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Helmuth Schönauer
Der nüchterne Stammtisch
Stichpunkt

Am Sonntagsstammtisch des Bayerischen Fernsehens wird mit dem „Stammhirn“ über die vitalen Funktionen der Demokratie (Schlaf-Wach-Zyklus, Bewusstsein, Atmungskontrolle) diskutiert.

1.
Der Stammtisch als männlich-rustikale Einrichtung im Dorfwirtshaus ist mittlerweile ausgestorben und lebt höchstens noch als von links zitiertes Genre fort, wenn, grob und alkoholisiert, politisch unkorrekte Botschaften getätigt werden.

Als authentische, an der Mainstream-Peripherie angesiedelte Medien-Box zum Austausch von Gedankengängen sorgt der Stammtisch freilich weiterhin für intellektuelles Vergnügen. Letztlich hat jedes digitale Diskussionsforum Züge eines Stammtisches.

Ein bemerkenswertes Exemplar dieses modernen Debattenforums stellt Sonntag für Sonntag das Bayerische Fernsehen in die Bildschirme. Zeitgleich zum moralisierenden Sitzkreis des ORF, Pressestunde genannt, buhlt um 11.00 Uhr der Stammtisch aus München um die Gunst der nach Gedanken dürstenden Tiroler – und wer einmal in die Gunst dieser Sender-Auswahl gekommen ist, wird ein Leben lang beim Bayerischen Rundfunk bleiben.

Der Stammtisch aus Bayern setzt sich aus fünf Personen öffentlichen Interesses zusammen, die reden können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Drei davon sind aus dem Pool der Stammgäste geschöpft, zwei werden als Überraschungsgäste eingeladen. (Nach diesem Konzept ist übrigens bei etwas augenzwinkernder Auslegung auch der schoepfblog angelegt.)

2.
Der mediale Hintergrund für den Bayerischen Rundfunk ist von zwei Extremen geprägt. Auf der einen Seite spielt der gelernte Journalist Markus Söder als Bayerischer Ministerpräsident medial so gut wie alle Stückeln. Er gilt als Meister der Selbstinszenierung auf allen Kanälen, und sein politischer Inhalt besteht vor allem aus der Vokabel trendy. Er nimmt den Zeitgeist nicht nur wahr, er macht ihn auch fallweise, wenn man nur daran denkt, dass er den Niedergang der deutschen Grünen lange vor dem Wärmepumpendesaster geahnt und durch Abwendung geahndet hat.

Auf der anderen Seite steht die Süddeutsche Zeitung, die manchmal als über-aufgeklärtes Blatt gehandelt wird, weil sie nicht nur Fakten, sondern auch betuliche Moral liefert. Zudem leidet sie als liberale Zeitung unter einem angekratzten Selbstwertgefühl: denn die echten Liberalen sitzen seit Jahrhunderten in Hamburg. Und in München passiert es eben leicht, dass dann ein Bierkrug quer durch den intellektuellen Gedankenkeller spaziert.

Umso höher ist die Leistung der öffentlich rechtlichen Anstalt BR zu werten, eine aufregende Nachrichten-Mitte zu vermitteln. Der Stammtisch kann dabei als das Meisterstück angesehen werden: hier zeigt sich nämlich im Voraus, wie die Nachrichtenlage demnächst ausfallen wird. (Der Stammtisch entwickelt so wie der schoepfblog eine kritische Diskussionsmasse, der man beim Gären zusehen kann.)

3.
Am Beispiel Ukraine zeigt sich quer durch Europa, dass etwas im Gange ist. Die Fügung Frieden wird dabei als Kampfvokabel verwendet, weil noch nicht klar ist, wo der Diskurs hinführen soll.

Im Bauchgefühl der Massen rumort es freilich, und sei es nur, dass es viele nicht mehr aushalten, dass man Waffen in die Ukraine schickt und von dort immer mehr Frauen und Kinder kommen, weil es aussichtslos ist, zu kämpfen. Die Szenarien reichen von einem Attentat auf den Präsidenten über überlaufende Oligarchen bis hin zu einem Kraftakt Trumps, der in afghanischer Manier über Nacht die Unterstützung abzieht. (Im Stammtisch geraten ähnlich wie im schoepfblog dann solche Gedanken aneinander)

4.
An brisanten Themen, die verschiedene Entwicklungsstände eines Konflikts repräsentieren, zeigt sich die Qualität der Diskussion.

Für schopfblog-Diskutierende vielleicht die schöne Formulierung aus der Mediation: Beim Verhandeln geht es nicht darum, was der Sieger kriegt, sondern welche Geschichte man dem Verlierer anbietet, damit er in Würde aus der Sache herauskommt.

An einem Sonntagsstammtisch im Juli 2024 sind die Wirtschaftsjournalistin Anja Kohl und der ehemalige Kanzlerkandidat Armin Laschet kurz aneinandergeraten, weil nicht klar war, ob man die Putin-Versteherin Sarah Wagenknecht in Talkshows einladen soll oder ob nicht auch sie mit einem Boykott belegt werden sollte.

Das Publikum war überwältigt von der Emotionalität dieser Auseinandersetzung und unentschieden in der Beurteilung der Standpunkte. Das gehört eben auch zu einem nüchternen Stammtisch, dass man auseinandergeht mit dem Wissen: man wird noch einmal darüber reden müssen. Aussitzen und zammsitzen, heißt die Parole.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Susanne Bauer-Schramm

    Lieber Herr Schönauer,
    vielen Dank für Ihren Artikel über den Stammtisch aus Ihrem Blog. Schön und gut zu wissen, dass unsere Sendung in Österreich so viel Beachtung findet. Ich leite ihn gerne an unsere Redaktionsleitung weiter. Welche Reichweite haben Sie denn mit Ihrem Blog?
    Wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer und freuen uns, wenn Sie am Sonntag, den 13.10, wieder zur gewohnten Sendezeit um 11.00 Uhr zu uns schalten.
    Freundliche Grüße
    Susanne Bauer-Schramm im Namen der Redaktion, Bayerischer Rundfunk

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