Ulf Poschardt
Was ist aus uns geworden? Sind wir ein Witz?
Ein Blick über die Grenze

Die Beschlüsse des Kanzler-Ministerpräsidenten-Direktoriums belegen: Deutschland versagt. Die Regierenden, eine Kohorte überforderter Krisen-Nichtbewältiger, entfernen sich in der Pandemie immer weiter vom Wahlvolk.

Wenige Stunden nach der Beendigung des Kanzler-Ministerpräsidenten-Direktoriums öffneten wieder Hunderte von Impfzentren in der Republik, und überall waren Termine frei: nicht einer oder ein paar Dutzende. Sondern Hunderte, Tausende. Und eine Impfstofflieferung nach der anderen brandet an. Über Ostern sind etliche Impfzentren geschlossen.

Die unbrauchbare Logik der Impfreihenfolge lähmt genauso wie der bürokratische Wahnsinn für Ärzte, die Unmöglichkeit, Haus- und Betriebsärzte jetzt schon einzubinden. Lieber wegschmeißen, als der Bürokratie nicht gerecht zu werden. 87-Jährige, die einen Zettel vergessen haben, werden vom Impfzentrum wieder weggeschickt.

Deutschland versagt. Und es versagt auf eine Weise, die seit 1945 unbekannt war: Es ist ein Versagen der Institutionen und der Regierungen, aber vor allem besteht dieses Versagen in dem Unvermögen, sich durch die Erschütterung einer Krise zielgerichtet neu zu erfinden. Es ist die Endmoräne jener entmündigenden Staatsgläubigkeit, die eine einst liberale Union mit einer staatsnostalgischen SPD aufgeschüttet hat.

Diese große Koalition hat nur einen gemeinsamen Glauben: den an den Status quo und die Heiligkeit des Staatlichen. Das hat die Republik verändert. Nun, wo die Eigenverantwortung denunziert und der Freiheitsliebende verunglimpft ist, stehen die staatsgläubigen Bürger ungläubig vor den Ruinen ihrer Konfession und hadern.

Dass der Staat nicht alles kann, wussten mündige Bürger immer schon. Dass er in dieser Krise fast gar nichts kann, überrascht selbst staatsskeptische Liberale. Das Versagen der Regierung ist das eine, die Impfstoffbeschaffungsblamage bei der EU das andere, aber die Ansammlung der Ministerpräsidenten als eine Kohorte überforderter Krisen-Nichtbewältiger raubt auch treuesten Anhängern der Berliner Republik Restvertrauen.

Die Dreistigkeit, mit der ein Versager wie Berlins Regierender Bürgermeister den Unternehmen die Testpflicht rüberschubst, während auch in seinem Bundesland Unternehmen längst darum betteln, ihre Mitarbeiter impfen zu dürfen, ist ebenso spektakulär wie das Witzereißen der Ministerpräsidenten-Pfeife aus Thüringen, während sein Land mit der höchsten Inzidenz gesegnet ist.

Wenn dann auch ein vernünftiger Landesvater wie Stephan Weil erklärt, die Ruhezeit über Ostern für den Aufbau eines ambitionierten Testregimes zu nutzen, wird es bitter. Nach einem Jahr. Um uns herum testen die Dänen und Österreicher rund um die Uhr.

Auf philosophischer Ebene verdüstert sich das Bild ins Unheilvolle. Deutsch war, aus Niederlagen zu lernen. Und aus der Schmach in einer Schubumkehr die Erfolgskatharsis erwachsen zu lassen. Nichts davon passiert jetzt.

Es ist ein Abwärtssog dilettantischer Politik, Verwaltung und des oft genug hilflosen Beamtentums. Ein komplexes System, das nicht mehr mit anderem als mit Umschreibungen des eigenen Betriebssystems auf Krisen reagieren kann, hat wenig Zukunft. Der Bürokratismus, der seelenlose Popanz des Datenschutzes, die Bräsigkeit der Gesundheitsämter – all das verdichtet sich zu einer Inkomptenzokratie, die unsere Institutionen delegitimiert.

Angela Merkel begeht nach 2015 ihren zweiten kategorialen Fehler und riskiert einmal mehr, dass die wohltemperierte demokratische Schwingung im Land ins Toxische kippt. Sie führt nicht, sondern wird vorgeführt von einer Notlage, der sie zuletzt nie annähernd Herr (oder Frau) geworden ist. Das Staunen über die Naturwissenschaftlerin, die weiß (wow!), wie eine Exponentialfunktion berechnet wird, weicht einem Unverständnis bei ihren treuesten Fans, den Grünen und den Journalisten.

