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Literarische Korrespondenz:
Ronald Weinberger an Elias Schneitter
Betrifft:
Retrogedanken eines Promenierers

Eine längst entspannte, in eine Rumpelkammer meines Gedächtnisses verräumte Saite brachte der Schneitter’sche Artikel zur Straffung und zum Klingen. Das Wort Flaneur bewirkte das. Auch wenn ich diesen Ausdruck eher selten vernahm, damals. Da war vom Promenieren die Rede. Von Alleen, entlang derer man sich diese lustbetonte Gemächlichkeit gestattete. Weiland.

Ist flanieren und promenieren eigentlich dasselbe? Dr. Google hilft. Ich gab die drei Wörter — Unterschied flanieren promenieren — ein und erhielt eine vom 20.06.2021 stammende Antwort: Das Lustwandeln, Schlendern ohne Ziel und Zweck, war lange Zeit ein Privileg der Aristokratie. Eine Sonderform ist das Promenieren, das langsame Gehen in Kurorten; dem stand das bürgerliche Flanieren gegenüber. Der Flaneur ist eine städtische Figur, sie lässt sich mit der Menge treiben. Aha!

Da ich eh einen Hang zum Lustwandeln habe – eine nicht untypische Folge höheren Alters (wobei ich aber, wie ich betont haben möchte, nicht an der Schaufensterkrankheit leide!) – und das Promenieren bevorzugen würde, wäre ich bloß in einem Kurort zuhause, so begnüge ich mich halt mit einer Mischform, denn mein Wohn-, sprich Heimatort (Zirl) hat durchaus gewisse kurörtliche Merkmale.

Kurort! Das ist das Stichwort, weshalb mich die Retrogedanken übermannen! Ich bin nämlich in einem richtigen Kurort geboren und aufgewachsen. Mit Kurpromenaden, Kuralleen und allem Pipapo.

Vor langer Zeit, als ich als Bub noch Stipsi geheißen wurde, bis hin zur Adoleszenz, die mich für einige Zeit zum Stips machte, gab es nämlich in unserem Kurort nebst den unvermeidlichen in zahlreichen Kurheimen untergebrachten Kurgästen eine erhebliche Menge privat anreisender und demgemäß privat oder in Hotels und Pensionen wohnhafter, sich der Gesundheit bemächtigen wollender Personen. Letztere eine Spezies, die seit langem so gut wie nicht mehr existiert. Zumindest in meiner Ursprungsheimat nicht: Bad Schallerbach.

Schon als Stipsi erfuhr ich – und spazierte nicht selten mit meinen Eltern dort entlang – von einer von Birken und so manchen Büschen gesäumten und mit mehreren Bänken, indes kaum Laternen, ausgestatteten Promenade, die im Volksmund Seufzerallee genannt ward.

Nun wusste ich wohl als Bub bereits, was seufzen bedeutete, hatte meine liebe Mama doch so manche Seufzer von Stapel gelassen, als ihr immer wieder einmal zugetragen wurde, dass sich mein Papa (Träger einer der einst ausgesprochen feschen Eisenbahneruniformen) aushäusig betätigt habe. War relativ häufig. Ich brauche dieses Geschehen nicht näher auszuwalzen.

Kurzum, das Wort Seufzerallee hatte für mich Stipsi einige Zeit lang einen negativen, später aber als Stips einen zunehmend interessanter werdenden Beiklang. Hatte meine Mama bereits früh dazu nur Andeutungen gemacht, wurde mein Papa dann relativ deutlich. Nein, nicht die in Heimen teilkasernierten Kurgäste waren es (die mussten ja zu abendlicher Stunde im Heim sein), sondern die privat untergebrachten Kurgäste, die an warmen Abenden und in lauen Nächten Unkeuschheit trieben. Dortselbst. Angeblich nicht zu knapp. So mancher Seufzer der Wollust soll derart laut gewesen sein, dass er bis in die anliegenden Wohnhäuser vernehmbar wurde.

Sie kennen doch den Ausdruck Kurschatten? So manche Kur hatte durch derlei Schatten eine spezielle Zusatz-Heilwirkung – und da Derartiges weithin bekannt war, wurden vor allem die eine Kur abgeschlossen habenden Damen angeblich nicht selten zuhause von kundigen Freundinnen bzw. Freunden mit dem Ausspruch: Na, hast ausg‘(h)(k)urt?! empfangen. 

Bleibt noch zu erwähnen, dass das Treiben entlang der Seufzerallee so gut wie keine demographischen Auswirkungen hatte, denn die beteiligten Personen – ich rede von den Damen – waren zumeist wohl nicht Jenseits von Gut und insbesondere Böse, aber nur selten noch in einem gebärfähigen Alter.

Ja, lieber Elias Schneitter, das hast du nun davon, von deinem Ausflug in die Gedanken- und Gesprächsfetzen emittierende Welt von Flaneuren. Ich bin freilich viel lieber Promenierer als Flaneur. Auch wenn man erstgenanntes Wort gar nicht im Duden vorfindet. Ein Promenierer kann sich nämlich ungleich besser vernehmlich machen als ein Flaneur. Des Stadtlärms wegen. Unter anderem.

Herzlich Ronald

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Elias Schneitter

    Hallo, lieber Ronald!
    Danke. Jetzt kenne ich mich aus mit dem Flaneur und flanieren. Ich mag die Bezeichnung, auch falsch verwendet, doch ganz gern.
    Wir wohnen/leben ja beide in Zirl und dass du unser Dörfchen mit „Kur“ in Verbindung bringst, das finde ich spannend. Hab ich noch nie so gehört, höchstens früher hieß es oft, „Traubenkur“, als in Zirl noch Wein angebaut wurde.
    Best
    Elias

  2. c. h. huber

    ein hoch auf die frau mama, die das im wörtlichen sinne häufige lust-wandeln des herrn papa ausgehalten hat und damit offenbar dem jungen ronald eine schöne kindheit und jugend bewahrte.

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