Egyd Gstättner
Noch einmal am stillen Ort oder: Wahr aber wurscht.
Versuch über das Lektüreabenteuer der „Obstdiebin“ von Peter Handke

Ob man recht hat oder nicht / Kollegen schmäht man nicht.
Ich weiß, ich weiß. Aber wer hat bloß das infame Gerücht in die Welt gesetzt, Künstler seien Kollegen? Wir sind Bestien.

„Muss Literatur zwangsläufig gut sein, wenn sie von Massen gelesen wird?“, schrieb mir ein Leser und fragte mich: „Muss Literatur umgekehrt zwangsläufig schlecht sein, wenn sie nicht von Massen gelesen wird?“ Beides hatte ich in meinem Essay aber gar nicht behauptet. Ich hatte lediglich eine kleine Liste großer Autoren zusammengestellt, die gestorben waren, ohne den Nobelpreis bekommen zu haben: Franz Kafka oder Leo Tolstoi (auch wenn der am Lebensende gaga geworden war), Doderer oder Bernhard, Mark Twain oder Philip Roth, Astrid Lindgren oder Eugène Ionesco, Ödön von Horvath oder Friedrich Dürrenmatt, Tschechow oder Bulgakow, Fernando Pessoa oder Italo Svevo, Ibsen, Wedekind, Màrai, Musil, Polgar und und und…

Und ich hatte in diesem Essay, der – anders als der Leser vermutete – keine Satire war: Wie konnte er jenseits bedingter Reflexe bloß darauf kommen? – Politik hin, Platitude her, Milošević hin, Serbien her – für literarische Geschmacksargumente und Textkritik und Austausch von reinen Lektüreabenteuern plädiert und behauptet, niemanden zu kennen, der Handkes „Obstdiebin“ nach Seite 20 nicht weggelegt oder weiterverschenkt hätte. In seinem Postskriptum outete sich der Leser als der Eine, der in meinem Bekanntenkreis gefehlt hat: Er habe nicht nur 11.400 Seiten Handke (gerade eben: Noch einmal für Thukydides), sondern auch die „Obstdiebin“ bis zum Schluss – mit großem Vergnügen! – ausgelesen und stünde für Textkritik zur Verfügung.

Um Himmels und der „Obstdiebin“ Willen! 11.400 Seiten Handke? Bleibt da überhaupt noch Zeit für Bernhard? Und für die restliche Literatur von Tolstoi bis Cervantes, von Pessoa bis Svevo und von Unamuno – und bis zu mir?

Alsdann. Nur keine Vorurteile!

Ich setzte mich, schlug ein Bein über das andere, las und fragte mich: Warum soll man sich „losreißen von Garten und Gegend“? Und warum ist ein Bienenstich in den nackten Fuß ein Zeichen, sich loszureißen von Garten und Gegend? Kein gutes, kein schlechtes Zeichen, aber ein Zeichen? Was versteht der Barfüßige, der nach dem Bienenstich zu sich selbst sagt „Fort mit dir“ unter dem Begriff „Zeichen“ konkret und genau? (Den Stich einer ihren Stich überlebenden Biene als Zeichen für Aufbruch zu werten, werte ich umgekehrt als Zeichen für pantheistisches Delirium und Demenz, harmlos zwar und nicht therapierbar, bloß gnadenlos unerheblich.)

Das also ist das Grundgeschehnis, das „unerhörte Ereignis“ auf Seite 12 der „Obstdiebin“, gleich gefolgt vom Aufräumen in Haus und Garten, wobei aber eigens „dies und das, wo es stand oder lag“ gelassen wurde, dann bügelte der Erzähler „zwei, drei alte Hemden“, anschließend riss ihm (nicht zum ersten Mal kurz vor einem Aufbruch), beim Knüpfen der knöchelhohen Schuhe ein Schnürband (ja, diese knöchelhohen Schuhe sind aus Sicht des Schnürbands die gefährlichsten. Hochgefährlich geradezu! Dies und das: was? Was ist dies und was ist das, wo es stand oder lag? Aber wo lag es, wo stand es? Wer will das wissen? Will es wer wissen? Dies und das? Ist das genau oder ungenau oder bloß umständlich? Würde man dies und das streichen, würde es fehlen? Wem? Warum?

