Zu den Festtagen
Gerda Walton
Als ich mit Hilde Zach Weihnachten suchen ging.
Short Story
Obwohl oder vielleicht gerade weil Weihnachten alle Jahre wieder kommt, taucht in der Gedankenwelt älterer Menschen im Verlauf der von einem erdrückenden kommerziellen Klingeling begleiteten Adventszeit unvermeidlich eine Fülle von Erinnerungen an früher auf, als Weihnachten noch ganz anders war. Manchmal sind sie gewollt und nur mit Mühe und Akribie von der klebrigen Asche jahrzehntelangen Vergessens zu befreien, manchmal aber überkommen sie einen ganz spontan, ungewollt und unbeabsichtigt. Warum diese Gedanken und Erinnerungen gerade zur Adventszeit aus dem tiefen Brunnen des Vergessens hochsteigen, wer vermag das schon zu sagen? Wäre nicht jede andere Zeit des Jahres gleich gut dazu geeignet, jener zu gedenken, die unsere Wege einst geteilt, mit uns gescherzt, gelacht und gelitten haben und deren Abschied aus dieser Welt wir als ein Vorausgehen in eine andere zu akzeptieren gelernt haben? Manchmal gelingt es uns sogar, aus der erbarmungslos verrinnenden Zeit herauszutreten, und mit einem Menschen, der uns einst ganz selbstverständlich begleitet hat, auf den Flügeln der Erinnerung noch einmal einen Weg zu gehen und dabei zu fühlen, dass der Abschied unser Herz nicht taub und gefühllos gemacht hat.
Neulich habe ich davon geträumt, wie ich vor Jahren meine langjährige Freundin Hilde Zach am Heiligen Abend hinauf aufs Höttinger Bild begleitet habe. Sie war wieder ganz jung und von keiner tödlichen Krankheit entstellt, so wie ich sie zuletzt gesehen habe. Ganz deutlich konnte ich ihre von der frischen Winterluft leicht geröteten Wangen erkennen und vermeinte, Chanel Nr.5, ihr Lieblingsparfum, zu riechen. Kurz zuvor hatte sie wieder einmal eine von vielen schlechten Prognosen bezüglich ihrer Erkrankung erhalten. Als sie es mir schonend mitteilte, gerade so, als ob ich den Trost nötiger hätte als sie, meinte sie lakonisch: „Nur gut, dass man nicht jeden Tag zu Tode erschrecken kann, das würde man ja gar nicht überleben“. Im gleichen Atemzug, wie es ihre Art war, und wohl auch um jede Rührseligkeit gleich im Ansatz abzuwürgen, informierte sie mich dann, dass der neue Innsbrucker Bischof am Heiligen Abend am Höttinger Bild die Christmette feiern würde, wozu sie ihn nach meiner Erinnerung ein bisschen gedrängt hatte. Und so war es natürlich unabdingbar, dass auch sie als Innsbrucker Bürgermeisterin daran teilnahm. „Da kannst Du aber nicht mit dem Dienstwagen hinauffahren“, war meine spontane Antwort, was sie mit einer mir gut vertrauten Geste, die andeuten sollte, dass man wieder einmal etwas völlig Unnötiges von sich gegeben hatte, beiseite wischte. „Du als alte Höttingerin wirst Dich ja wohl da oben auskennen“ meinte sie nur, was ich bejahen musste und mich somit als ausreichend qualifizierter nächtlicher Guide deklarierte.