Während es 2015 unmöglich schien, die Außengrenzen zu schützen, wird jetzt der freiwillige Hausarrest ernsthaft als Mittel der Politik verstanden. Der Hashtag #WirBleibenZuHause wirkt ebenso albern wie die Verheißung von „Ruhetagen“, wo die Menschen nichts mehr wollen als ihr Leben zurück. Auch intakte Familien können nicht mehr: Es fehlt die Perspektive, die Zuversicht, der Glaube an ein Ende.

All die falschen, dröhnenden Versprechen, wann es wie wieder besser wird, haben Glaubwürdigkeit zersetzt. Die gestanzten Formeln in den Pressekonferenzen haben mit der Sprache und der Gefühlslage der Menschen nur wenig zu tun.

Die natürliche Autorität ist verdampft: Die Mächtigen sprechen mit den Ohnmächtigen und Machtlosen, die ihr Glück, ihren Job, ihren Frieden verlieren. Drastische Entscheidungen gegen das Wahlvolk zu treffen, geht in einer liberalen Demokratie nicht lange gut. Deutschland kann glücklich sein, dass die Populisten links wie rechts so unbeliebt und indiskutabel sind.

Statt über das Impfen zu sprechen, sprechen die Mächtigen über Reisen nach Mallorca und das Schließen der Supermärkte am Gründonnerstag. Noch schlimmer aber ist der kaputte Bürokratismus beim Impfen. Die Papierkriegsführung, das Erklärvideo: Das einst gut gemeinte Gesundheitssystem und die beamtokratische Verkomplizierung ins Planwirtschaftliche erscheinen mörderisch. Die ganze Welt staunt über den mangelnden Pragmatismus der Deutschen. Wir agieren wie eine Karikatur.

Das Land muss grundsätzlich anders verwaltet, geführt, gedacht werden. Kein Wunder, dass die McKinseys in allen Ministerien sitzen: Der Beamtenstaat ist weder im 21. Jahrhundert angekommen, noch hat er das Personal oder die Strategie dafür.

Es bräuchte jetzt eine liberale Partei mit 20 Prozent, um den Staat schlanker, agiler, hungriger zu machen. Das Problem bei dieser aktuellen Regierung ist: eine bis auf die FDP noch hüftsteifere Opposition. SPD und Linke wollen noch mehr Staat, noch mehr Umverteilung, noch mehr lähmende Gleichheit.

Der Staat muss kleiner werden. Es müssen ihm Mittel entzogen werden. Die Steuersätze müssen sinken, Bürgerämter ebenso privatisiert werden wie das Gesundheitssystem. Die staatlichen Überbaulyriker im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie in den Kulturinstitutionen, die den Etatismus in die kulturelle DNA der Republik hineinideologisiert haben, sollten beschnitten werden.

Die Staatskrise ist auch die Krise unterlassener Kritik und dysfunktionaler Kontrollsysteme. Deswegen interessiert sich auch niemand für die Anliegen der Selbstständigen und der Unternehmer, der Hoteliers und Gastronomen, der DJs und Barleute. Weil: am Ende alles Privatwirtschaft. Ihren Anfang nimmt dieser Geist in den Schulbüchern, in denen Manager und Unternehmer vor allem als Probleme und Schurken auftauchen.

Einer unserer Korrespondenten in den USA, Steffen Schwarzkopf, wurde diese Woche in Maryland geimpft. Im Drive-Through. Er hat es für uns gefilmt. Er musste das Auto nicht verlassen, Ärmel hoch, desinfizieren, Spritze in den Arm. Fertig.

2,5 Millionen Amerikaner werden pro Tag geimpft. Preußisch organisiert, hätte man früher gesagt, bald steht das wohl eher für chaotischen Dilettantismus mit Freiheitsentzug. Unsere Korrespondentin in Israel ist ebenso geimpft, der in Marokko schon längst. Was ist aus Deutschland geworden?

Wir danken Ulf Poschardt, Chefredakteur von Welt N24, für die freundliche Zurverfügungstellung seines Artikels und Andreas Altmann, Rektor des MCI Innsbruck, für das Herstellen des Kontaktes.

Ulf Poschardt

Ulf Oliver Poschardt ist ein deutscher Journalist und Autor. Geboren am 25. März 1967, Nürnberg, Deutschland. Ausbildung: Humboldt-Universität zu Berlin (1995). Seit 2016 ist er Chefredakteur von WeltN24. Von 1996 bis 2000 arbeitete er als Chefredakteur des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Von 2005 bis 2008 war Poschardt Gründungs-Chefredakteur der im Februar 2007 erstmals erscheinenden deutschen Ausgabe von Vanity Fair.[13] Poschardt verpflichtete den Schriftsteller Rainald Goetz für einen täglich erscheinenden Blog unter dem Titel Klage, den Goetz 2009 als Buch veröffentlichte.

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