Zwei, drei Hemden, ist das genau oder ungenau oder poetisch? Ein paar, ein Paar, kleingeschrieben, großgeschrieben, das Schuhband zu und alle Fragen offen. Könnte man nicht über all das „hinweggehen“, wenn man schon „aufbricht“? Aber nein, es rissen sogar „alle zwei Schuhbänder“ Tja, ich sag`s ja! Aber: „alle zwei“? Ein bisserl wenig alle. Alle zwei! Alle beide ist wohl nicht gut genug? Das sagen ja alle…; Alle alle. Max und Moritz, diese alle zwei. Philemon und Baucis lebten alle zwei in einer armseligen Hütte. Und alle zwei blieben zu Hause, zu Hütte sozusagen.

Aber so oder so: Es rissen also „alle zwei Schuhbänder, bei deren viertelstündigem Aufknoten vorher ein Daumennagel abbrach“. Ein Deutschlehrer hätte hier ins Plusquamperfekt verbessert. Abgebrochen war. Aber es ist kein in seiner Deutschlehrerborniertheit schmachtender Deutschlehrer hier, und wir brauchen auch keinen, selbst wegen der etwas holprigen Satzstellung nicht. Bienenstich, Schuhbanddoppelriss, Daumennagelbruch, so tolldreist geht es also los. Bienenstich, Schuhbanddoppelriss, Daumennagelbruch, dies und das will alles sprachgewaltig gebändigt sein, aber ich weiß, ich werde es trotzdem bis Seite 21 schaffen. Bis Seite 559 eher nicht, aber bis Seite 21, das hab´ ich versprochen!

Wäre ich vergleichender Literaturwissenschaftler, würde ich jetzt einmal untersuchen, wie viele Popel sich Odysseus während der Odyssee aus der Nase gebohrt hat, und zwar auf welche Weise. Wie viele Pickel sich Don Quijote während seiner Windmühlenkämpfe ausgedrückt hat und welche Ungeschicklichkeiten sich Anna Karenina beim Stöckelschuhanziehen hat zu Schulden kommen lassen. Aber für solche Forschungen bräuchte ich eben jeden Tag hundert Jahre Zeit…

Vor diesen dramatischen Entwicklungen der Seite 12 der Obstdiebin hatte ich mich schließlich schon durch den Natureingang der Seite 9 kämpfen müssen, wo ich nicht nur erfuhr, dass der Tag des Erstgestochenwerdens des Barfußgehers im Gras in der Regel zusammenfällt „mit dem Sichauftun der weißen Kleeblätter, der erdbodennahen, worin sich die Bienen halbversteckt tummeln.“ Das hatte ich bisher nicht gewusst. Ich hatte es bisher auch nicht wissen wollen, und ich hätte es gerne auch weiterhin nicht gewusst. Mein Gott, diese Bienen! Verstecken sie sich, oder verstecken sie sich nicht? Spräche man die Sprache der Bienen und könnte also mit den Bienen sprechen, dann müsste man den Bienen sagen: Bienen, versteckt euch oder versteckt euch nicht! Aber hört endlich auf, euch halb zu verstecken! Das ist meschugge!

Aber noch bevor es überhaupt zu diesem Halbverstecken kommen konnte, hat sich ja dieses Sichauftun ereignen müssen, eine dringende Sprachnotwendigkeit, denn das Allerweltswort Öffnen ist so ordinär, dass der literaturaffine Genussgeneigte Genuss erst erreichen kann, wenn das Öffnen die Metamorphose vollzieht und sich zum Sichauftun steigert. Dass wiederum Kleeblüten „erdbodennah“ sind, hatte ich wohl dumpf geahnt, die plötzliche poetische Bestätigung dieses botanischen Sachverhalts stellt nun aber doch keine wirkliche Bereicherung meiner Existenz dar. Dabei könnten die halbversteckten Bienen und die erdbodennahen Kleeblüten von Stifter sein, vielleicht aber auch nicht.