Und so begab es sich, dass ich vereinbarungsgemäß am Heiligen Abend, etwas vor dem vereinbarten Zeitpunkt, an vereinbarter Stelle im Stadtteil Sadrach stand. Obwohl es vorher stark geschneit hatte, war es mir gelungen, mein Auto in eine gerade zwischen schmutzigen Schneebergen frei gewordene Parklücke zu zwängen. Zum Glück war es recht warm und der Schnee lag auf der Straße in matschigen Haufen, die ein Schneepflug vor einiger Zeit provisorisch zur Seite geschoben hatte. Ich hatte natürlich meine hohen Winterwanderstiefel angezogen und einen dicken Anorak mit Kapuze, zusätzlich schlang ich mir einen warmen Schal um den Hals und nahm meine Wanderstöcke aus dem Auto. Dann steckte ich noch die kleine Taschenlampe ein, die mir eines meiner etwas besorgt wirkenden Kinder trotz meiner Versicherung, selbst bei Neumond aufs Höttinger Bild zu finden, für alle Fälle aufgedrängt hatte.
Die Zeit verrann. Zuerst fuhren noch ein paar Autos in Richtung Planötzenhof, was mich überraschte, denn die würden angesichts dieser Schneemassen wohl kaum weit kommen. Es kam aber keines zurück. Einmal tauchte der Bus auf und fuhr unter Kettengerassel wieder seinen Weg hinunter in die Stadt, dann kam der Schneepflug auf einer neuerlichen Runde vorbei und plötzlich, als hätte er den Schnee mitgebracht, begann es wieder heftig zu schneien. Ich hatte es genau so erwartet, schließlich kam Hilde nie pünktlich. Aber nicht, weil sie bewusst unpünktlich war, sondern weil sie immer von so vielen Menschen aufgehalten wurde, die nur ganz kurz mit ihr reden wollten, und ich wusste ja, dass sie auch an diesem Abend ein umfangreiches Programm zu absolvieren hatte. Und so studierte ich im kalten Licht einer einsamen Straßenlaterne die zunehmende Größe der Schneeflocken, ließ mir einige auf der Zunge zergehen, um ihren Geschmack zu testen und dachte darüber nach, ob meine Heimatstadt Innsbruck wohl noch immer eine Stadt sei, in der man am Heiligen Abend um 10.00 Uhr abends mutterseelenalleine auf der Straße stehen kann, ohne sich fürchten zu müssen. Aber im Schneetreiben war ich ohnehin fast unsichtbar. Endlich tauchten im dicht fallenden Schnee die Lichter eines Autos vor mir auf und als es sich als Taxi erwies, winkte ich vorsichtshalber, denn mittlerweile war ich selbst fast so weiß angeschneit, wie meine Umgebung. Das Taxi blieb stehen und tatsächlich stieg Hilde mit ihrem Partner Kurt aus und ich hörte noch, wie der Taxifahrer entschuldigend sagte „Hilde, beim besten Willen, aber weiter fahre ich Dich heute nicht hinauf“.
„Ich war noch bei der Weihnachtsfeier der Obdachlosen, schneller bin ich einfach nicht weggekommen“, erklärte sie mir entschuldigend. „Unten in der Stadt hat es geregnet“ fügte sie leicht trotzig hinzu, als sie meinen skeptisch ihr Outfit betrachtenden Blick auffing, das eigentlich ganz und gar nicht einer Winterwanderung entsprach, obwohl sie ansonsten dafür berühmt war, immer genau dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein. Ihre Winterstiefelchen waren angesichts der bereits liegenden Schneeberge viel zu niedrig und ihr eleganter Steppmantel ohne Kapuze würde ihr trotz des mitgebrachten Schirms angesichts des im Licht der Autoscheinwerfer in alle Richtungen wirbelnden Schnees auch nicht viel Schutz bieten. Aber sie war fest entschlossen, jetzt eben zu Fuß zu gehen, wenn es der Taxifahrer schon ablehnte, uns zumindest bis zum Planötzenhof hinauf zu fahren, womit sie eigentlich gerechnet hatte. Denn hinauf musste sie, da half alles nichts.
