Diethard Sanders
Der schlimme Fredi
Feldstudie im Schwimmbad

. . . im Sommer, wenn wieder einmal eine Hitzewelle das Land mit Temperaturen lähmt, bei denen die Pizza auch auf der Luftmatratze gar wird, ist logischerweise der einzige Ort, an dem es sich noch dahinvegetieren lässt, das Schwimmbad oder ein Badesee. 

Den Temperaturen und einem ebenso heißen Konkurrenzkampf um die besten Plätze entsprechend ist man unmittelbar nach der morgendlichen Öffnung des Bades vor Ort und streicht gleich beutesuchenden Löwen das noch jungfräuliche Gelände nach einem guten Platz ab, der alle Kriterien für einen Tagesaufenthalt erfüllt, sprich: der Untergrund darf nicht zu abschüssig sein, Hangwinkel über etwa 4° sind ein no go; der Boden sollte von einer möglichst dichten, kurz geschorenen Grasnarbe bedeckt sein, aber mit nicht zu vielen Kleeblüten darin, wegen der Bienen, die diese aufsuchen und die einen fallweise in den Fuß stechen; weiters sollte ein Baum vorhanden sein, in dessen Schatten man den Tag zubringen kann, wobei natürlich auch das Wandern des Schattens im Tagesverlauf einzuplanen ist. Toiletten, Umkleidekabine und zumindest ein Kiosk sollten auch nicht allzu weit entfernt liegen. 

Hat man schließlich nach vielem Umherirren, Zweifeln und Debatten den perfekten Platz gefunden, dann beginnt man, seinen Lagerplatz einzurichten. Jetzt macht es sich bezahlt, dass man so früh unterwegs ist. Nachdem man sich eingerichtet hat, fällt man erschöpft der Länge nach auf seine Handtücher und dröselt anschließend im Hitzefieber dahin. Nur nebenbei bemerkt man, dass sich in etwa fünf Metern Entfernung inzwischen ein 60+ Pärchen eingerichtet hat, denn alles ging recht schnell und routiniert, und so benötigten die beiden nur ein paar halblaut gesprochene Worte während sie ihr Camp aufschlugen. 

Man hört noch das Knarzen von Liegestühlen und dann wird es wieder still. Da plötzlich wird die Stille jäh zerrissen:
Ja griass di Liesi [Grüß dich, Elisabeth], hört man den männlichen Teil der Nachbarn laut rufen.
Ja griass enk [Grüß euch], so ruft die Angesprochene zurück, die man gar nicht hatte kommen hören. Unwillkürlich hebt man den Kopf ein wenig und macht die Augen auf. In etwa zehn Metern Entfernung vom Nachbars-Pärchen steht eine alte Dame, vermutlich 70+.
Heier bisch åber a fåscht nia då [Heuer bist du ja fast nie hier], ruft der Mann dann.
Na åber woher denn!?, ruft die alte Dame mit leichter Entrüstung, I bin fåscht jedn Tåg då. . . I bin bis iatz lei allm woåndersch glegn! [ich bin fast jeden Tag da. . . ich bin bis jetzt aber immer an einem anderen Platz gelegen]. . . åber då måg I nimmer liegen, då sein so junge Leit, de sein ma z’laut. . . (der Einfachheit halber wird die folgende Konversation in Hochdeutsch wiedergegeben). . . wisst ihr, ich hab ein neues Hörgerät bekommen, mit dem tu‘ ich mich noch etwas schwer. . . aber die Ärztin hat gemeint, es muss sein.
Ach so, ist der Mann wieder beschwichtigt, und wir haben schon geglaubt, du kommst plötzlich nicht mehr.
Nein nein, nein nein, ruft die alte Dame dann lachend, ganz so, als müsste sie einen geradezu hanebüchenen Verdacht von sich weisen, und sie fährt fort: ich bin jetzt bei der Frau Dr. Orismalts, das ist eine junge HNO-Ärztin, denn der Dr. Widdershorn, bei dem ich viele Jahre war, ist in Pension gegangen. . . und die Junge ist eine ganz Genaue. . .
Ja, du wirst lachen, ruft da der Mann wieder aus, ich hab mir unlängst auch schon mal gedacht, dass ich vielleicht ein Hörgerät brauche!
Dann geh doch zur Orismalts, ruft die alte Dame.
Jetzt will ich zuerst meine PSA-Werte (Prostata-Spezifische Antikörper; Anm. des Autors) wieder etwas runterbringen, antwortet der Mann, dann sehe ich weiter.

Und an seine Frau gewandt fährt er fort: Und du, schau, dass du mit deinen Bandscheiben wieder auf gleich kommst, sonst wird’s nichts mit Cesenatico.
Is ja eh schon viel besser worden, ruft die Angesprochene aus, die Physio meint, dass nach weiteren drei oder vier Behandlungen alles wieder gut sein sollte.
Ach sooo, winkt da die alte Dame ab, die inzwischen unter Hintanlassung ihrer Ausrüstung einige Schritte näher getreten war, du hast es mit den Bandscheiben? . . .du, da hätte ich einen ausgezeichneten Therapeuten, zumindest die Vreni sagt das. . . ihr wisst ja, die hat es einmal so schwer erwischt, dass sie eine Woche im Bett liegen musste. . . heute kann sie wieder alles machen. Ich hab den Namen vergessen, aber wenn es dich interessiert, kann ich sie fragen. . . sie sollte heute eigentlich eh kommen. . .

. . . und so findet man sich nolens volens in den privatesten Details von Leuten wieder, die man soo genau eigentlich gar nicht unbedingt kennenlernen wollte. Derartige Gespräche – augenscheinlich zwischen Stammgästen geführt, die die Badeanstalt vermutlich von 1. Mai bis 30. September täglich oder fast täglich aufsuchen – können sich über Stunden hinziehen und nach zwischenzeitlichem Verebben jederzeit wieder aufleben.

Bald lernt der gezwungenermaßen Lauschende drei Dinge. Zum ersten scheint es eine Art ungeschriebenes Ethos zu geben, demzufolge sich ein Stammgast mit einer gewissen Mindest-Regelmäßigkeit einfinden sollte, um von den anderen Stammgästen auch weiterhin als ebenbürtiger Gesprächspartner wahrgenommen zu werden. Das geht unzweifelhaft aus Bemerkungen hervor, die unregelmäßiges Erscheinen oder gar unentschuldigtes Fernbleiben mit Verachtung und Ausgrenzung sanktionieren: Den Fredi hab ich heuer noch kein einziges Mal gesehen. . . dabei war er bisher immer da. . . das find ich gar nicht schön von ihm, so einfach nicht mehr aufzutauchen. So ein schlimmer Fredi aber auch, denkt man sich.

Einmal waren meine Partnerin und ich etwas später als üblich auf Platzsuche, sodass einige der besten Plätze bereits belegt waren. Als wir uns schließlich daran machten, uns ein Lager einzurichten, wurden wir von den Umliegenden etwas scheu mit einem stimmlosen Kopfnicken recht abwartend begrüßt und genau beäugt. Was sind denn das für Leute? Sind das die Neuen? Es scheint, dass wir rein äußerlich die ersten Tests bestanden hatten, mit unserem über den ganzen Tag starrsinnig durchgehaltenen Schweigen zu den Stammgast-Gesprächen die Aufnahme in die örtliche society jedoch verspielten.

Zum Zweiten lernt man, dass die Anwesenheit anderer Badegäste auf Lautstärke und Dauer dieser Konversationen offenbar keinen Einfluss hat. Immerhin bietet später am Tag, wenn die Badeanstalt voll ist, der vielstimmige Lärm ein Hintergrundrauschen, das die Deutlichkeit des Stammgast-Gespräches dämpft. So kann man sich ungestört seinen Fieberträumen hingeben, ohne allzu sehr von Lobtiraden beispielsweise auf die körperliche Züchtigung abgelenkt zu werden. 

Dies führt unmittelbar zu Punkt drei des Gelernten, nämlich, dass es kein Thema gibt, das tabu ist. Vom Vorlesen mit den lieben Enkerln bis zum Knastaufenthalt des kräftigen Schwagers, von herrlichen Wanderungen zur natürlich einzig schönsten Alm der Welt bis hin zu vergeblichen Hämorrhoidal-Behandlungen ist alles drin. Vermutlich hält man das alles nur deshalb durch, weil man schon am frühen Morgen beschlossen hat, sich an diesem Tag verdammt nochmal so richtig zu entspannen, und weil einen die lastende Nachmittagshitze in eine Art von Trance versetzt, die einem ein wenig doofes Grinsen ins Gesicht zaubert: Passt schon, alles ist recht, mir ist nichts Menschliches fremd.

Doch unlängst stieß uns ein Erlebnis zu, das sogar den firewall der Hitzeverblödung durchbrach. Sie kennen vermutlich die sogenannten Laubbläser, also diese extrem lauten tragbaren Gebläse, mit denen man sich und seine gärtnerische Tätigkeit mühelos in einem Radius von etwa einem Kilometer zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit macht: aha, Herr Müller pflegt wieder sein Grün. Falls sie, liebe Leserin und lieber Leser, bisher glaubten Laubbläser wären der Gipfel der technischen Versinnlosung dann lassen sie sich folgendes erzählen.

Da lagen wir also fiebernd (ich träumte gerade irgend etwas Verworrenes von einer Oase, wilden berittenen Arabern und einer geheimnisvollen, dunkeläugigen Schönheit) da durchbrach ein unangenehmes Geräusch die übliche Lärmkulisse. Es klang wie eine Mischung aus Zahnarzt- und Handbohrer und es schien ganz in der Nähe zu sein. Ich verabschiedete mich von Yasemin (so hieß die Schöne meines Traums), öffnete die Augen und schaute mich um. 