Sodala.

Nicht nur dieses also erfuhr ich, sondern auch jenes: „Es war, auch das wie immer, ein, jedenfalls am späten Morgen, sonniger, aber noch nicht heißer Tag Anfang August, mit einem beständigen Blauen, hoch und immer höher, im Himmel.“ Nun, guter Wandersmann, sag an: Was ist ein „beständiger Blauer“ in Zeiten wie diesen? Und was macht der Kerl im Himmel oben? Oder ist in deinem Sermon Neutrum der Fall, demnach „beständiges Blaues“, und zwar im Himmel? Meinst du, guter Wandersmann, vielleicht ganz einfach: Blauer Himmel? Soll deine Rede vornehm klingen? Oder willst du mir das Blaue vom Himmel heruntererzählen? Aber das Blaue vom Himmel ist, wie du weißt, gar nicht blau, das bilden wir Sterblichen uns nur ein! Kann es sein, dass der Teufel der Manieriertheit dich reitet? Sprichst du so verworren, weil dich der Biene Stich so schmerzt? Lautmalerei gewissermaßen? Vielleicht eine allergische Reaktion? Dann aber schnell zum Medizinmann! Manch einen hat es umgehauen, ehe er sich`s versah, und er war mausetot für immer! Mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen! Reiß dich los von Garten und Gegend! Ab in die Notaufnahme! Fort mit dir!

Da schaut aber schon wieder dieser Deutschlehrerkaspar um die Ecke und faselt was von „Ausdrucksholprigkeiten“. „Wenn das Beschreibungspotenz ist“, mault er, „dann ist mir Beschreibungsimpotenz lieber.“ Jetzt verschwinden Sie aber sofort. Bitte!

Nun denn: „Ein leichter, beflügelnder Wind wehte in der Einbildung vom Atlantik in die Niemandsbucht fächernd.“ Pardon, Monsieur! Wer fächerte was? Und, falls es nicht zu viele Umstände macht: Warum? Wie soll ich es durch diese verdschungelte Formulierungsumstandsmeierei, die sich aufführt, als wäre sie eine Präzision, bis zur Seite 21 schaffen? „Auf und davon!“, lieber Leser. Zugegeben: Mir wäre das das widerwärtigste aller Lebenskonzepte. So wollte ich nicht leben. So könnte ich nicht leben. Auf und davon: Wozu dann ein Haus? Wozu ein Garten? Ich sage: Durchhalten! Ich sage: Konsequenz! Ich sage: Konstanz! Ich sage: Stabilitas loci! Und conversatio morum noch dazu! Pauperitas muss ja nicht unbedingt sein. Zugegeben: Schon das Barfußgehen ist mir zuwider, lebenspraktisch und als Lebensprogramm. Ich will nicht bei jedem Schritt Natur berühren! Schuhe, Sandalen, selbst Pantoffel haben auf der Welt schon viel Unheil verhindert, auch in Monaten ohne „r“! Schon gar nicht möchte ich mich jemals damit beschäftigen, ob zwischen meinen Zehen Tau spürbar ist oder nicht! Würd ich zu mir selber sagen: Fort mit dir! Dann mag die Totenglocke schallen! Dann wär die Zeit für mich vorbei. Fort mit dir! Das wäre Selbstverachtung, pur und absolut. Aber natürlich: Das ist kein literarisches Kriterium. Jeder, wie es ihm angemessen und zugewachsen ist.

