Reinhold Knoll
Dichter-Tische
für Wiens Caféhäuser
Eine Initiative gemeinsam mit Stephan Eibel
Die Reiseführer für Wien empfehlen Zehntausenden Touristen, sollten sie die Stadt kennen lernen wollen, müssen sie die Lipizzaner gesehen haben, das Sisi-Museum und das Riesenrad im Prater. Kulturelle Eckpunkte der Stadtgeschichte sind im Zentrum die Kaffeehäuser, am Stadtrand die Heurigen. Ohne Nussberger Riesling könne niemand Wiener Musik verstehen, dafür sind Beethoven und Franz Schubert oder Toni Karas auf der Zither im Dritten Mann unverzichtbare Zeugen.
Und da zu lesen ist, dass unter anderem Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Anton Kuh, Peter Altenberg oder Felix Salten, der Autor von Bambi, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr im Café anzutreffen waren, so muss man auch dort hin als müsse man einer Parole folgen und sich ein Losungswort merken.
Im Café Museum verkehrte Ludwig Wittgenstein oder im Cafe- Restaurant Meissl und Schadn der Ministerpräsident Karl Stürgkh. Dort aß er noch in Ruhe am Neuen Markt 1916 zu Mittag, ehe er von Fritz Adler erschossen wurde, dem Sohn des Gründers der sozialdemokratischen Partei.
Stürmen die Touristenscharen das Café Central, weil dort einmal Leo Trotzki die Zeitungen las? Die Touristen fallen in die Innenstadt-Cafés ein, verlangen wie weiland Wittgenstein Brandteigkrapfen, oder bestellen wie Hermann Broch den Capuccino und sind enttäuscht. Im Café bemerken sie, Wien ist nicht Hollywood und Wein kein Bourbon-Whisky und Deutsche ätzen sowieso Jahr für Jahr über Wien, da sie noch immer nicht ihr Kännchn Káffe koffeinfrei erhalten.
Der Grund, weshalb renommierte Reiseführer vom Kaffehaus schwärmen, liegt an der Blüte der Wiener Literatur zwischen 1890 und 1925, für die das alte Wiener Café das Marmortischchen anbot, zum Kaffee ein Lexikon bereit hielt, Zeitungen in Fülle oder aktuelle Literatur für schnelle Information. Selbstverständlich gab es Tinte und Papier.
Damals trafen einander im Café Landtmann die Heroen der Sozialwissenschaften, Max Weber und Joseph Schumpeter, um über den Fortgang der russischen Revolution zu debattieren. Daraus wurde ein handfester Streit, der sonst besonnene Max Weber stieß das Marmortischchen um und stürmte aus dem Café – ohne zu zahlen. Bezahlt hatte dann Ludo Moritz Hartmann, Historiker und Gründer der ersten Wiener Volkshochschule in Ottakring 1907.
Im Café verkündete Karl Kraus seine vernichtenden Urteile, so über Werfels Lesung – der Werfel hat gefallen – habe sich aber 1901 nach Aussage von Hermann Bahr aus Angst vor einer Ohrfeige zurückgezogen. Adolf Loos ließ vom Café Museum aus Josef Hoffmann wissen, dass in der Architektur nur Grabmal und Denkmal als Kunst gelten.
Dieses bewegte Leben suchen die Touristen und hoffen, in den schmuddeligen Tapeten die letzten Spuren von Tinte und Streit zu erkennen. Eine gleiche Bedeutung wie das Café für Wien hatte das Café Schindler fürs Bürgertum in Innsbruck, wurde aber 1938 arisiert und damit zerstört.
Das Wiener Café als Institution für Literatur war kurz nach 1945 schnell erwacht, war aber nicht robust genug. Die Literatur erhielt im Hawelka ihr Eigenleben durch H.C. Artmann, Heimito von Doderer, Hilde Spiel und Friedrich Torberg. Mit der Schließung des Café Herrenhof 1961, wechselte die Architektur-, Malerei- und Literaturszene ins Hawelka. Bald wurden die Dukatenbuchteln um Mitternacht von neugierigen Deutschen gegessen und selbst Helmut Qualtinger fand keinen Platz mehr.
Diese zahllosen Details zeigen an, dass es bis weit in die 70er Jahre noch ein reges Wien-Leben gegeben hat. Ob es auch zur Kultur gehörte, darüber darf gestritten werden, doch wo soll man streiten? Heute sitzen auf den früheren Stammplätzen der Dichter, Kulturjournalisten, Regisseure, Schauspieler und Schriftsteller Touristen. Sie wundern sich, dass sie eine Schiftstellerin wie Ingeborg Bachmann nicht mehr sehen, keine Lyrikerin wie Elfriede Gerstl; es gibt keine Nachfolge an den runden Marmortischchen von Albert Paris Gütersloh, Andreas Okopenko oder Ernst Jandl.
Niemand fragte sich, auch nicht die offizielle Kulturpolitik, wohin dieses literarische Reservoir versickerte, wo die Autoren bleiben? Und die Antwort kommt nur zögerlich, denn sie stellt den Fremdenverkehr als Wirtschaftszweig in Frage: In welchem Café könnte heute ein Dichter in Wien noch Platz finden? Wo ein Dichter sitzt, könnte man zu Mittag den Tisch drei Mal vergeben. Der Dichter kostet und bringt nichts, lautet die Rechnung.
Im Frühjahr war eine Initiative entstanden, es müsse zumindest in den Kaffeehäusern der Innenstadt einen Dichter-Tisch geben. Die Klagen sind deutlich zu hören, wenn junge Schriftsteller eine Schreibunterlage suchen, ein Tischchen für erste Skizzen und Gedanken. Wo hätte Emil Orlik von Gustav Mahler, Rilke, Werfel die Portraitskizzen anfertigen können – wenn nicht im Café? Das alles ist heute undenkbar.
