigermaßen zügig gelingt. Die Hauptursachen des Rückstandes, das hohe Bevölkerungswachstum (als Ursache ohnehin kontrovers) und das niedrige Bildungsniveau (weniger kontrovers) bedürfen wohl jahrzehntelangen Bemühens zu seiner Beseitigung. Daher braucht es kurzfristig jedenfalls Maßnahmen in den europäischen Zielländern, auch angesichts der dort sichtbaren und wohl unbestreitbaren Probleme.

Am besten fassbar ist in Europa schon wegen der hohen sozialen Standards wohl die finanzielle Belastung, wobei man selten präzise Zahlen hört. Sie dürften auch nicht leicht zu ermitteln sein, weil man vor allem die Fülle von Folgekosten und Sekundäreffekten schwer fassen kann. Fest steht jedenfalls, dass eine sehr große Anzahl von Migranten staatliche Transferleistungen bezieht. Diese und andere Ausgaben führen in Deutschland zu Kostenschätzungen von jährlich 25 Milliarden Euro, in Österreich könnte man also ca. mit einem Zehntel rechnen – eine Riesensumme, die der Politik natürlich für andere Maßnahmen fehlt.

Mindestens ebenso gravierend sind soziale und kulturelle Folgen, zumal die Herkunftsländer der Migration nach Europa vorwiegend in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten liegen. Deren Bevölkerung ist zumeist islamisch und hat in breiten Schichten ein sehr niedriges Ausbildungsniveau. Dieses erschwert massiv das berufliche An- und Vorankommen und vor allem wegen der fundamentalistischen Tendenzen im Islam die kulturelle Integration. Parallelgesellschaften entstehen, mittelfristig wird wohl unsere immer noch stark christlich geprägte Kultur insgesamt unter Druck geraten.

Eine Anzahl weiterer Probleme hängt z. T. mit dem der kulturellen Differenz zusammen, z. B. die seit 2016 bei uns stark steigende Rate an Frauenmorden. Das wird zwar – wie speziell migrantische Kriminalität – in den Medien häufig verschleiert (auch Ziel 17 des UNO-Migrationspakts verlangt von den Signatarstaaten sicherzustellen, dass ihre Medien nicht negativ über Migration berichten – ein kaum erträgliches Postulat nach Manipulation!), ist aber statistisch erweisbar. Auch islamistischer Terror in Europa hat häufig Eingewanderte als Urheber.

Große Schwierigkeiten bereitet auch die hohe Anzahl Fremdsprachiger im Grundschulwesen, da sie regulären Unterricht auf der Basis der deutschen Unterrichtssprache nahezu unmöglich macht. Das hat negative Folgen auch für die wenigen dort noch verbliebenen Muttersprachler, noch gravierender ist aber das Zurückbleiben der Migranten im weiteren Bildungsverlauf. Es mündet wiederum häufig in der Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen und fördert Kriminalität.

Es gibt also viele gute Gründe für Begrenzung und Steuerung von Migration. Dazu ein paar Überlegungen, angesetzt an Phänomenen, die besonders auf- und negativ ins Gewicht fallen, etwa das illegale Überschreiten von Staatsgrenzen und das mit ihm zusammenhängende Schlepperunwesen sowie die offenbar weit über der tatsächlichen Berechtigung und damit der Aussicht auf Anerkennung liegende Zahl von Asylanträgen.

Illegale Grenzübertritte sind ohne Grenzkontrollen schwer zu verhindern. Solche aber gibt es im Binnenraum von Schengen nicht, an seinen Außengrenzen meist lückenhaft, strenger nur in ein paar restriktiveren Ländern, die, wie Ungarn, sich dafür auch noch Kritik einhandeln. (Angela Merkel meinte sogar, scheinbar resignierend, man könne Grenzen überhaupt nicht wirksam kontrollieren.)

Ein Mittel, Illegalität zu vermindern, wäre die Regelung, dass ein Asylantrag nur gestellt werden darf, wenn der Nachweis eines legalen Grenzübertritts vorgelegt wird. Das würde auch den Wirkungskreis der Schlepper stark beschränken, weil das Schleusen über Grenzen zu ihrem Hauptgeschäft gehört. Ähnlich wirksam wären Anstöße, den Asylantrag in der Botschaft des Herkunftslandes zu stellen.

Ich finde es auch grotesk und der Reputation eines Ziellandes nicht förderlich, wenn das Delikt des illegalen Übertritts nicht nur völlig folgenlos bleibt, sondern umgehend mit Sozialleistung und Asylverfahren belohnt wird.

Die weit überzogene Anzahl von Asylansuchen, die im Zielland zu hohem bürokratischen Aufwand und entsprechend langen Verfahrensdauern führt (und dann auch noch zu massiver Missachtung negativer Bescheide), könnte schon durch das Verlangen nach einer konkreteren Antragsbegründung reduziert werden (allein das Wort „Asyl“ zu äußern, sollte nicht genügen), vor allem aber durch eine Maßnahme, die erstaunlich wenig diskutiert wird: Derzeit gibt es in vielen europäischen Ländern außer dem illegalen Eintritt und dem dann folgenden Vortäuschen von Fluchtgründen kaum die Möglichkeit einer regulären Einwanderung.

Eine solche könnte man durch ein Einwanderungsgesetz schaffen, das die Anzahl und auch die Art der Einwanderung regelt. Wir haben in Österreich nur spezielle Möglichkeiten für diverse Fachkräfte, Deutschland hat seit 2020 ein “Fachkräfteeinwanderungsgesetz“, das in die richtige Richtung weist. Wenn uns, wie oft plausibel argumentiert wird, ein gewisser Zuzug Nutzen bringt, dann sollte man diesen eben auch steuern können, darüber hinaus aber restriktiver sein als bisher, wobei echte Schutzsuche natürlich keinesfalls in Frage zu stellen wäre.

Diese wenigen Denkanstöße benötigten eine Fülle nachgeordneter Überlegungen für ihre konkrete Umsetzung, deren Voraussetzung ein einheitliches Vorgehen Europas (wohl über die EU hinaus) darstellte.

Allein dies hat so viel Utopisches, dass ich nirgendwo anders ende als in der Aporie.

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Karlheinz Töchterle

Karlheinz Töchterle ist österreichischer Altphilologe und Politiker. Er war von 2007 bis 2011 Rektor der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und vom 21. April 2011 bis zum 16. Dezember 2013 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Von Oktober 2013 bis November 2017 war er Abgeordneter zum Nationalrat. Privat: Konditionsstarker Bergsteiger, begeisterter Flügelhornist und Fußballtrainer der dörflichen Jugendmannschaft.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Günther Aigner

    Ein schwieriges Thema, doch ein sehr schöner Essay. Ich fürchte, so ein Aufsatz wäre sowohl in einem großen Medium als auch an einer Universität aktuell undenkbar. Schade eigentlich.

  2. Hannes Hofinger

    Einer der besten Artikel, die ich je zu diesem Thema gelesen habe. Dafür herzlichen Dank! Mögen ihn auch die „Richtigen“ vor die Linse bekommen.

  3. c. h. huber

    danke für ihre umfassenden gedanken zur migration, die ich absolut teile. viele überlegungen zu diesem thema stelle auch ich an, zu einer in kürze wirksamen, möglichst menschenfreundlichen lösung für alle, ohne jedwede gewalt noch dazu, bin ich allerdings nicht gekommen – leider. ihre aporie bietet aber gute ansätze dazu.

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