Dass es eine weise Entscheidung gewesen war, zeigte sich schon nach der ersten Kurve der schmalen Straße, die mit den hängen gebliebenen Autos vieler Kirchgänger völlig verstopft war. Und obwohl in unserer Beziehung sonst immer Hilde den Ton angab und diejenige war, die voraus preschte, musste sie sich diesmal damit abfinden, Schritt um Schritt den breiten Fußspuren zu folgen, die meine Winterstiefel für sie im immer tiefer werdenden Schnee hinterließen. Meinen warmen roten Schal hatte ich um ihre blonde Föhnfrisur gewickelt und mit Hilfe der dankbar angenommenen Wanderstöcke gelang es ihr ganz gut, sich aus den tiefen Schneelöchern, in die man ab und zu hineinrutschte, wieder heraus zu manövrieren. So ging es höher und höher, zuerst dem Waldrand entlang, wo die weite Weiße der Planötzenhof- Wiese etwas Licht spendete. „Da drüben habe ich Schi fahren gelernt“, zeigte ich hinüber auf die im Schneetreiben kaum sichtbare steile Wiese, die für die Höttinger Kinder in der Not der Nachkriegszeit eine viel bevölkerte Gratisschiwiese gewesen war. Der Kommentar von hinten war nur undeutlich zu verstehen.
Der Schnee rieselte wie im berühmten Weihnachtslied, wir stapften und stapften und endlich hatten wir die Anhöhe des Planötzenhofs erreicht. Aber jetzt führte der Weg in die Dunkelheit des Waldes hinein und die einzigen Anhaltspunkte würden für mich die durch den ständig fallenden Schnee kaum mehr erkennbaren Fußspuren der längst vorausgegangenen Kirchgänger und die weit verstreuten Kreuzwegsstationen sein. Niemand sonst war mehr unterwegs und vermutlich hatte die Christmette bereits begonnen. Tief hingen die Äste der Bäume unter ihrer schweren Last über den Weg, dunkler und dunkler wurde es um uns herum und wenn man sich gelegentlich aufrichtete, um festzustellen, ob man wohl noch am richtigen Weg war, verursachte einem der wirbelnde Schnee ein leichtes Schwindelgefühl. Die mitgebrachte Taschenlampe brachte eigentlich keinen großen Vorteil, da sie für die außerhalb ihres winzigen Lichtkegels Gehenden die Welt nur umso dunkler machte. So stapften wir ohne Licht den Berg hinan und mit der Zeit gewöhnten sich die Augen immer besser an die Dunkelheit. Ab und zu mussten wir stehen bleiben, wenn sich vor uns ein Ast seiner allzu schwer gewordenen Last durch ein Schulterzucken entledigte und sie in Form einer kleinen Staublawine zu Boden schickte. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, wie schön es doch wäre, alles Belastende und allzu Schwere auch einfach abschütteln zu können. Aber dann trieb uns Hilde gleich wieder zu mehr Tempo an und verscheuchte alle philosophischen Gedankengänge.
„Du kennst Dich schon noch aus, wo wir eigentlich sind?“ fragte sie an einer besonders dunklen Stelle plötzlich und das im etwas strengen Ton, den sie gelegentlich anschlug, wenn sie einen Innsbrucker Bürger bei einer Unbotmäßigkeit erwischte.
„Hilde, da heroben bin ich mit sechs Jahren beim Turnverein Friesen Hötting mein erstes Schirennen gefahren“ erklärte ich ihr mit einem eigentlich gar nicht vorhandenen, aber doch ziemlich echt klingenden Selbstvertrauen. Wenn man ihr schon etwas vormachte, dann musste es nach meiner Erfahrung absolut hundertprozentig klingen, denn was das anbetraf, war sie extrem hellhörig. Unsicherheiten erkannte sie sofort und ahndete sie gnadenlos.