Millionen Touristen fallen über Europa her und vernichten diese merkwürdige Aura der Städte zwischen dem Unprätentiösen und höchstem ästhetischen Anspruch. Wie Bergbahnen und Skilifte der Natur die Unberührtheit rauben, die Stille, so raubt ein Fernseher die Konzentration im Café. Mit dem Tourismus sind andere Nutzungsvorstellungen kolportiert worden, die einerseits eine umgreifende Musealisierung bewirken, andererseits den Kitsch fördern.
Der Dichter-Tisch hat denn nicht die Funktion wie der Löwe auf dem Kalenderblatt in Christian Morgensterns Gedicht – wodurch er zu erinnern liebt, dass es ihn immerhin noch gibt…, sondern er gilt der Wiederbelebung der Kaffeehausliteratur, die nun in Wien seit Jahren heimatlos ist. Der Dichter-Tisch gilt nicht der Reminiszenz, dass früher die Zeiten besser waren, eine Lüge, die der Fremdenverkehr insgeheim insinnuiert, sondern räumt Autorinnen und Autoren wieder die Möglichkeit ein, bei einem kleinen Schwarzen zu denken, Gedanken auch nachzuhängen, die pittoreske Umgebung, die unterschiedliche Menschen automatisch inszenieren, zu studieren. Es soll wieder die Kontinuität der Kaffeehausliteratur geben, die in Wien mit der Ludlams Höhle in der Ballgasse begann und im Café Griensteidl zum Höhepunkt gelangte.
Das Griensteidl wurde zerstört, nachdem schon die Art sogenannter Revitalisierung den endgültigen Konkurs bezweckt hatte. Bewusst hatte man im Interesse von Fremdenverkehr und Ökonomisierung jenen Vierklang unterbunden, von dem Loos angeregt wurde, sein Loos-Haus zu bauen. Sein Haus sollte die Septima auf den d-Dur-Klang sein. Hofburg, ehemals Burgtheater, die Hofpfarrkirche Sankt Michael und Café Griensteidl umgeben das erste Bauwerk der Moderne in Wien.
Unter großer Mühe hatte man das Loos-Haus rekonstruiert. Im Auftrag Hitlers waren die Innenräume des Hauses gleich nach dem Einmarsch zerstört worden. Der Dichter-Tisch soll die Wiederherstellung des kulturellen Faktors der Literatur sein, was weitgehend fehlt. Es darf die Tradition der Literatur nicht durch eine Puppe veranschaulicht werden, nicht mit Peter Altenberg als Puppe.
Dieser Skandal, der bislang weder die Verantwortlichen für Kultur oder Denkmalpflege irritierte, noch die Kulturkritiker und andere Kulturträger, lässt tief blicken. Für den Dichter-Tisch wird es zum Thema: Die routinierte Gleichgültigkeit, die bei gutem Geschäftsgang das Gewissen und die politische Moral ersetzt.
Der Dichter-Tisch kann in Erinnerung rufen, was Willkür und Korruption für die Menschen bedeuten: sie werden zu Puppen oder zu Opfern. Da misslingt selbst die Akrobatik der Eröffnungsreden, da ist der Rütlischwur für Freiheit und Demokratie, für Kunst und Wissenschaft die blanke Lüge, weil eben die vorgetäuschte Wertschätzung einer Puppe gilt.
In ihr ist der Mensch zur Anonymität und Isolation verurteilt. Ein Objekt. Die Puppe steht am Anfang aller weiteren Installationen, mit denen Ai Wei Wei seinen Haftaufenthalt minutiös rekonstruiert: kein guter Start für Kaffee und Kuchen im Café Central…
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Ich möchte zwar nicht im Kaffeehaus schreiben, weil ich mich beim Schreiben manchmal daneben benehme (Nasenbohren, Darmwinde), aber grundsätzlich scheint mir eine Belebung dieser spezifisch wienerischen Dichtertischkultur wünschenswert. Allerdings lässt sich das schwer durchsetzen. Das muss von mehr als zwei Dichterinnen und Dichtern selber kommen, die müssen die Tische mit großer Selbstverständlichkeit besetzen. Auch die Grazer Kulturboheme lässt sich nicht einfach wiederbeleben, weil es keine Szenelokale mehr gibt. Auch die gemischten Milieus (Kunst, Subkultur, Halbwelt) gibt es nicht mehr. Die Lokale sind schlicht zu teuer.
Ein großartiger Text, der die einmalige Wiener Kaffeehauskultur beschreibt. Leider nur ihre Zerstörung beschreiben kann, mit einem Tenor von „Es war einmal…“ ; wie im Märchen. Die Idee ist super, die Utopie muß in Realität umgesetzt werden. Da muß etwas neu geschaffen werden: für jene, die hier leben (im Kaffeehaus). Und die Zerstörer, die z.B. das Café GRIENSTEIDL, eine kulturelle Einrichtung und ein Kommunikationsort ersten Ranges, zerstört haben, müssen benannt werden. Diese Profitgiergeier! Und ebenso jene, die nichts gemacht und alles versäumt haben und auf deren Seitenblicke-Partys gehen und dort ihre Visage in die Kamera halten und ihren Senf-Kommentar zu allem abgeben, deren Aufgabe aber der Schutz dieser Kulturgüter ist, die gehören als Kollaborateure mit ihrer Kulturlosigkeit an den Pranger gestellt. Schluss mit diesen Verhaberungen! Wer von den Kulturpolitikern hat sich denn damals beim Griensteidl öffentlich gegen diese Kultur-Zerstörung positioniert? Niemand! Das ist doch „dogoudant“! PPW, 31.7.2024