Literarische Korrespondenz:
Reinhold Knoll an Alois Schöpf
Betrifft:
Warum ich die Musik von Johann Strauß nicht mag.

Lieber Herr Schöpf,
in Ihrem Brief hatten Sie um eine Erklärung gebeten, meine Distanz gegenüber der Musik von Johann Strauß zu begründen. Gewiss ist vorauszuschicken, dass eine kritische Auseinandersetzung selbstverständlich auf der Ebene der Würdigung seiner kompositorischen Leistungen stattfindet. 

Seit Nietzsches Kritik an Richard Wagner ist es zulässig, nicht nur auf ideologische Bedrohungen aufmerksam zu machen, sondern gleichzeitig auch die verführerische Kraft der Klangästhetik näher zu betrachten. Es war das Verdienst von Theodor Adorno, trotz seines ambivalenten Verhältnisses zur Musik von Richard Strauss, an der Komposition orientierte Analysen zu schreiben, die den weltanschaulichen Gehalt in der genialen Ästhetik offenlegten. 

Während es in der Malerei und in der Architektur üblich ist, Kategorien klar zu bestimmen, die für die ästhetischen Aussagen die Grundlage bilden, werden vergleichbare Darstellungen der Musik, die ja immerhin zu hören sind, eher unterlassen. Es ist außerordentlich schwer, jetzt auch für die Musik ähnliche Beweismittel geltend zu machen, die in der Malerei sofort sichtbar werden – etwa in Jan van Eycks Gemälde zur Arnolfini Hochzeit 1434, das einen Unmenschen mit bitterster Ironie charakterisiert – oder warum Pieter Brueghel in seinen wichtigsten Gemälden nicht nur die gleichen Formate verwendete, sondern für die Darstellung zwei Fluchtpunkte wählte, die jeden Betrachter zum ruhelosen Blick nötigt.

Vielleicht kann man Franz Schubert einen ähnlichen Modus seines musikalischen Denkens zuordnen, da er in seinem Werk Aufklärung über die Aufklärung betreibt, wofür die Bezeichnung Romantik viel zu belastet ist. Und mit Franz Schubert, meinen viele, sind sie schon am Weg zu Johann Strauß. Leider stimmt das nicht. 

Gewöhnt an die volksmusikalischen Zitate in den dritten Sätzen der Symphonien Joseph Haydns, mit einiger Anstrengung wird diese moralische Imperative auch bei Beethoven nachvollzogen, geraten wir bei Schubert, dessen Musik sich gegenüber der musikalischen Metaphysik der Sitten deutlich emanzipiert, ins Bewusstsein der reinen Existenz. Es ist in den ersten Motiven in Schuberts Kompositionen eine Idee der Demokratisierung enthalten, wie es damals der Historiker Michelet formuliert hatte. Ohne diese ist das gesamte kammermusikalische Schaffen nicht zu verstehen. Es ist den Impromptus die Freiheit der Selbstbestimmung zu entnehmen, freilich mit Melancholie.

Der Wendepunkt zum Melancholischen ist die Verkündung vom Balkon der Basilika zu den Neun Chören der Engel am Hof in Wien 1806, dass das alte römische Reich am Ende ist. Ab nun muss die Musik im 19. Jahrhundert dem Bedürfnis nach Erinnerung und Sehnsucht entsprechen, womit das Verlorene in naher Zukunft für das Wirkliche genommen wird. In diese Welt schreibt später Adalbert Stifter dann den Nachsommer, das Plädoyer für Realpolitik eingebettet im Historismus der Museen und Sammlungen. Ohne diesen Roman wird man die Donaumonarchie nie verstehen.

Die Musik reflektiert dies in verschiedener Weise. Recht schnell decken Strauß Vater und Sohn die intimen, beunruhigenden Wortmeldungen in der Kammermusik zu, wie auch die volksmusikalische Bewegung von Carl Friedrich Zelter in Deutschland keine Nachfolge erhält. Zelter stirbt im gleichen Jahr wie Goethe 1832. In Wien komponiert Josef Lanner durchaus sozialkritische Musik, die zugleich die veränderte Arbeitswelt musikalisch kommentiert. Und für diese Welt von Gestern tritt die Oper ein: bald bietet sie sich zur nationalen Identifikation an, bald beschwört sie eine Idylle im Singspiel – bei Lortzing oder Carl Maria Weber. Der ungekrönte König wird nach 1848 Richard Wagner, den Hermann Broch treffend charakterisierte: Für Nietzsche war daher Wagner nicht ein Zusammenfasser und Erfasser der Epoche, sondern einer ihrer sie bedienenden Teile, ein ins Gigantische geratener Kleinkünstler, ein bloßer Opernkomponist, der sich zu einem Bruch mit der großen Operntradition erfrechte….

