Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer bespricht:
Max Schneider
Perchten und Bräuche zur Mittwinterzeit

Als hätten es die Vorfahren geahnt, dass es einmal das Fernsehen gibt, haben sie schon in der Steinzeit damit begonnen, eigenwillige Gestalten und Tänze zu entwickeln. Nach fünfzig Jahren Fernsehen gibt es keinen Flecken Welt mehr, der nicht unter dem Argus-Auge von Ethnologen und Volkskundlern abgefilmt und zu einem prächtigen Bildschirmereignis gemacht worden wäre.

In Tirol kommt verschärfend dazu, dass die abgefilmten Bräuche längst Inventar des Tourismus geworden sind, sodass man auf Anhieb nicht sagen kann, ist es jetzt ein Marketing-Ereignis oder eine althergebrachte Sitte, welche die Menschen auf die Straße treibt.

Max Schneiders Spezialgebiet ist der Zusammenhang von Wohnen und Brauchtum. Die Beschäftigung mit Perchten führt zu interessanten Einsichten. So finden intime Bräuche wegen der modernen Wohnverhältnisse nicht mehr im Haus, sondern auf der Straße statt, wo sie ein gefundenes Fressen für die Vermarktung werden. Dieses Phänomen ist überall auf der Welt zu beobachten, dass nämlich das Intime ins Öffentliche wechselt und anschließend globalisiert wird.

Das Universalbuch „Perchten und Bräuche“ deckt drei Absichten ab:
a) es ist wissenschaftlich originär und mit Quellenverzeichnis, Glossar und Fußnoten ausgestattet,
b) es spricht ein Fachpublikum an, indem es Tipps für die Vorbereitung von Umzügen gibt bis hin zur Frage, warum man heute überhaupt „perchteln“ soll,
c) es wendet sich an den interessierten Konsumenten, der, nachdem der Umzug an ihm vorübergegangen ist, wissen will, was er da überhaupt gesehen hat.

Das umfangreiche Fotomaterial spricht alle drei Klientels an, es ist zudem äußerst aktuell, wie etwa eine Aufnahme des bayrischen Ministerpräsidenten zeigt, der mit Wappen-bestickter Schutzmaske unterwegs ist.

Wie es sich für ein Nachschlagewerk geziemt, sind darin historische Entwicklungen verzeichnet, die Geschichte der Perchten im Alpenraum, ihre Verästelungen und Sackgassen. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt im Zillertal, Alpbachtal und in den Innauen von Breitenbach.

Als Grundinformation sollte man vielleicht wissen, dass die Perchte der im Buch ausgewählten Gegenden weiblich ist, auch wenn dahinter Männer stecken. Das Geschlecht der Perchte ist ein eigenes Kapitel. Bildet sich ein Rudel, welches das Brauchtum für einen Umzug materialisiert, nennt man es eine „Pass“. Ein wichtiges Element ist das „Anschwärzen“ (38), wobei das Gesicht mit Russ und ähnlichen Kreationen geschwärzt wird. Das Anschwärzen ist älter als der Sklavenhandel in Amerika, weshalb alle falsch liegen, die hinter einem Russgesicht ein Blackfacing vermuten. (Es gehört zum Wesen des Brauchtums, dass man sich heutzutage dafür entschuldigen muss.)

Die Übergänge von Perchten zu Masken sind fließend, spätestens aber dort, wo Halloween-Horror über das Gesicht gezogen wird, ist der Brauch verlassen, könnte man sagen.

Der Autor widmet sich durchaus Entgleisungen und zeigt dabei ein Foto aus einem Hotel in Alpbach, wonach Perchten unerwünscht sind, weil sie offensichtlich in früheren Jahren die Gäste belästigt haben.

Auch die diversen Kleidungsstücke aus Kunststoff, Trachtenfetzen oder Stoffreste aus dem Souvenierladen taugen nicht gerade für einen seriösen Auftritt. Denn die Perchten sind mehrfach gefährdet. Aus Unwissenheit und Geschäftstüchtigkeit entsteht öfters eine touristische Saufgelegenheit, bei der es die Beteiligten nicht mehr genau nehmen mit der archaischen Herkunft des Ganzen.

Da die Mittwinter-Zeit modern gedeutet heute die fünfte Jahreszeit im Tourismus ist, wird das Brauchtum locker indoor in die Kitzlöcher des Landes implementiert. Daraus resultiert auch das Bestreben, die Aufführungszeit so zu verlagern, dass sie zur Geschäftssaison passt.

Das wichtigste war früher einmal der Lärm, der mit dem Treiben einhergeht. Seit aber überall im Land durchgehender Lärm herrscht, macht es wenig Sinn, noch zusätzlichen zu erzeugen. (Vielleicht hilft eines Tages die E-Perchte und sorgt für Aufmerksamkeit.)

Aber die Perchten sind es gewohnt, dass man ihnen an den Kragen will, schon die Kirche hat alles unternommen, um sie klein und traurig zu halten, je nach Regime wurden sie in das Parteiprogramm einverleibt, oder so lange gefördert, bis alles handzahm war. Das Überleben eines Brauches ist ja das eigentliche Thema der Umzüge und Auftritte!

Gegen Ende des Bandes ist noch einmal eine intensive Fotostrecke ausgelegt, an der man das bisher Gelesene überprüfen kann. Und das abschließende Glossar bereinigt alle Zweifel.

Das Buch ist mit einem „mobilen Inhaltsverzeichnis“ ausgestattet, das sich als Lesezeichen verwenden lässt. So ist garantiert, dass man als Leser wenn schon nicht zu einem Fachmann, so doch zu einem interessierten Zuschauer heranreifen kann.

Max Schneider findet für sein informatives Werk einen animierenden Ton, mit dem er das alles erzählt und dokumentiert. Er lässt immer durchschimmern, dass man nicht als Perchte vom Himmel fällt, sondern dass man neugierig sein muss, wenn man hinter die Mysterien blicken will. Denn vieles, was Autor und Leser am Ende des Buches fragen, wissen auch die Perchten selber nicht.

Max Schneider: Perchten und Bräuche zur Mittwinterzeit. Abb.
St. Johann: Verlag Hofinger 2021. 352 Seiten. ca 400 Farbfotos. EUR 39,90. ISBN 978-3-9504205-9-3.
Max Schneider, geb. 1952 im Zillertal, ist Ethnologe und Volkskundler

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar