Andreas Niedermann
Irrtümer
Vor einem Secondhandladen an der Kreuzung Blechturmgasse/Wiedner Hauptstraße, einen guten Steinwurf von meinem Ziel, dem FitInn entfernt, stand heute Morgen ein Bauarbeiter. Er rauchte und schien auf etwas zu warten.
Er war etwa in meinem Alter, und als ich ihn so dastehen sah, musste ich daran denken, dass auch ich oft so dagestanden war. In zementverkrusteten Klamotten, wartend, rauchend, verkatert, gelangweilt, gequält, pleite und voll von Gedanken an Flucht oder einen schnellen, gnädigen Tod. Tja, mein Lieber, sagte ich zu mir, dieser Mann da, das könntest du sein …
Und als ich daran dachte, dachte ich auch ans Meer und daran, wie lange ich es schon nicht mehr gesehen, gerochen und seinen Sound vernommen hatte. Und dann dachte ich, wenn ich an seiner Stelle wäre, könnte ich mir vermutlich einen Urlaub leisten. Jedes Jahr. Vielleicht sogar zwei.
Wahrscheinlich besitzt er ein Häuschen im Hinterland der dalmatinischen Küste, hat ein Auto und kann mit seiner Familie ans Meer fahren. Seine Kinder waren bestimmt schon erwachsen und hatten selbst Kinder, und er würde den Enkeln beim Buddeln im Sand zusehen, und seine Frau würde sie mit Sonnenöl einreiben. Feine Sache.
Aber ich dachte auch daran, wie es gekommen war, dass ich nicht so ein Leben lebte, und wie ich alles daran gesetzt hatte, der verborgenen Gnadenlosigkeit eines solchen Lebens zu entkommen.
Ich dachte an die ungezählten Anläufe, die ich gebraucht habe. Wie schmerzlich und anstrengend es gewesen war, dieses Leben hinter mir zu lassen, mit seinen Chefs, den Firmenfesten und den Kollegen, mit nichts als Muschi und Auto in der Marille und Urlaub und Häuslbauen und Vorwärtskommen und den Unflat von Populisten auf der Zunge, Kollegen, die alles Geistige, Schwierige, Schöne und Komplizierte hassten.
Ich dachte auch daran, wie wir damals den „einfachen Mann“ verehrten, das „Volk“, den Arbeiter; und wie der „Arbeiter“ uns deswegen verachtete und sich keinen Deut um die ausgebeuteten Kollegen anderswo auf der Welt scherte, und Solidarität nicht mal buchstabieren konnte.
Das war schmerzhaft und zugleich lächerlich. Aber es machte heil.
Es war ein ganz normaler Irrtum.
Einer von vielen.
Heute denke ich elitär.
Das ist ein anderer Irrtum.
Albert Camus kann von Irrtümern befreien.
Der `Beton-Klamotten-Mann` muss nicht zwingend gequält, gar lebensmüde sein. Ein oberflächlicher Anschein kann trügen. Wir müssten ihn näher kennenlernen. Bei seiner Arbeit, im Umgang mit Kollegen, in der Für-Sorge um seine Familie. Vielleicht ist er ja frei von allen Irrtümern? Vielleicht hat er erkannt, dass es keinen Plan gibt in unserem Universum und hat schlussendlich seine Aufgabe als Sisyphos angenommen. Vielleicht findet er den Stein, den er – wie jeder andere von uns – zu rollen hat, schön und lebt unerkannt und leise die Solidarität – in Erkenntnis darüber, was einzig sinnvoll ist.