Was Wien nicht gelang, war Jacques Offenbach in Paris gelungen. In der Dichtung war es hingegen Johann Nestroy gelungen – in Freiheit in Krähwinkel etwa. Offenbach hat musikalisch-parodistisch den hohlen Pathos etwa Meyerbeers aufs Korn genommen  und die stereotype Seichtigkeit der italienischen Opera semiseria seit Rossini. Dagegen war das Musizieren in der Donaumonarchie spießbürgerlich geworden und die Staatserstarrung erhielt ihre Lockerung in der Unterhaltungsmusik. Wenn etwas einen Rang beibehalten konnte – wie etwa die neuen Wissenschaften -, dann wegen eines auseinanderstrebenden Konglomerats von Autonomien und Halbautonomien. So war die Donaumonarchie einerseits zur riesigen Dekoration geworden und fast hätte man stolz darauf sein können, hätte man nicht schon damals geahnt, dass in den meisten Entscheidungen nie die ökonomische Notwendigkeit diktierte oder gar die politische Vernunft, die regelmäßig am aufgeblähten Chauvinismus scheiterte.

In Wien war dank der Vorgeschichte die Einbildung institutionalisiert worden, nämlich eine Musikstadt zu sein, und sie prägte ein Publikum, das sich gegenüber der Musik so zu verhalten begann wie die meisten Besucher einer Buchhandlung: Sie schnüffeln in den Büchern herum, lesen Klappentexte, kaufen keines und lesen selbst die Bücher daheim nie zur Gänze, aber reden darüber, indem sie die Vorurteile anderer repetieren. Für diese Mentalität passten die musikalischen Skizzen in der Art von Walzer, Polka und Galopp, obendrein der Unterhaltung gewidmet, wie angegossen. Ein Walzer dauert eben nie länger als sieben bis acht Minuten. Er besitzt schon früh das Format eines musikalischen Cartoons und belastet nicht. Allerdings steht die Ausarbeitung auf der Höhe der Zeit, die Klangästhetik mag sich ebenbürtig anfühlen und der orchestrale Aufwand entsprach dem kulturellen Bewusstsein der Parvenü- und Pöbelmonarchien vor und nach 1848, denen Bismarck mittels seines Tricks des Schein-Föderalismus die Reichsgründung verdankt.

Wenn man wie Alfred Einstein schreiben darf, dass die Opera bouffe das korrupte Produkt einer korrupten Zeit ist, so blieb Offenbachs Musik dennoch sauber. Und Einstein setzte fort: ….wenn man ihn vergleicht mit einem seiner erfolgreichsten Nachahmer und Nachfolger, dem Wiener Walzerkomponisten Johann Strauß (1825 bis 1899), der, trotz der reizvollen „Fledermaus“ (1874), den Abstieg der späteren Operette in widerlichen Schlamm und Schmalz begründet hat, dann hat Offenbach sich nie der geringsten Laszivität schuldig gemacht.

Nun muss man diese Kritik nicht teilen und aus lokalpatriotischen Gründen wird man wohl oder übel auch einige gute Haare selbst bei Johann Strauß finden. Dass es diese gibt, hatten die Walzer- Bearbeitungen von Schönberg, Berg und Webern nachgewiesen, gerade weil sie das Klangbild durch Harmonium und Ziehharmonika dramatisierten und den glatten Klang der Violinen reduzierten. Durch diese Instrumente war das Weinerliche und Sentimentale wieder zu hören, das bei den gängigen Interpretationen einfach überspielt oder übergangen wird.

In diesen Bearbeitungen wird auch deutlich, was den späten Wiener Walzern fehlt. Sie machten nämlich aus ihrer Erfindungsgabe die Triebfeder der musikalischen Schöpferkraft. Damit verfielen sie der teuflischen Verführung, nämlich nur mehr zu erfinden – von Franz Lehar bis Robert Stolz, ohne einen geraden musikalischen Satz auszuarbeiten. Die andauernde Forderung und der quälende Zwang nach Erfindung von Melodien – bei Franz Lehar werden die Walzer und Polkas komponiert wie die Artikel im Tagesjournalismus – beides vollzieht sich ohne Gesetz und Ziel und entwindet sich jeder Form. Und wäre es ein schöpferischer Akt, so stellt sich die Forderung nach einem Ausdruck – eine ethische Forderung! – und verlangt in jeder musikalischen Situation des schöpferischen Bewusstseins nach dem Ziel und strenger formaler Bedingtheit. Dass diese Stringenz möglich ist, beweisen die Kirchensonaten Mozarts, die im engsten Raum voll gültige Sonatensätze präsentieren.