So. frisch und froh zum Text zurück auf der Suche nach dem „großem Genuss“. Auf Seite 13 freut sich der Erzähler offenbar: „Ja, ich würde meine Obstdiebin endlich, nicht heute, nicht morgen, doch bald, sehr bald zu Gesicht bekommen, als Person, als ganze, und nicht bloß in den Teilen, den phantomatischen…“ Ein Schelm, wer Böses bei den „Teilen der Obstdiebin“ denkt, ein Kriminalroman mit zerstückelten Leichen wird das nicht werden, aber ganz ein bisschen Spannung möchte doch wohl jedes Epos erzeugen, also warten wir einmal ab und lesen weiter, was da noch kommen mag. Handkes Wanderer wandert noch nicht ganz, hat zunächst einmal seine Notizbücher und –hefte im Haus gelassen, weggesperrt, versteckt, in kauf nehmend, sie nicht mehr zu finden, setzte sich, bevor er sich auf den Weg machte, im Garten auf einen „einzelnen Stuhl…“. Bei allem lesenden Entgegenkommen, Herr Nobelpreisträger: die meisten Menschen, Nobelpreisträger wie Nichtnobelpreisträger, setzen sich, wenn sie sich auf Stühle setzen, auf einzelne Stühle. Nur die ganz, ganz übergewichtigen, die barocken setzen sich, sofern vorhanden, auf zwei. Auf „eher einen Hocker“? Das macht die Sache nicht präziser… „und so, untätig dasitzend, in Maßen aufrecht“ (In Maßen aufrecht? Was beschreibt das? Was wüsste man nicht, stünde das nicht da?) „ein Bein über das andere geschlagen, den Reisestrohhut über den Schädel gestülpt, (verkörperte ich in meiner Vorstellung) jenen Gärtner namens Vallier (oder wie auch), den Paul Cézanne gegen Ende seines Lebens immer wieder gemalt und gezeichnet hat…“

Kopf oder Schädel, Schädel oder Kopf: Darüber wäre viel sagen und zu schreiben, aber noch wilder hat mich die Verwendung des passiven Perfektpartizips des Verbs stülpen angesprungen, taucht es doch in einem der berühmtesten Sätze des Epikers Heimito von Doderer auf. „Jeder bekommt die Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer“, lautet der erste Satz des Romans „Ein Mord den jeder begeht“. „Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“ Ein zentraler Satz der österreichischen Literaturgeschichte, dem viele gute Gedanken vieler guter Köpfe ihre Geburt verdanken. Mir ist er in dem Zusammenhang aber einfach als Beispiel dafür eingefallen, dass Überstülpen zu Unsichtbarkeit führt , jedenfalls das eines Eimers, allenfalls das eines zu großen Zylinders, einen Reisestrohhut hingegen setzt man eigentlich bloß auf.

Ich habe – ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Binsenweisheit – den Gärtner Vallier gegoogelt und gefunden, dass auch er den Hut eigentlich bloß aufgesetzt hat, fest wohl, damit er hält, aber sowohl frontal als auch im Profil bleiben die Augen sichtbar, im Profil noch deutlicher als von vorn, weil die Krempe keinen oder weniger Schatten wirft, von Übergestülptheit kann jedenfalls keine Rede sein. Das ist nicht dichterische Freiheit, sondern dichterische Duselei. Wie lange soll ich noch so weitertun, dahinter steckt schließlich enorme Mühewaltung. Ich bin nicht sein Lektor, ich bin niemandes Lektor, und es geht letztlich um gar nichts. Andere schießen einfach die beiden Worte Serbien! und Milošević aus ihrem Fundus an bedingten Reflexen heraus und haben viel mehr Effekt, weil sie zu Textkritik zu faul und zu inkompetent sind…

Auf Seite 16 „bin ich auf einmal angeflogen worden von einer Stimme, nah – näher nicht möglich – am Ohr. Das war die Stimme der Obstdiebin…“; Gut, ja, nicht alle Menschen werden angeflogen von Stimmen. Manche werden angesprochen, manchen wird etwas ins Ohr geflüstert. Wohin auch sonst, in die Nasenlöcher? In die Zehenspitzen? Aber mit etwas gutem Willen, und den wollen wir doch aufbringen, kann man sich vorstellen, dass jemand von hinten unbemerkt auf einen zutritt, mit seinen Lippen unsichtbar beim Ohr des anderen stehen bleibt und… ja, was fragte die Stimme eigentlich nach ihrer Landung? „Nichts irgendwie besonderes, etwas zum Beispiel wie ‚Wie geht`s dir?‘“ – Na, deswegen hätte sie nicht extra fliegen müssen, aber gut, wir lassen das so stehen, wir wollen uns nicht darin gefallen, unnötig pingelig zu sein. „…wohl aber war diese Stimme ständig in Gefahr, zu verstummen, womöglich – bewahre! springt bei meiner Obstdiebin, ihr Mächte! – für immer.“

