Andreas Altmann
Wirtschaft ohne Wachstum – ein gefährlicher Irrweg
Essay
Die COVID19-Pandemie hat die Weltwirtschaft und Europa erschüttert. Die Konjunktur ist eingebrochen, Unternehmen befinden sich in Schieflage, die Arbeitslosigkeit nimmt besorgniserregende Züge an, und es besteht große Unsicherheit, wie es weitergehen soll. Nun gilt es die Wirtschaft kraftvoll zu beleben und wieder auf Wachstumspfad zu setzen. Ein Verzicht auf Wirtschaftswachstum wie er von Postwachstumsökonomen („Degrowth“) als „neue Normalität“ gefordert wird, ist sachlich unnötig, wäre ökonomisch höchst problematisch und politisch brandgefährlich.
Qualitäts- statt Mengenwachstum
Wichtig hierfür ist die Erkenntnis, dass Wirtschaftswachstum in hoch entwickelten Volkswirtschaften primär auf Qualitäts- und nicht auf Mengenzuwachs fokussiert. Im Zentrum stehen nicht mehr, sondern höherwertige Güter und Dienstleistungen. Es geht um gesündere, verträglichere oder nachhaltiger erzeugte Lebensmittel, wirksamere Medikamente, leistungsfähigere Medizintechnik, sicherere Automobile, komfortablere öffentliche Verkehrsmittel oder ökologischer erzeugten Strom. Schwache Geburtenraten, eine zahlenmäßig stagnierende und in ihrer Zusammensetzung überdies alternde Bevölkerung tun ein Übriges, um qualitatives über quantitatives Wachstum zu stellen. Quantitatives Wachstum steht vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern im Vordergrund. Dort gilt es, eine meist stark wachsende Bevölkerung mit dem Elementarsten zu versorgen, die aus Armut und Mangel entfliehen will und ein höheres Wohlstandsniveau anstrebt. Wer aber wollte es Menschen verübeln, dass sie sich endlich satt essen wollen, Barackensiedlungen entfliehen möchten und Zugang zu vorher nicht erreichbaren Bildungs- oder Gesundheitsleistungen anstreben?
Ressourcenverbrauch als Maßstab
Ob Qualitäts- oder Mengenwachstum: Kernfrage ist immer, in welcher Weise die Produktion und Konsumation von Gütern und Dienstleistungen mit Ressourcenverbrauch verbunden ist. Wird Energie durch die Nutzung von Wasserkraft, Wind und Sonne erzeugt oder durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe? Werden Glas, Papier, Kunst- und Verbundstoffe, Elektroschrott etc. recycelt oder gedankenlos entsorgt? Werden Dorfzentren und Innenstädte belebt und erneuert oder weiterhin – wie viel zu lange geschehen – gesichtslose Einkaufszentren mit hohem Flächenverbrauch in die Landschaft gesetzt?
Investition, Regulierung und Anreize
Eine ressourcenschonende Produktion und die intelligente Rückführung von Abfall und Reststoffen in Kreisläufe erreicht man aber nicht durch Stillstand, sondern durch mutige, zukunftsweisende Investitionen in Forschung, Technologie, Bildung und Infrastruktur, die zu innovativen Technologien, Verfahren, Produkten und Geschäftsmodellen sowie erhöhter Produktivität der zum Einsatz gelangenden Ressourcen führen. Besonderes Augenmerk ist dabei auf wirkungsvolle Regulierung zu legen, die erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes sanktioniert.
Internationale Kooperation statt Kleinstaaterei
Regulierung hat in enger internationaler Abstimmung zu erfolgen. Nationale Alleingänge sind der falsche Weg. Allein deswegen ist ein geeintes Europa unverzichtbar. Darüber hinaus ist es ökonomisches Basiswissen, dass erst internationale Arbeitsteilung, Spezialisierung und Handel Wohlstand ermöglichen, der in nationalen Dimensionen undenkbar wäre. Soll wirklich jedes kleine Land isoliert seine eigenen Lebensmittel, Textilien, Medikamente, Computer oder Navigationssysteme erzeugen? Abgesehen vom bereichernden Austausch in Kultur, Kunst und Literatur und der beglückenden Erfahrung internationaler Begegnung. Die Sinnhaftigkeit von Handel und Austausch endet übrigens nicht an den Grenzen Europas. Die Globalisierung hat Entwicklungen ermöglicht, die vorher unvorstellbar schienen und sie hat Abermillionen Menschen aus tiefster Armut geführt. Gleichzeitig gilt es auch Autarkieüberlegungen in strategisch wichtigen Bereichen zu beachten (z.B. Medikamentenversorgung).
Wachstum oder Arbeitslosigkeit
Als Ergebnis von Investitionen steigt die Produktivität der eingesetzten Ressourcen einschließlich des Faktors Arbeit, was bei fehlendem Wachstum zu steigender Arbeitslosigkeit führt. Damit gehen Kaufkraft und Nachfrage zurück, was in einen Abwärtsstrudel mündet, den niemand haben will. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich verteuert hingegen die Produktion. Damit kommt es zu Inflation und sinkender internationaler Wettbewerbsfähigkeit, was in der Folge zu weiterer Arbeitslosigkeit führt. Arbeitszeitverkürzung mit Umverteilung von Arbeit klingt zwar gut, ist aber ein naiver Ansatz. Dafür sind die benötigten Qualifikationen viel zu heterogen. Arbeitslose können nicht einfach als Software-Experten, Bauingenieure oder Ärzte eingesetzt werden – wie man sieht, meist nicht einmal als Erntehelfer.
Sozialer Frieden durch Wachstum
Warum aber sollte eine Gesellschaft überhaupt auf möglichen Wohlstand verzichten? Menschen, die wirklich zu Verzicht bereit sind und diesen nicht nur von anderen fordern, sind dünn gesät. Es ist gerade in akademischen Kreisen sowie unter Jugendlichen, die ohne materielle Sorgen aufwachsen, eine weit verbreitete Fiktion, dass es in Deutschland, Österreich oder Europa bereits allen Menschen so gut ginge, dass sie in zufriedenstellenden Verhältnissen leben würden. Dies ist bei weitem nicht der Fall, von den aktuellen, coronabedingten Verwerfungen ganz zu schweigen.
Elementarer Zusammenhang
Dazu kommt, dass im politischen Diskurs der elementare Zusammenhang von Wachstum und sozialem Frieden meist viel zu wenig Beachtung findet. Überall dort, wo es Wirtschaftswachstum gibt, kann die Besserstellung benachteiligter Gruppen aus zusätzlicher Wertschöpfung bestritten werden, anstatt in Besitzstände eingreifen zu müssen. Ein wachsender Kuchen vermittelt einer Gesellschaft überdies positive Zukunftsaussichten – im Unterschied etwa zur Sprengkraft einer perspektivenlosen Jugend. Ohne Wirtschaftswachstum lassen sich nicht zuletzt die jährlich steigenden Mittelbedarfe zur Finanzierung von Sozial-, Gesundheits- und Pensionssystemen kaum bestreiten. Verteilungskämpfe, Populismus und sozialer Unfriede sind die Folge. Es gibt genügend Länder und Phasen in der Geschichte, an welchen sich das studieren lässt.
Beim o.a. Beitrag handelt es sich um eine leichte Überarbeitung des Gastkommentars „Wachstumsverzicht ist keine Option“ von Andreas Altmann (Handelsblatt 12.10.2020, S. 48).
Der Autor ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und Rektor der Unternehmerischen Hochschule® in Innsbruck