Nun könnte man beim Hören der Walzer diese scheinbare emotionale Schwerelosigkeit noch mehr genießen, würde in einem Gegenthema die Melodie einer Prüfung unterzogen. Das ist Dimitri Schostakowitsch in seinen frühen Walzern gelungen, die er ursprünglich als Filmmusik geplant hatte. Am Beispiel von Walzer Nr. 2 in c-Moll stellte der Komponist ein Thema in Es-Dur gegenüber, das er in 15 Takten zitiert, wobei das Tempo vom Allegretto poco moderato diktiert wird. Was dann diesem Ohrwurm zugefügt wurde, was ja bei Johann Strauß fast wie eine Verpflichtung gilt, kann man bei den Interpretationen von André Rieu ermessen. In 210 Sekunden kann man selbst diesen Walzer ruinieren.

Bei den großen Symphonien ist die emotionale Schwerelosigkeit oft die Voraussetzung für ernste Aussagen – etwa in Mahlers 4. Symphonie oder bei Antonin Dvoraks Symphonie der Neuen Welt. Es ist immer wieder der Fall, wenn etwa Beethoven in seiner 4. Symphonie für den dritten Satz einen Tango-Schritt vom Orchester verlangt, der dann in entsprechender Verzögerung seinen Elan verliert. In eine vergleichbare Problemlage kam Johann Strauß nie, da das sinnlich Wahrnehmbare zwar sofort an Prägnanz gewinnt, bereits im Auftakt, doch das Hin und Her der Bewegung bleibt im Grunde in dem von ihm selbst geschaffenen System gefangen. Der affektuelle Fluss schlüpft unbemerkt in den Charakter der Libido.

Ernest Ansermet merkte zu den Strauß´schen Walzern eine gegenteilige Meinung an: …wenn sie Gefühle aufkommen lassen (aber Gefühle ganz anderer Art), dann kaum in die Sentimentalität, denn das Gefühl bleibt hier aktiv, und es fehlt die Sinnlichkeit. Der herrschende Eros ist stark vergeistigt, und die Strauß´sche Melodik wahrt den Charakter des Gesanglichen.

Zu dieser Anmerkung ist hinzuzufügen, dass die Strauß´schen Walzer insofern sogar befremden, denn sie sind als musizierter Positivismus jener Tonpsychologie verpflichtet, die Carl Stumpf erfolgreich vertreten hatte. Und dieses Wissen wird von Johann Strauß bewusst eingesetzt, ja in den hunderten musikalischen Ideen wie in einer Test-Reihe durchexerziert. So ist die Bewegung im Unterschied zu Offenbachs Barcarole aus Hofmanns Erzählungen (1881) strikt gezirkelt. Ansermet setzt diesen Walzern die Kompositionen Chopins entgegen: Man wird sich darüber klar, wenn man an Chopins Walzer denkt, deren affektive Substanz und deren Stil viel bedeutungshaltiger und persönlicher sind. …und wenn man in seinen Werken eine Signifikation der polnischen ethischen Modalität sehen will, so muss man sagen, dass sich in seiner Persönlichkeit und in seiner ethischen Modalität das Polnische im besten Sinne ausgedrückt hat.

Nun ist es schwer, sich gegen die Erfolge der Strauß-Dynastie zu stellen, gegen den Neujahrs-Erfolg durchwegs schlecht dirigierter Walzer, die obendrein im Fernsehen durch besonders geschmacklose Tanzeinlagen während des Musizierens gestört werden. Seit Jahren ist dieses Konzert zum namenlosen Kitsch verkommen, ähnlich den Räumen vor dem Spiegelsaal im Schloss Schönbrunn, die mit Kaffeetassen und Sisi-Portrait, T-Shirts, Souvenir-Krims-Krams überfüllt sind. 

So ist es schwer, eine Kritik durchzustehen, da eine übergroße Mehrheit diesen Kitsch bereit aufnimmt und als historisches Bewusstsein internalisiert. Das alte musikalische Wissen scheint verloren: Die Transzendenz des musikalischen Ausdrucksaktes, in Stil und Form hörbar, verleiht dem Werk Dauerhaftigkeit, allerdings unter der Bedingung, dass die melodische Dialektik auf individuellen Motiven beruht.

Ich hoffe, in dieser knappen Skizze, meine Distanz zur Musik von Johann Strauß verständlich vertreten zu haben.
Mit lieben Grüßen Ihr
Reinhold Knoll


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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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