So: Hier ist nun doch der Punkt erreicht, wo auch kein Deutschlehrer mehr hilft. Wer springt warum wohin? An dieser Stelle greifen höfliche Rezipienten zu rhetorischen Figuren wie „Vielleicht liegt es ja an mir!“, zu Selbsterniedrigungen à la „Ich bin wohl zu blöd, zu ungebildet!“, zu was weiß ich, „Ich habe nicht Germanistik studiert…“ und Ähnlichem. Ich habe Germanistik studiert, und als falscher Höfling stehe ich nicht zur Verfügung. Semantiker, Semiotiker, Grammatiker, her zu mir! Lobbyisten, Artisten, Juroren! Ich verlange eine Erklärung! Lesen Sie diesen Satz noch einmal langsam laut vor: Kein Pardon: Das ist ganz einfach Gestammel! Was sagen Sie? Ein Hortativ? Ein Imperativ?

„Bewahre! springt bei meiner Obstdiebin, ihr Mächte! – für immer“ bedeutet: „Ihr Mächte! Springt meiner Obstdiebin für immer bei!“ Gut, aber abgesehen davon, dass das auch nichts bedeutet, ist dann die Wortstellung falsch. Deutsch ist nicht Latein! Im Deutschen gibt es eine Wortstellung – oder, falls das poetologischer ist: Keine Nichtwortstellung! Denn es ist nicht alles von Flexionen bestimmt! Allein ein kleines Beiwort wie bei kann viel anrichten, falsch betont oder falsch besetzt! Er schläft bei mir heißt noch nicht er schläft mir bei. Ich glaube, bei der Obstdiebin ist ganz etwas anderes gesprungen! Homer sprach auch manchmal in Rätseln? Ja, aber in besseren! Außerdem war das das Orakel. Also, fair bleiben, nur keine Vorurteile, ohne Zynismus, unvoreingenommen tapfer in den Text hinein, kommen wir zur Seite 19.

„Schon den ganzen Morgen hatte, wie an den Vormorgen, eine Stille geherrscht, die sich im Lauf der Stunden noch ausbreitete, über die Grenzen oder Ränder der Buchtgegend hinaus, von den episodischen, in der Regel dreitaktigen Rabenrufen weniger unterbrochen, als vielmehr womöglich noch weitergetragen. Jetzt aber, mit der Mittagsstunde, umfangen von einem unhörbaren, an dem Sommerlaub auch nicht sichtbaren, windlosen Wehen, eher einem zusätzlichen Luftstrom ohne eigens eine Strömung, einer nach außenhin, auf der Haut, weder an den Armen noch an den Schläfen, unspürbaren Luftzufuhr – kein einziges Blatt, auch nicht das leichteste, das der Linde, regte sich mehr -, senkte sich die über die Gegend gebreitete Stille, und zwar mit einem Mal, mit einem so sanften wie machtvollen Ruck herab auf die Erdlandschaft, und, einzigartiger Vorgang, allsommerlich nur momentelang sich ereignend: die Landschaft, schon vorher umfasst von Stille, senkte sich oder sank ein mit Hilfe der aus den Himmelhöhen sich urplötzlich herabsenkenden Stillezufuhr und blieb dabei weiterhin die vertraute gebuckelte, aufgewölbte, tragende Erdoberfläche….“

Ich schlief ein. Der Deutschlehrer sagte: Fasse die Seite 19 in drei Worten zusammen! Ich sagte: Es war still. Brav! – sagte der Deutschlehrer. Nur hat mit dem Satz „Es war still“ noch niemand den Nobelpreis gewonnen. Warum eigentlich nicht? Weil Unludwig Unwittgenstein – auch kein Nobelpreis für nichts – gesagt hat: Was sich sagen lässt, lässt sich unklar sagen. Was sich frisieren lässt, lässt sich auffrisieren.