Nichts war zu sehen, die Badegäste lagen da wie die Robben, und vor allem war niemand erkennbar, der mit einer Bohrmaschine hantierte. Trotzdem hielt das Geräusch an. Mittlerweile hielt auch meine Partnerin Umschau und auch andere Badegäste blickten um sich. Kein Zweifel: das Geräusch war relativ nahe, doch es war, wie wenn im Film zum soundtrack eines bohrenden Arbeiters die entsprechenden Bilder fehlten. Woher also kam es? 

Ich befleißigte mich, aufzustehen (leichter Schwindel), um von dieser erhöhten Position aus vielleicht mehr zu erblicken. Und richtig: ich identifizierte in etwa sechs Metern Entfernung ein Pärchen ungefähr unseres Alters, das offenbar mit dem Abbau seines Badecamps beschäftigt war und von denen das Geräusch zu kommen schien. Doch noch immer konnte ich nicht feststellen, was die Quelle des Geräusches war. Unauffällig näherte ich mich weiter an und endlich sah ich, dass der Mann ein längliches Gerät in Händen hielt, das an eine Luftmatratze angeschlossen war. Aha!, dachte ich mir, eine dieser lärmigen und ineffizienten Luftpumpen, eine Art Pendant zum Laubbläser, die man zum Aufblasen von Schwimm- und Liegehilfen aller Art verwenden kann, wobei man mit dem Aufpumpen von Schlauchbooten besser bereits am Morgen des Vortags anfangen sollte. 

Immerhin hatte ich nun eine Erklärung, woher das Geräusch kam, doch schien mir der Akt des Aufblasens inkompatibel mit dem offensichtlichen Abbau des Liegeplatzes. Diskret blieb ich erstmal stehen und tat so, als wollte ich mein Auge am Badebetrieb so ganz allgemein erfreuen. Ich schaute auf die Luftmatratze, an der das Gerät hing. Sie wirkte noch, oder vielleicht schon, ziemlich prall gefüllt. Ich wartete erstmal eine Weile zu. Dann wandte ich mich wieder hin, und das Ergebnis verwirrte mich noch mehr. Die Luftmatratze schien mir eindeutig schrumpeliger als vorher, also mit weniger statt mehr Luft. Dazu die ganze Zeit über unablässig das Zahnarzt-Handbohrer Geräusch. 

Ein Verdacht keimte auf, doch ich wollte es vorerst nicht glauben. Also wartete ich nochmals zu, bevor ich wieder Nachschau hielt. Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben. Der Mann verwendete das komische Gerät, um die Luft AUS der Luftmatratze raus zu saugen! Fassungslos ob dieser Erkenntnis starrte ich schamlos dahin und ging unwillkürlich einige Schritt näher. Das konnte doch nicht wahr sein! 

Hat dem Typen niemand jemals erklärt, dass die Luft aus der Luftmatratze von selbst entweicht, wenn man die Verschluss-Stöpsel rauszieht? Ich weiß das, seit ich ein kleiner Junge war. Ich legte mich auf die Luftmatratze, Papi oder Mami zog den Stöpsel raus und schon sank ich zum nachlassenden Zischen des Ventils immer tiefer ein – ein sinnliches Vergnügen. Aber nun? Muss man jetzt also auch für etwas, das normalerweise ohne weiteres Zutun vonstatten geht, ein Gerät kaufen? 

Vermutlich ist genau das der Hintergedanke: Kaufen, kaufen, kaufen. Und natürlich kann man den anderen Badegästen damit ähnlich auf die Nerven gehen wie der Herr Müller mit seinem Laubbläser den Nachbarn. Doch je länger ich die Szene – stets unterlegt vom penetranten Zahnarzt-Handbohrer-Sauger-Geräusch – betrachtete, desto mehr wurde mir klar, dass dieser Mann ein ganz Durchtriebener war. Denn während er sich, bequem in einem Campingsessel fläzend, der ebenso verantwortungsvollen wie zeitraubenden Tätigkeit des Leersaugens der Luftmatratze widmete, räumte seine Partnerin praktisch das ganze Badecamp im Alleingang ab. 

Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wie diese beeindruckend sinnlose und ineffiziente Hand-Pumpe im Handel korrekt genannt wird. Mein Vorschlag: Portabler Nachbar-Nerv-Langsam-Luftabsauger – PONANELUA. Klingt auch ein bisschen wie ein Atoll in der Südsee. Ich warte nur noch darauf, dass in Bälde ein Apparat auf den Markt kommt, der Wasser dazu bringt, den Hang hinunter statt – falls man das Gerät nicht verwendet! – hinauf zu fliessen.

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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