„Das sagt so gut wie gar nichts“, meinte sie nur, „und, wie weit ist es noch?“
„Jetzt kommt gleich eine Weggabelung, danach wird der Weg flach und dann sind wir da“, erklärte ich mit Nachdruck, musste ich mich doch in erster Linie selbst überzeugen, dass wir in diesem Schneechaos nicht verloren gegangen waren. Als wir zur Stelle kamen, wo sich der Kreuzweg mit dem Stangensteig vereinigt, um sich gemeinsam gegen das einsame Kirchlein hin zu wenden, kamen plötzlich durch den Wald schwankende Lichter auf uns zu und warfen einen goldenen Schimmer durch die tief verschneiten Bäume. Auch aus Richtung Gramart kamen verspätete Kirchgänger mit ihren Laternen und plötzlich lag mit dem von Kerzen hell erleuchteten Kirchlein und dem Weihnachtsbaum davor ein so atemberaubend schönes Bild vor uns, dass sogar Hilde, die uns wie ein Turbodüsenantrieb in Rekordzeit herauf gejagt hatte, von seinem Zauber wie gebannt kurz stehen blieb.
Als wir den Rand der überraschend großen Menschenmenge erreicht hatten, die hier heroben mit dem Bischof die Christmette, die bereits ziemlich fortgeschritten war, feierte, putzte ich Hilde trotz ihrer abwehrenden Bewegung rasch die dicke Schneehaube von ihrem roten Schal. Und plötzlich, obwohl sie überhaupt nichts dazu tat, öffnete sich vor ihr wie durch Magie eine Gasse, durch die sie in Richtung des im Freien aufgebauten Altars verschwand, genau wie es die alten Höttinger Sagen von den Saligen Fräulein erzählen, die unverhofft auftauchten und genau so auch wieder zu verschwinden pflegten. Und als der Bischof durch den verzauberten Winterwald sein „Der Friede sei mit Euch“ sprach, da hatte ich ein so warmes weihnachtliches Gefühl, wie schon seit Jahren nicht mehr, obwohl ich allmählich zu frösteln begann.
Zum Glück hatten die Wirtsleute des Planötzenhofs ihre warme Wirtsstube für die vielen Herbergssuchenden, die nach der Messe vom Berg wieder hinunter ins Tal wanderten, gastfreundlich geöffnet und so konnten wir uns dort aufwärmen und trocknen, bevor wir wieder in die Stadt zurückkehrten, was uns mit Sicherheit einen Weihnachtsschnupfen oder Schlimmeres ersparte.
Als Hilde am Rand der Altstadt aus meinem Auto ausstieg, meinte sie, plötzlich ganz entspannt und fröhlich, „So, und morgen früh werde ich als erstes gleich unseren Christbaum aufputzen“. Dazu war sie nämlich vor lauter Terminen noch nicht gekommen, obwohl sie ein ausgesprochenes Faible für dieses Weihnachtsattribut hatte. Dafür durfte er dann aber auch bis Ende Jänner stehen bleiben, obwohl er außer Kugeln und Lametta fast nichts mehr auf seinen kahl gewordenen Zweigen vorzuweisen hatte. Aber Hilde hatte bei vielen Dingen des Lebens eine sehr vom Schema abweichende Betrachtungsweise.
Obwohl ich mir bei der nächsten Gelegenheit gleich eine Laterne zulegte, um ähnliche Pannen künftig zu vermeiden, und es Hilde trotz ihrer schweren Erkrankung gegönnt war, noch einige Weihnachtsfeste erleben zu dürfen, zur Christmette am Höttinger Bild sind wir nie mehr gegangen, weil immer etwas anderes wichtiger war. Viel zu früh hat sie uns verlassen und der Gedanke lässt mich nicht los, dass sie eigentlich genau so still und geheimnisvoll aus diesem Dasein ins jenseitige verschwunden ist, wie man es den Saligen Fräulein nachsagt. Jahr für Jahr stelle ich am Heiligen Abend die brennende Laterne vors Haus, damit Hilde sehen kann, dass ich an sie denke. Denn das unfassbare Geschenk der Freundschaft kennt, so wie der Wunsch nach Frieden auf dieser Welt, kein Ablaufdatum.
Gerda, das hast du schön geschrieben. Ich kannte/kenne Euch beide und spüre, wie tief du die Situation empfunden hast und anerkenne, wie authentisch Du sie uns beschreibst. Gutes GESUNDES 2021. Hubert