Als Sprachpolizist hatte ich vor dem Einschlafen noch festgehalten: Vor der „Erdoberfläche“: vier Adjektiva, die die „Erdoberfläche“ nicht konkreter, nicht präziser, nicht plastischer machen. Vor dem Einnicken seufzte ich noch: Man kann das alles bewundern. Man kann es aber genauso gut nicht bewundern. Das macht keinen Unterschied. Die einen fühlen sich durch derartiges poetometereologisches Klimbimsimsalabim gereinigt, die anderen nicht. Ich bin bei den anderen.
Meinetwegen, es gibt solche und solche Stillen, und warum soll jemand nicht verschiedene Stillen beschreiben, der ausgelutschten Mucksmäuschchenstille oder der abgegriffenen Stille vor oder nach dem Sturm, diesen einem schon bei seinem Sprachhals heraushängenden Stillen nicht unverbrauchte, neu entdeckte Stillen wie die Rabenrufstille oder die frische Vomhimmelfallstille und andere Potenzstillebeschreibungen, will sagen: Stillepotenzbeschreibungen hinzufügen?

Wenn er meint… wenn er`s braucht… Es gäbe dann ja auch noch die Schneeflockenrieselstille oder die Autobahnnachtfahrverbotsstille. Man kann niemals genug Stillen haben. Vielleicht ist ja keine Stille wie die andere. Aber sollte nicht umgekehrt der Stillefachmann und vor allem die lauten Stillfachmannsermöglicher Toleranz und Verständnis aufbringen für die Stillestümper und Stilldilettanten, denen eine Stille wie die andere ist, die geradewegs eine Stillengleichbehandlung einmahnen und jede Stille opfern, weil sie meinen, etwas zu sagen zu haben, und noch dazu etwas Wichtiges!

Was ist mit all jenen, die „im Lärm der Zeit“ leben? Leben wollen? Leben müssen? Warum soll ausgerechnet der ausgezeichnet sein, der in der Stille einsam wacht, während alles schläft – vor denen, die im Lärm wachen, in dem er einsam schläft?
Ja, natürlich, man soll niemanden daran hindern, die fließenden Grenzen zwischen windlosem Wehen und unspürbarer Luftzufuhr auszuloten, wie käme man denn dazu? Nichts Menschliches sollte einem fremd sein, selbst so etwas nicht. Soll jeder nach seiner eigenen Facon… was auch immer. Ja, das ist natürlich genau beobachtet, dass die Raben dreimal rufen, die Raben und die Teufel, aber es ist, wie sage ich es freundlich, Wandersmann, zu genau, weil es einerlei ist, wie oft die Raben rufen, wenn sie rufen, was wäre denn, wenn ein Rabe einmal nur zweimal ruft (Jaja, Wortwitz, Wandersmann!), einmal viermal! Wäre das ein Zeichen? Und falls ja, wofür? Bei den Teufeln wäre es der Rede wert, aber bei den Raben? Nein, nein, Peter Poeta, es ist wahr, aber wurscht. Hier metastasiert der Pantheismus, und wir verzetteln uns!

Begeben wir uns stattdessen lieber auf Seite 20: „Wie immer sah ich, als ich danach den Kopf hob, im Himmel über mir mit ausgebreiteten, sichelförmig gekurvten Schwingen den Adler heraufkreisen…“ Wie? Was? Herauf? Woher? Wohin? Im Himmel über mir herauf? Wo sind dann Sie eigentlich? Im Himmel über Ihnen? Ein aufwärts entstürzender Engel, mit Werfel gesprochen, der aber in den Augen manch eines Vornobelpreisträgers, naja, egal – „…still daherkurvend…“ – oh holdes Partizipialgestelze! Wie viel Zeit für ungedachte Gedanken man verschwendet beim Potenzbeschreiben, deren Bilder man ohnehin im Kopf hat! Was einem alles entgeht, wenn man direkt mit den Augen schreibt! Und nichts ist dann dahinter. Man denkt nicht mit den Augen gut! Das Wesentliche ist für die Augen undenkbar! Also, er sieht den Adler „heraufkreisen“, „still daherkurvend“, bis er, der Adler, dann ein paar Zeilen später – bereits auf Seite 21 – „spiralisiert.“

