Franz Tschurtschenthaler
Südtirol ohne Maske
Achter Brief

Liebe Leserinnen und Leser!

Vor kurzem habe ich mich in Grund und Boden geschämt. Schuld war die Sache mit den Keksen. Den Weihnachtskeksen, um genau zu sein. Es gab in meiner Firma eine kleine Adventfeier – selbstverständlich im allerkleinsten Kreise und absolut Corona-konform, mit Abstand und Maske. Die Weisung war, jeder solle etwas mitbringen, damit es auch für den Gaumen feierlich werde. Und weil ich selbst des Backens nicht mächtig bin und meine Frau berufstätig ist und in dieser Zeit stressbedingt Besseres zu tun hat als Kekse zu fabrizieren, erstand ich diese beim Konditor. Sie waren perfekt geformt, wunderbar geschmückt und ansprechend verpackt. Um ehrlich zu sein – ich war sogar ein bisschen stolz auf meinen Einkauf und freute mich auf die entzückten Gesichter des Kollegenkreises.

Aber als ich dann zu besagter Stunde ahnungslos die Kekspackung aus dem Papiersack zog und auf den zum Buffet umfunktionierten Schreibtisch stellte, trafen mich die Blicke der Kolleginnen wie Nadeln. Eine von ihnen griff schließlich mit spitzen Fingern nach einem Zimtstern, knabberte ein bisschen daran und sagte, wie nebenbei: „Oh, vom Konditor…“. Dann machte sie eine lange Pause, während ihr Blick über den Rest der mitgebrachten Köstlichkeiten schweifte – alles offenbar in Handarbeit hergestellte, hausgemachte Plätzchen. „Eh nicht so schlecht“, fügte sie gönnerhaft hinzu, um dann nachzulegen: „Naja, WIR machen unsere Weihnachtskeksln natürlich selber. Deine Frau nicht?“. Peinliche Stille legte sich über den Raum, aller Augen wanderten von den Konditorkeksen zu mir und wieder zurück. Ich murmelte irgendwas von „waren zu gut, sind leider schon alle aufgegessen“ und stürzte mich auf den Punsch.

Die Gespräche des nachmittäglichen Stelldicheins drehten sich ab sofort nur mehr um die Herstellung von Essen – die weiblichen Anwesenden übertrumpften sich gegenseitig mit Schilderungen, welche Lebensmittel bei ihnen zuhause in Eigenproduktion hergestellt würden. Die Palette reichte von Hollundersaft (aus selbstgepflücktem Hollunder) über Brot und Marmelade bis zu Dörrzwetschken, Pelati (gekochten Tomaten) und saurem Eingelegtem. Dabei war es offenbar die wichtigste Voraussetzung, dass alle Zutaten aus der unmittelbaren Umgebung kamen, also aus dem eigenen Garten oder Feld; alles andere war unzulässig bis absolut abzulehnen. Ich lauschte staunend. „Natur pur“ schien hier wohl die Devise zu sein. Meine mitgebrachten Süßigkeiten konnte ich übrigens nach der Feier – bis auf das eine, von der Kollegin angeknabberte und dann wieder weggelegte Keks – unversehrt wieder einpacken und mit nach Hause nehmen (meine Kinder waren entzückt). Es muss nicht weiter erwähnt werden, dass alle anderen Blechdosen, Teller und ähnliche Behälter mit Hausgemachtem hingegen restlos leergefegt waren.

Als ich dieses Erlebnis abends meiner Frau erzählte, lachte sie nur bitter auf. „Das ist ja noch gar nichts“, legte sie los und erzählte mir, wie sie von den Südtiroler Müttern geächtet worden sei, weil sie die Babynahrung für unsere Kinder nicht mühevoll selbst hergestellt, sondern im Drogeriemarkt gekauft hatte. Ein absolutes No-Go hierzulande, wie sich damals herausstellte. „Wie kannst du deinen Kindern nur dieses künstliche Zeug geben?“, war einer der harmloseren Kommentare an meine Frau. Und „Bist du zu faul zum Kochen? Du vergiftest deine Kinder ja!“ einer der weniger liebevollen. Apropos vergiften: Dieselbe Reaktion ernteten wir übrigens, als wir bei einem Elternabend harmlos plaudernd erzählten, wir würden unsere beiden Kids gegen alles impfen lassen, wogegen es Impfstoffe gebe. Ich kann mich noch gut an das entsetzte Schweigen erinnern, das sich im Saal ausbreitete. Bis dann eine Mutter endlich meinte: „Wieviel Angst muss man denn haben, um seinen Kindern das anzutun?“.

