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Alois Schöpf
Zu satt, zu ignorant und zu selbstbezogen
Fortsetzung: 3. Zerstörte Künste, zerstörte Künstler
Essay

Wenn Schriftsteller Schriftstellerkollegen kritisieren und dabei die Verehrungslust von Leserinnen und Lesern beleidigen, ist der Vorwurf nicht fern, sie seien lediglich neidisch, weil sie es, dem Fuchs gleich, der nach den Trauben schielt, selbst nicht geschafft haben, in den von ihnen kritisierten Olymp der Weltliteratur oder zumindest der Nationalliteratur aufzurücken. Da es sich im Folgenden allerdings um Komponisten handelt, kann dieser Verdacht – zumindest vorläufig – entfallen und es möge der durchaus von Bewunderung getragene Hinweis genügen, dass neben den oben erwähnten Marketinggenies, welche die Gunst der Stunde zu nutzen verstanden und dabei vorbildhaft das Konzertleben, die zeitgenössische Oper und das zeitgenössische Theater ruinierten, weiterhin bedeutende Komponisten und nicht minder bedeutende Autoren Werke schufen, mit denen sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch leichter, in der Folge der sogenannten 1968-Revolution zunehmend schwerer reüssieren konnten, bis ihnen, nach der fast vollständigen Machtübernahme durch Dirigenten und Regisseure nur noch die Chance blieb, durch hohes Alter das Vergessen-werden biologisch zu überleben und sich zuletzt durch ein medial wirksames Begräbnis noch einmal beim Publikum in Erinnerung zu rufen. Viele haben nicht einmal das geschafft und mussten sich bis zuletzt voll Bitternis die Frage stellen, ob sie nicht doch etwas falsch gemacht hatten, indem sie sich zugunsten ihrer intrinsischen Lust und Freude an der Musik gegenüber den intellektualistischen Schalmaiengesängen der Avantgarde verschlossen zeigten.


Komponisten

Das hanebüchene Fehlurteil eines Theodor Adorno über Dimitri Schostakowitsch (1906 – 1975) wurde bereits erwähnt. Man kann davon ausgehen, dass sein Urteil über Sergei Prokofjew (1891 – 1953) oder Aram Chatschaturjan (1903 – 1978) nicht viel anders ausgefallen wäre. Dennoch haben diese als Neoklassizisten abqualifizierten Komponisten inzwischen die Konzertsäle der Welt erobert. Dabei ist es nicht nur einem Schostakowitsch gelungen, durch seinen Walzer Nr. 2 aus seiner „Jazzsuite“ Eingang in das auf ein Massenpublikum abgestimmte Programm eines André Rieu zu finden. Auch Prokofjews Werke sickerten, zum Beispiel durch seinen Marsch aus der Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ oder durch Teile seiner Ballettmusik zu „Romeo und Julia“, bis in die Niederungen des musikalischen Gemeinguts, wie es ja auch einem Aram Chatschaturjan gelang, mit seinem Adagio aus dem Ballett „Spartacus“ die Kennmelodie zur international erfolgreichen Fernsehserie „The Onedin Line“ beizusteuern. Unverzeihlich lange zog es sich hingegen hin, bis auch in unseren Landen das großartige Werk des Zeitgenossen und Freunds Schostakowitschs Mieczysław Weinberg (1919 – 1996) zur Kenntnis genommen wurde und etwa bei den Bregenzer Festspielen seine Oper „Die Passagierin“ eine bejubelte Aufführung erlebte. Oder auch unter der engagierten Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla das City of Birmingham Symphony Orchestra bei den BBC Proms Weinbergs 3. Sinfonie einem internationalen Publikum zur Kenntnis brachte.

Die Liste jener, welche der Diktatur der kakophonen Avantgarde speziell in Deutschland und Österreich zum Opfer fielen, könnte noch lange fortgesetzt werden. So verzichten zunehmend erst in den letzten Jahren, durch die Karriere des jugendlichen Stardirigenten Gustavo Dudamel milde gestimmt, auch die heimischen Programmplaner auf die kolonialistische Arroganz, südamerikanischen und mittelamerikanischen Komponisten abseits des Spaßmachers Maurizio Kagel von vornherein zu unterstellen, mit den künstlerischen Entwicklungen in Europa nicht mitgehalten zu haben. Gustavo Dudamel hat übrigens seine Ausbildung als Jugendlicher bei „El Sistema“ absolviert, jenem schier unglaublichen Projekt des venezolanischen Menschenfreundes, Pädagogen, Musikers und Aktivisten José Antonio Abreu, im Rahmen dessen Jugendliche aus armen Verhältnissen durch eine kostenlose und intensive Musikausbildung zu einem besseren Leben hingeführt werden sollten. Durch Dudamel, aber auch durch Simon Rattle und sein Konzert auf der Berliner Waldbühne erfuhr das breite Konzertpublikum erst etwas vom archaischen und magischen Werk des viel zu früh an seiner Alkoholkrankheit verstorbenen Mexikaners Silvestre Revueltas (1899 – 1940) und in der Folge auch von so großartigen Komponisten wie dem Argentinier Alberto Ginastera (1916 – 1983) oder dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos (1887 – 1959). In diesem Zusammenhang darf auch die schillernde und alle musikalischen Genres übergreifende Persönlichkeit des argentinischen Bandoneon-Spielers und Komponisten Astor Piazzolla (1921 -1992) nicht unerwähnt bleiben.

