H.W. Valerian
Brecht, nach Westen blickend.
Essay
Da steht er, der große Meister, im Garten seiner Villa in Ostberlin, Zigarre im Mund, und schaut – nach Westen.
Zumindest seh’ ich ihn so vor meinem geistigen Auge. Die Villa hat er vom Regime der DDR bekommen, klar, samt Garten, was für ein Privileg! Zusammen mit einem kompletten Theater inklusive Geld für vertrackte Produktionen. Der Goldene Käfig.
Aber er schaut nach Westen. Er beobachtet scharf, was dort vor sich geht, kritisiert es scharfzüngig, in geistvoll-dialektischer Anwendung von Marx, Engels und Lenin.
„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Im Westen!
Was hinter seinem Rücken liegt, das nimmt er nicht wahr. Nie, gar nie verliert er auch nur ein Sterbenswörtchen darüber. Das endlose Massaker seit der so genannten Oktoberrevolution von 1917 (eigentlich der Putsch einer verschworenen, skrupellosen Bande). Heute ist uns das bekannt und, wie ich hoffe, auch bewusst. Gerade dieser Tage: Die Zwangskollektivierung in der Ukraine (1929–1933), die zwischen 5 und 9 Millionen Todesopfer forderte.
5 bis 9 Millionen!
Und dann der Große Terror, ebenfalls etliche Millionen. Und so weiter. Die Geschichte der Sowjetunion bietet sich dar als eine Geschichte von Terror, Folter, Lagerhaft; schlimmer noch: von Massenvertreibung, Massenverhaftung, Massenvernichtung. Das zog sich hin bis nach dem Zweiten Weltkrieg.
Aber nein – dazu hat Brecht nichts zu sagen. Nicht einmal verdrehte Zweideutigkeiten. Nichts.
Doch halt – das ist jetzt vielleicht unfair.
„Unsere Gegner sind die Gegner der Menschheit“, hat er einmal geschrieben (in den Anmerkungen zur Mutter). „Sie haben nicht ‘recht’ von ihrem Standpunkt aus: das Unrecht besteht in ihrem Standpunkt. Sie müssen vielleicht so sein, wie sie sind, aber sie müssen nicht sein.“
Das ist – wenn Sie mich fragen – die Verharmlosung von Massenmord, wenn nicht gar die Aufforderung zu selbigem, obgleich dieses Mal nicht in Form des Genozids, sondern in Form des Soziozids. Nicht Rassenvernichtung, sondern Klassenvernichtung.
Brecht hat immer bestritten, jemals Mitglied einer kommunistischen Partei gewesen zu sein. Daher das kategorische Nein vor dem House Committee on Un-American Activities. Dieses Nein ist in die Literaturgeschichte eingegangen. Ach, die ungebildeten Amerikaner, wie können sie nur so primitiv fragen! Brecht wird bis heute für seine Antwort bewundert, und dass sie einmal öffentlichkeitswirksam hinterfragt worden wäre, das ist mir bis dato noch nicht untergekommen.
Aber selbst wenn es vereinstechnisch zuträfe, dass er nie irgendeiner kommunistischen Organisation angehört habe, so enthält die Antwort doch eine gigantische Lüge. Brecht war deklarierter Kommunist; er diente als Aushängeschild, als Star der Propaganda; er unterstützte die jeweilige Parteilinie, ließ niemals einen abweichenden Standpunkt verlauten. Wenn überhaupt, erfolgte das vielleicht im privaten Kreise in fein geschliffenen, fünffach geschraubten dialektischen Sentenzen. In der Öffentlichkeit galt er als deklarierter Parteigänger, ganz ohne Wenn und Aber. Wer, bitte schön, wenn nicht er?
Aber seine Version des Kommunismus gestaltete sich akademisch ebenso wie literarisch vollkommen pur. Massaker, Inhaftierung, Folter, Deportationen: das kam da nicht vor. Das war alles im Land hinter seinem Rücken geschehen, davon nahm er nichts zur Kenntnis. Hätte ja auch schlecht zusammengepasst mit seiner Verehrung der „Klassiker“, mit seiner Vorstellung vom Klassenkampf, mit seiner Weltsicht schlechthin. Eines der gigantischsten Menscheitsverbrechen, nicht bloß des 20. Jahrhunderts – und er hatte nichts dazu zu sagen.
Bei westlichen Intellektuellen, Literaten, Germanisten, Kritikern, Verlegern – da genoss er höchstes Ansehen und genießt es bis heute. Fast schon ein Heiliger, eine Ikone. Manche seiner Aperçus gehen geradezu automatisch über die Lippen:
„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“
Hat sich je irgendwer überlegt, wie dieser Satz wirkt, wenn er auf Brecht selbst angewandt wird? Es mag wohl sein, dass er die Wahrheit nie ausgesprochen als Lüge bezeichnet hat (obwohl man sich da ohne entsprechende Recherche nicht so sicher sein sollte). Aber was ist mit dem, der die Wahrheit weiß, sie aber konsequent verschweigt?
Brecht gilt als der denkende Mensch schlechthin; dessen Leben, wie Max Frisch einmal beobachtet haben will, in einem Ausmaß vom Denken bestimmt wurde, das einmalig gewesen sei.
Wozu Friedrich Dürrenmatt anmerkte:
„Brecht denkt unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt.“
Bertolt Brecht, „[Aus den] Anmerkungen zur »Mutter«“, Über Politik auf dem Theater, hgg. von Werner Hecht (edition suhrkamp 465, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1971), S. 30–36; 33.
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