Tatsächlich ist Südtirol ein Land der Impfskeptiker. Laut einer Studie des Bozner Meinungsinstituts Apollis standen 2017 rund 30 Prozent der befragten Eltern dem Impfen ihrer Kinder skeptisch bis ablehnend gegenüber – der überwiegende Teil von ihnen war deutschsprachig. Die Durchimpfungsraten bei den Südtiroler Kindern sind demnach durchaus mangelhaft, obwohl ohne zehn Pflichtimpfungen eigentlich ein Ausschluss von Kindergarten, Schule oder Betreuungseinrichtung die Folge ist. Als im Jahr 2017 das entsprechende staatliche Gesetz in Kraft trat, das zudem auch Geldstrafen vorsieht, wenn man diese verpflichtenden Impfungen bei den Kindern nicht durchführen lässt, drohten sogar 130 Südtiroler Familien medienwirksam damit, in Österreich um Asyl anzusuchen. Letztendlich kam es aber nicht soweit, denn bis letzten Sommer wurden von den gewieften Eltern immer wieder Schlupflöcher gefunden, um einen Ausschluss und weitere Sanktionen zu umgehen. Dann wurde die Gangart verschärft: Das Landesamt für Prävention, Gesundheitsförderung und öffentliche Gesundheit forderte die Bildungsdirektionen und die Familienagentur, welche die Betreuungsdienste für Kleinkinder koordiniert, auf, die geltenden Vorschriften in aller Strenge anzuwenden. Daraufhin holten viele Eltern denn doch in aller Eile das Impfen der Sprösslinge nach, um sie auch weiterhin in die diversen Einrichtungen schicken zu dürfen.

Wie’s um die Impfmoral bei einer eventuellen Impfung gegen COVID-19 bestellt sein wird – so sie denn einmal bereitsteht und Italien die organisatorische Herausforderung schafft -, das ist fraglich. Oder auch nicht, denn die Skepsis der indigenen Südtiroler scheint auch hier wieder durchzuschlagen. Als das Online-Portal „Südtirol News“ Ende November eine Spontanbefragung seiner Leser*innen startete, ob sie sich gegen Corona impfen lassen würden, antworteten 32 Prozent der über 12.000 Teilnehmer, sie wollten nichts davon wissen. Weitere 35 Prozent wollten vorerst noch etwas abwarten. Ich stelle mich mal darauf ein, dass Corona sich hierzulande noch etwas länger breitmacht…

Ihr Franz Tschurtschenthaler

Franz Tschurtschenthaler

Franz Josef Tschurtschenthaler wurde 1980 im Schweizer Kanton Appenzell Ausserrhoden geboren und studierte Agrarwirtschaft. Zunächst war er als Agronom in Hundwil tätig, bis ihn sein Schicksal ereilte und es ihn auf den Spuren seiner Urahnen nach Südtirol verschlug. Schuld war nicht etwa die Liebe, sondern ein sehr interessantes, wenn auch nicht wirklich lukratives Arbeitsangebot. Seither wirkt Tschurtschenthaler im Spannungsfeld zwischen Bozen, Kaltern und Meran, wo er bei seiner Arbeit viel Gelegenheit hat, die Seele und Gepflogenheiten der Südtiroler zu studieren. Wenn er nicht seinem studierten Beruf nachgeht, frönt er seinem Hobby – dem Verfassen von Kommentaren, bei denen er sich selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstverständlich schreibt er genau deshalb unter Pseudonym, um dem Los seines Vorgängers im Geiste Carl Techet zu entgehen. Solange ihm dieses erspart bleibt, lebt Tschurtschenthaler mit Frau und Kindern irgendwo in Südtirol.

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