Überhaupt hat es diese Seite 21 in sich! Denn der Erzähler, Petrus von Assisi, schwingt sich selbst kühn auf, mit dem Adler, der „vielleicht bloß ein Bussard oder ein Milan war, aber von seiner Hoheit, dem Erzähler zum Adler „bestimmt“ worden ist – natürlich, Erzähler sind in ihrer Erzählung allmächtig! -, zu sprechen. Die Biene war ihm für Kommunikation trotz Interaktion, also Bienenstich noch zu minder, das heißt: die Biene hat sich ihm schon mitgeteilt, eine Botschaft übermittelt, ihn pro-voziert, er hat aber nicht voziert, nicht geschrien, nicht geantwortet, jedenfalls hat er nichts davon verlauten lassen. Mit dem Adler aber spricht der Dichter. Und was hat der Erzähler dem heraufkreisenden, still daherkurvenden, schließlich spiralisierenden Adler zu sagen? „Hallo Adler!“ (naja, schon noch ausbaufähig, diese Tieranmache am Mittag!) Was fragt der Wandersmann den Wandervogel? Nichts irgendwie Besonderes eigentlich: Das, was auch seine Landsfrau Dagmar Koller – oder die mysteriöse Obstdiebin fragt: „Hallo, wie geht`s?“ Und was antwortet der Adler? „Ne pas mal, Ecrivain! Well, well, well, Ecrivain, maintenent get lost subito, prego! Silentium. Peace & Pax vobiscum!“ Nein, Spaß, er sagt natürlich gar nichts. Hat schon jemals ein Adler einem Dichter geantwortet? Der Adler hat dem Dichter so wenig zu sagen wie der Dichter dem Adler. Aber Spaß ist künstlich natürlich nicht erlaubt, jedenfalls den Adlern nicht.

Würde ich mit Adlern sprechen, ich sagte dem Adler: „Adler! Kreise nicht so herauf! Kurve nicht so daher! Und hör´ sofort auf zu spiralisieren! Schaff mir lieber deinen Kollegen herbei, den Doppeladler! Ich hab ein ernstes Wort mit ihm zu sprechen! Bei dem ist eine Spirale locker! Aber ich spreche bekanntlich nicht mit Adlern.

Seite 22! Heureka! Ich bin darüber hinaus, Leser! Und vielleicht lohnt sich die Überfleißaufgabe ja noch! Da: Die Stille könnte „die Druckwelle einer weltweiten Katastrophe“ sein, die „wenn auch bloß für eine Sekunde“ über den Erzähler herfiel, „eine Droh-, zugleich Schreckens- und Sterbensstille“… ich wusste es! Er führt etwas im Schilde! Ein Mann wie er breitet doch nicht ganz ohne Hintersinn einfach so Stillen vor sich aus! „Die Druckwelle einer weltweiten Katastrophe“: Entwurf für eine Welt ohne Menschen? Glavinic? Ionesco? Beckett? Apokalypse?

Das interessiert mich jetzt! Das weckt meine Neugier! Ich bin ja nicht so! Ich lasse mit mir reden! Ich lasse mich eines Besseren belehren! Bekehren! „Diese Stille, sie drückte aus, was die Geschichte der letzten Monate und Jahre, mörderisch zugeschärft, jetzt, im zweiten Jahrzehnt des meinetwegen dritten Jahrtausends, den Menschen, nicht nur in Frankreich, da freilich geballt, angetan hatte…“ Ja! Ja! Das könnte etwas werden, auch wenn es nicht seinetwegen das dritte Jahrtausend ist, noch nicht jedenfalls. Erzähl die Geschichte, Ecrivain! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Erzähle sie schonungslos und wahrheitsgetreu aus deiner Sicht! Nimm dir kein Blatt vor den Mund, auch nicht das Blatt eines Stiefmütterchens oder eines Strauches oder Ginsterbusches oder Kastanienbaums.

