H.W. Valerian
Ist die Freiheit das höchste Gut?
Essay
Da fühlte sich eine Nachrichtensprecherin bemüßigt, einen Beitrag mit eben diesen Worten einzuleiten: „Die Freiheit ist das höchste Gut“.
Mir wackelten die Ohren.
Wie kann man so etwas sagen?
Gut, die Dame ist bloß Sprecherin, da muss man nicht weiß Gott wie gebildet sein, weder geschichtlich noch politisch oder philosophisch. Obwohl – als Journalistin empfindet sie sich ja doch. Und dann – vor Hunderttausenden, womöglich einer Million Zusehern? Da würde man sich doch ein bisschen mehr Umsicht erwarten, ein bisschen Nachdenklichkeit.
Wobei ihr immerhin zugute gehalten werden kann, dass sie bloß das sagt, was alle denken; nach-denken im wörtlichen Sinne (sie denken das nach, was andere ihnen vorsagen). Wir leben in einer Umwelt, in der solche Ansichten zur Selbstverständlichkeit gehören. Ähnliches gilt für die Segnungen der Globalisierung oder das nutzbringende Wirken von Konkurrenz. Von der verborgenen Wohltätigkeit eiskalt geraffter Milliarden erst gar nicht zu reden.
Trotzdem wackeln einem die Ohren, wenn man das so plötzlich hingeknallt bekommt: „Die Freiheit ist das höchste Gut.“
Man versuche einmal, sich das konkret vorzustellen. Schauen Sie sich doch um in Ihrem Leben, werte Leserin, werter Leser: Wohnung, Heizung, Einkommen – alles sekundär? Die Freiheit ist das höchste Gut? Ergo müssten wir um der Freiheit willen bereit sein, all das frohen Herzens aufzugeben?
Rechtssprechung, Gesundheitswesen, soziales Netz, wenn’s einmal nicht so gut läuft? Nichts da. Die Freiheit, meine Lieben, die ist das höchste Gut! Und da hab’ ich noch gar nicht von Dingen geredet, die bei uns selbstverständlich geworden sind: Friede zum Beispiel. Sagen Sie das mit dem höchsten Gut doch einmal den ausgebombten, gehetzten Bewohnern von Aleppo! Oder aber die materielle Lebensgrundlage, die primitivste meine ich. Sagen Sie das doch einmal einer verzweifelten afro-amerikanischen Mutter im Ghetto einer amerikanischen Großstadt. Freiheit hat die wahrlich genug!
Wir wollen nicht weiter auf solchen Dingen herumreiten. Es dürfte ausreichend klar geworden sein: Die Freiheit allein ist nicht das höchste Gut. Sie kann es nicht sein. Der Satz ist in dieser Form Unsinn.
Aber was? höre ich fragen. Soll die Freiheit nichts wert sein? Was ist mit all den Märtyrern, die ihr Leben für die Freiheit geopfert haben?
Besagte Freiheitshelden müsste man uns erst einmal nennen, damit wir uns ihre Motive genauer ansehen können. Grundsätzlich lässt sich sagen: So lange Freiheit nicht gegeben ist, so lange um sie gekämpft wird, mag sie wirklich als höchst erstrebenswert gelten. Daher auch unsere Helden, unsere Märtyrer. Allerdings muss nationale Freiheit nicht automatisch individuelle Freiheit mit sich bringen. Es kann auch das Gegenteil eintreten.
Außerdem ist es, solange man noch um die Freiheit kämpft, nicht nötig, genauer nachzufragen. Das kommt erst, wenn der Sieg errungen ist. Denn dann erweist sich, dass die Freiheit eigentlich hohl ist.
Jawohl, hohl!
Was mach’ ich mit ihr?
Die vormaligen Kampfgefährten gehen getrennte Wege: nationalistisch, konservativ, sozialistisch. Das ist unausweichlich. Meine Generation hat das sehr anschaulich an der polnischen Solidarnosc studieren können. Bis heute kommen praktisch alle führenden Politiker des Landes aus der Bewegung, vom liberalen Donald Tusk (Ministerpräsident 2007–2014, danach Präsident des Europäischen Rates) bis hin zum katholisch-nationalkonservativen Jaroslaw Kaczynski (Ministerpräsident 2006–2007, Vorsitzender der derzeitigen Regierungspartei PiS, dzt. Vize-Ministerpräsident).
Einfach nur „frei“ geht nicht. Wer so was vorgaukelt, der tut dies mit Absicht – mit böser Absicht, dürfen wir getrost annehmen. Wer von Freiheit redet, muss dazu sagen, was er damit anfangen will. Tut er’s nicht – so wie die heutigen Liberalen –, dann sollten wir ihn dazu zwingen.
So, wie wir leben – das gründet sich auf eine Vielzahl von „Gütern“: Wohlstand, soziale Absicherung, Fairness, Gleichheit (vor dem Gesetz zum Beispiel). Man kann argumentieren, dass unser Lebensstandard nur in einem freien Staatswesen möglich sei, und ich werde dem nicht widersprechen. Es wird nur vergessen, dass er nicht durch die Freiheit an sich herbeigeführt wurde.
„Die politische Freiheit ist wie die Luft“, soll unser doppelter Staatsgründer Dr. Karl Renner einmal gesagt haben. „Man kann nicht von ihr leben, aber noch weniger ohne sie.“ Ich persönlich hätte das umgedreht: Man kann vielleicht nicht ohne Freiheit leben, aber von ihr ganz gewiss nicht. Doch mit derlei Kleinigkeiten wollen wir uns nicht aufhalten. Vielmehr soll noch eine letzte Frage beantwortet werden:
Welches ist nun das höchste Gut?
Meine zögernde, vorsichtige Antwort: Wenn’s so etwas überhaupt gibt, dann wahrscheinlich die Lebensqualität. Die dürfte letztlich das Entscheidende sein. Bloß ist sie kein Gut an sich. Sie bedarf eines gut ausgewogenen Zusammenspiels verschiedener Güter, und das Gewicht dieser Güter wird sich ständig verändern. Ich würde in diesem Zusammenhang von einem „Parlament der Werte“ sprechen. Die Freiheit gehört da zweifellos dazu. Aber die absolute Dominanz eines einzelnen Gutes – ganz egal welches – kann nur zur Verminderung der Lebensqualität führen.
Und deshalb wackelten mir die Ohren, als die Nachrichtensprecherin… Na ja, Sie wissen schon.