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Reinhold Knoll
Über Europa
1. Teil:
Europa versus Abendland
Essay

Die Entstehung eines Begriffs

Der geographische Begriff Europa ist relativ jung. Erst im 16. Jahrhundert löste er den geläufigeren Begriff Abendland ab. Seither ist das Abendland die Bezeichnung eines Subkontinents, aber nicht als astronomischer Ordnungsname, der in der Spätantike den Okzident vom Orient unterschied, sondern subkutan wird dem Abendland eine besondere kulturelle Einheit zugeschrieben. Innerhalb dieses Ordnungssystems betreiben wir bis heute Architektur-, Kunst- und Musikgeschichte.

Dieses Abendland als kulturelle Einheit begann sich recht schnell gegenüber anderen politischen Landschaften abzugrenzen, auch wenn sie, geographisch gesehen, ebenfalls zu Europa gehörten. Auslösendes Moment war das morgenländische Schisma von 1054, welches das Ost- vom West-Christentum trennte.

Speziell im 19. Jahrhundert wird das Abendland dann ein soziokultureller Begriff, ein Deckname für die gewünschte politische und feudale Einmütigkeit, die es 1000 Jahre zuvor rund um Karl dem Großen bis zum Sachsen-Kaiser Otto dem Großen gegeben haben soll. Allerdings war dieser historische Ordnungsbegriff von der Gegenüberstellung des west- und oströmischen Reiches übernommen worden.

Es war ausgerechnet im 19. Jahrhundert die Vorstellung verbreitet, das alte Abendland sei stets gefährdet gewesen, würde immer das Ziel von Okkupationen sein, die allesamt aus dem Osten heranziehen. Das gefährdete Abendland wurde ab nun der Topos und die Legitimation für alle möglichen oder gedachten Totalitarismen oder Irrationalitäten.

Mit der Erfindung der race – Rasse – im 18. Jahrhundert erhielt die mondäne Erfindung des Abendlandes in der Romantik eine zusätzliche anthropologische Besonderheit. Das lässt sich gut anhand des Wiener Streits in der Ur- und Frühgeschichte während des Jahres 1930 erkennen. Da gab es im Donauraum dann keine slawischen Gräber mehr, bestenfalls keltische, überwiegend natürlich germanische. Der Streit entzündete sich an der Interpretation der Schrift des Eugippius de vita Sancti Severini um 500, ob der Heilige in Mautern – Favianis – oder in Heiligenstadt – heute ein Stadtbezirk in Wien – beerdigt wurde. Das mag heute verwunderlich klingen, war damals jedoch eine Grundsatzdebatte, an der bereits die Neigung zur Deutschtümelei der Alt- und Frühhistoriker zu erkennen war.

Nun war das Abendland nicht erst durch das osmanische Reich bedroht worden, daher war der besondere Grenzschutz oder die Wache an der Militärgrenze des Heiligen Römischen Reiches den Serben bis ins 18. Jahrhundert übertragen worden. Das hatte man ihnen nie gedankt und ist die Grundlage des eigensinnigen Weges Serbiens in Europa bis heute.

Um 1900 wurde das Abendland dann der politisch-historische Konkurrenzbegriff zu Europa. Dazu gehört nicht nur die verbreitete Untergangsstimmung, die sich ausgerechnet in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen 1891 durchsetzt, sondern insgesamt hatte Oswald Spengler noch weit vor Ortega y Gasset oder Miguel Unamuno der allgemeinen Mentalität entsprochen. Wenn sich auch das Buch von 1912 nicht ausdrücklich einer aktuellen Untergangssituation verschrieben hatte, so passte es gut zur Stimmungslage vor dem 1. Weltkrieg.

Die Abgrenzung zwischen Abendland und Europa ist nötig, um den Konkurrenzbegriff Europa neu zu bestimmen. Er entstammte der Renaissance. In ihr war Europa ein erneuerter politischer Mythos, der mit dem Raub einer phönizischen Königstochter entstand. Allerdings verhieß die griechische Wurzel des Wortes nichts Gutes: Europa ist von erebos abgeleitet und bedeutet das Dunkel.

Dass man in der Renaissance von dieser jungen Dame beeindruckt war – die sich halb freiwillig, halb genötigt rauben ließ – entspricht der allgemeinen Hinwendung zu antiken Mythen. Europa war also ein Kunstbegriff, der erstmals unter Maximilian I. für eine Zeitschrift verwendet wurde: Theatrum Europaeum. Darin waren die neuen Theaterstücke für die fürstlichen Bühnen rezensiert worden. Gemäß dem Renaissancehumanismus war diese Zeitschrift sehr schnell das Maß für alle literarischen Produktionen geworden. Bis Karl V. fand sie Verbreitung. Zur gleichen Zeit waren die Entdeckungsfahrten intensiviert worden, die nun recht eindeutige Interessen ökonomisch-kolonialer Hintergedanken zu erkennen gaben. Eine neue Abgrenzung war nötig geworden: die Neue Welt.

So gelangte Europa als Begriff in die moderne Kartographie. Ebenso schnell wurde der Begriff in die politische Sprache integriert. Das war auch bitter nötig, denn inzwischen war die historische Einheit der West-Christen in den politisch-theologischen Differenzen zu Grunde gegangen. Es gab keine Christenheit als Pluralitandum mehr.