Gehört haben wir ja viel in den letzten Monaten und Jahren von der „Geschichte“, von „Frankreich“, aus der Entfernung freilich, nicht ganz am Ohr, so nahe nicht, dass es nicht näher ginge. Was war da nicht alles, Ecrivain, was ist da nicht alles gewesen? Charlie Hebdo! Islamisten! Dschihadisten! Tiefschlag, Terror und Massaker! Parallelgesellschaften, Muslime, Schwarzafrikaner, Marokko und Algerien noch einmal, brennende Autos, gelbe Jacken, rechtsextreme Selbstmörder in Notre Dame… Kampf der Kreaturen, Krieg der Kulturen, das ganze apokalyptische Programm…. nur eben kein Journalistenjargon, sondern Literatur, Ionesco, Beigbeder, Houellebecq und auch Menasse haben schon großartige Beispiele gegeben, du, Ecrivain, könntest jetzt kraft deiner Meisterschaft alles, alles in den Schatten stellen, jedes Wort ein Treffer, jeder Satz eine Weltanklage!

Aber nein, falscher Alarm: Es wird doch nichts! Im nächsten Satz schon „zickzacken“ wieder Falter, und zwar einerseits „quer durch den stillen Garten“ und andererseits „jeder für sich allein“, während sich „hinter der Ligusterhecke“ eine Hochschwangere „mucksmäuschenstill mit ihrem Stickzeug in den Finger gestochen hatte“ – jetzt also spät aber doch noch eine enttäuschende Allerweltsmucksmäuschenstille – trotzdem: Das kann die „weltweite Katastrophe“ wohl noch nicht gewesen sein, Ecrivain! Bei deiner Landsfrau Andrea N. „torkeln“ die Zitronenfalter, bei dir „zickzacken“ diese absturzgefährdeten Kleinlebewesen, und wer weiß, ob damit das Maximum an Falterbewegungsbeschreibungs-originalitätsmöglichkeiten bereits erreicht ist? Aber ich will das nicht wissen und nicht lesen, es ist – wie sage ich es freundlich? – wahr, aber wurscht, und es kostet mich wieder ein paar Sekunden unwiederbringliche Lebenszeit. Zackzack sind sie weg, die Sekunden, zackzack ist sie weg, die Lebenszeit.

Spräche ich mit Faltern, würde ich mich vor sie hinstellen wie ein Mann und sie laut und deutlich und rundheraus fragen: „Sagt einmal, Falter: Warum zickzackt ihr? Warum tut ihr mir das an? Zickzackt gefälligst woanders!“ Ich will in meinem Leben nie wieder eine Falterbewegungsbeschreibung lesen! Lasst mich damit sofort in Frieden! Übrigens, nur so nebenbei: „Der Liguster blühte da noch und duftete wie nur Liguster“: Da! Das ist jetzt endlich ein Satz von ganz eigentlicher Eigentlichkeit! Könnte von Heidegger sein! Oder von Hildesheimer!

Auf Seite 26: „Auf jetzt“. Was??? Der ist ja noch gar nicht „auf und davon“! Der sitzt ja noch immer zu Hause auf seinem einzelnen Stuhl im Garten! Das kommt vom trotzigen Falterbeobachten mitten in der Druckwelle einer weltweiten Katastrophe! Das kann doch nicht wahr sein! Also, mir reicht`s jetzt! Ich steige aus! Angenehme Wanderung weiterhin, Ecrivain, besprich den Rest vielleicht besser mit den Teilen der Obstdiebin!

Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mag. Christine Handle

    Dieser humorvoll-bissige Text über Handke spricht mir aus der Seele. ich habe mich vor Lachen kaum halten können. Da ich keine Handke-Freundin bin, vor allem nicht der jüngeren Texte, hatte ich eine diebische Freude (Obstdiebin?) an dieser geistreichen Textzerpflückung. Wie kann man soo wenig Inhalt in soo einer gestelzten Sprache über Seiten viele verbreiten.?! Das ist Leserfolter!
    Danke, lieber Herr Gstettner. ich las Ihre satirischen Texte in der „Presse“ jahrelang mit großem Vergnügen und bedaure, dass man nun viel seltener etwas von Ihnen zu lesen bekommt.

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