Der Begriff Europa war zwar 1530 ein Singular, bezeichnete aber eine Vielheit. Trotz der schrecklichen inner-europäischen Kriege war der Begriff unbeschadet hervorgetreten und vermochte sogar 1648 die Übereinstimmung in einem Völkerrecht nach Hugo Grotius finden. Zwar wurde nach eius religio, cuius regio vorgegangen, was Goethe zu Hermann und Dorothea anregte – die Auswanderung der Exilanten von Salzburg nach Preußen -, doch war es ein Schritt, der die Qualifikation zum Bürger nicht mehr nach der Konfession regelte. Es war dann das Toleranzpatent von Josef II. 1781, das hier im Grunde auch eine Desakralisierung des Staates bewirkte.

Zu diesem Zeitpunkt war Europa formell vorhanden, allerdings als nichtssagende Umschreibung, die sich von Asien abgrenzte und die afrikanischen wie arabischen Mittelmeerküsten nicht zu seinem Bestand zählte, obwohl diese in der pax Romana früher einbezogen waren.

Dieser Werdegang eines Begriffs sagt noch wenig über den Inhalt aus.


Was macht also Europa aus?

Womit kann Europa identifiziert und nicht mit Nord- oder Südamerika verwechselt werden? Was unterscheidet Europa von Asien, von China, Indien, Japan oder dem Iran?

Eindeutige Merkmale lassen sich zusammenfassen: Europa definieren das englische Parlament, die Pariser Sorbonne, die römische Kurie und der ehemals preußische Generalstab. Mit Hilfe dieser Institutionen kann man die Ursachen der unzweideutigen Besonderheit ermitteln.

Im Überblick kann man die Ermittlung dort beginnen, wo auf der einen Seite Kontinuitäten abgebrochen wurden, andererseits haben sich unter neuen Voraussetzungen neue Merkmale entwickelt. Es sind die Zäsuren in der europäischen Geschichte, die Europa zu bestimmen begannen.

Die erste Zäsur war wohl das Schisma 1054, nach dem sich die Ost-Kirche aus dem Prinzip der Einheit löste. Von da an wendet sich die orthodoxe Welt einem anderen Strukturprinzip zu – dem Caesaropapismus. Sofort zu erkennen ist der eklatante Gegensatz im Vergleich zwischen der Ikonographie zwischen byzantinischer Provenienz über Kiew, Nowgorod, Moskau und der innovativen Protorenaissance bei Duccio, Cimabue und Giotto.

Die nächste Zäsur, die dann das Abendland nachhaltig veränderte, war der Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst um 1077. Hierauf spaltete die Reformation die Christenheit und die Einheit Europas muss ab nun durch übereinstimmende und gültige Merkmale in Kunst, Wissenschaft und Recht kompensiert werden. Dies ist das Ergebnis der geschichtsphilosophischen Untersuchungen von Alois Dempf in der Unsichtbaren Bilderwelt.

Die vierte Zäsur war durch die englische Revolution 1666 verursacht worden. Die fünfte Zäsur vollzog die französische Revolution. Sie ist bis heute der nachhaltigste Einschnitt in die Geschichte Europas geblieben, wie erst unlängst die Veranstaltung zur Eröffnung der olympischen Spiele 2024 in Erinnerung rief. Diesen Zäsuren folgen die bürgerliche Revolution 1848 und die russische Revolution 1917.

Zu diesen Qualifikationen für die spezielle europäische Geschichte ist zu erklären, dass hier jeweils neue Konstellationen entstanden, die die weitere Geschichte Europas bestimmten. In der Reformation war die römische Kirche ihrer Universalität verlustig gegangen, was die längste Zeit nicht wahrgenommen wurde. Ebenso hatte die französische Revolution politische Paradigmen geschaffen, die zwar in der politischen Reaktion verzögert wirksam wurden, doch letztlich nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten. Eine neue politische Universalität war geschaffen worden, die sich in den Kategorien der Freiheit und Gleichheit zur Geltung brachte.

Nun ging es im Investiturstreit nicht nur um die Trennung zwischen weltlichem Reich und Unabhängigkeit der Kirche. Die Bündnisse sind ja mehr als komplex, denn hier verbinden sich die Fürsten mit dem Papst gegen den Kaiser und dort wollen die Bischöfe ihre Autorität in den Diözesen bewahren, was sie vom Kaiser erhoffen. Bedeutsam sind die Berührungspunkte. Während die vielen Kaiser ihren Bruch mit Byzanz, also von Otto III. bis Heinrich V., eher verdrängen wollen, also das Abendland konstitutiv politisch begründen und noch im Zusammenhang mit der spätantiken Geschichte sehen, bleibt der Papst in der Ostkirche präsent, ja im schrecklichen Schisma erklärte Rom recht selbstbewusst die Illegitimität des getauften Cäsaropapismus von Ostrom.

Dante hatte immer wieder betont, dass in dieser Dimension Rom die Freiheit als Gewissensfreiheit zu formulieren begann. Daher können wir von einer Papstrevolution sprechen, die sich im Wormser Konkordat 1122 auch behauptet, nämlich in der Fortsetzung der Idee paulinischer Freiheit, die jetzt nicht nur als Freiheit in der Kirche dem Kaiser abgerungen wurde, sondern insgesamt wird in der Vermönchung der Laien eine geistige Selbständigkeit angestrebt und politische Unabhängigkeit denkbar, die später in der Reformation ab Jan Hus um 1400 immer neu eingeklagt werden wird.

Fortsetzung nächste Woche Mittwoch

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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