Die Diktatoren und Hoftheoretiker der vom Nationalsozialismus geistig verwüsteten ehemaligen Kulturnationen Deutschland und Österreich, die sich von Darmstadt über Donaueschingen bis ins opportunistische Salzburg auch mittels Kunst bemühten, als die besonders Guten und Belehrbaren der Weltgeschichte wieder einen würdigen Platz im Rahmen der Völkergemeinschaft einzunehmen, haben mit ihren Netzwerken bei gleichzeitig profundem Mangel an „natürlicher“, d.h. „der Obertonreihe verpflichteten“ Musikalität geschäftstüchtig und neidisch mehr als ein halbes Jahrhundert lang sämtliche Komponisten, die es wagten, mit dem bewährten Instrumentarium der abendländischen Musik dem Publikum etwas mitzuteilen, schlecht gemacht und ihnen faire Karrierechancen verbaut.

Was nämlich an dieser Stelle über nur wenige sowjetische bzw. russische und nur wenige süd- und mittelamerikanische Komponisten gesagt wurde, könnte auch im Hinblick auf US-amerikanische Komponisten inklusive symphonischer Entwicklungen im Bereich des Jazz und der Minimal Music gesagt werden. Nicht zu vergessen die vielen zeitgenössischen Komponisten, ob aus Frankreich, England, Skandinavien oder Italien, aber auch aus Deutschland und Österreich, deren Werke von den Avantgardisten als zu konventionell und als „reaktionär“ abgetan, aber auch vom Publikum aufgrund des katastrophalen Images der zeitgenössischen Musik gemieden werden, auch wenn sie noch so harmonisch klängen, hat es doch berechtigterweise die Angst, sich als unfreiwilliges Opfer des hochkulturellen Bildungsauftrags Stücke in der Nachfolge von Epigonen der Epigonen der Urväter des Unheils Schönberg, Berg und Webern anhören zu müssen.

Was da in der Musik in den letzten Jahrzehnten wirklich an Schrecklichem passiert ist, geht aus einer Anekdote hervor, die vom italienischen Nationalkomponisten Giuseppe Verdi und seinem damals noch den Werken der Komponisten und nicht seinem eigenen Marktwert verpflichteten Intendanten der Mailänder Scala berichtet wird. So soll Bartolomeo Merelli, der Direktor der Mailänder Scala, eigens mit dem Libretto zur Oper „Nabucco“ in den Heimatort Verdis, das Provinznest Bussetto gefahren sein, um den Komponisten von seinem Entschluss abzubringen, das Komponieren einzustellen und sich mit der Position eines Musikdirektors in der Provinz zufrieden zu geben. Dieser Entschluss ging nicht nur auf den Misserfolg der musikalischen Komödie „Un giorno di regno“ zurück, sondern auch darauf, dass Verdi binnen kürzester Zeit seine geliebte Ehefrau Margherita und seine beiden Kinder verloren hatte und somit in jeder Hinsicht vor den Trümmern seiner Existenz stand. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis Verdi sich endlich bereit erklärte, Merellis Auftrag anzunehmen. Die Folgen sind bekannt. Ab „Nabucco“ wurde er nicht nur einer der berühmtesten und geachtetsten Komponisten seiner Zeit, er wurde auch zur Symbolfigur der nationalen Einigung Italiens und zum Millionär, der sich ein agrarisches Mustergut zur Belehrung der norditalienischen Bauernschaft ebenso leisten konnte wie ein Altersheim in Mailand für betagte Künstler.

Ähnlich erfolgreiche Biografien gab es auch im 20. Jahrhundert. Jedoch nicht in den Konzertsälen! Vielmehr abseits des offiziellen Kanons der klassischen Musik! Abseits der Szene! Oder nur langsam und widerwillig in sie aufgenommen! Und natürlich abseits von subventionierten Opernhäusern und abseits von ihren von publicitygeilen Politikern und Kulturbeamten berufenen Intendanten und Chefdirigenten! Wer von all diesen Egomanen wäre je auf die Idee gekommen, einem Komponisten oder Dichter in sein Provinzkaff nachzureisen und sie ein Jahr lang zu bequatschen? Und zwar nicht um des eigenen Erfolges und Ruhmes willen, sondern um der Werke willen, die von den Künstlern erwartet wurden.

So ist der Erfolg von Dimitri Schostakowitsch zweifelsfrei darauf zurückzuführen, dass er in erzwungenem Opportunismus, vergleichbar mit Richard Strauss, der ebenso genötigt war, sich mit der nationalsozialistischen Diktatur zu arrangieren, zum Star des kommunistischen Sowjetreichs aufstieg und als solcher fallweise auch entsprechend peinliche Werke inklusive eines Lobgesangs auf die stalinistische Forstwirtschaft abzuliefern hatte. Die Virtuosität und der geradezu hasserfüllte Zynismus, mit dem Schostakowitsch die Phraseologie der klassischen Symphonie verwendet und zugleich abtut, konnten von noch so brutalen und zuletzt bürokratisch verdummten Diktatoren nicht ruiniert werden und fanden in den letzten Jahren an den Wächterclaims der subventionierten Misstöner vorbei ihren Weg zum Publikum.

Das gleiche gilt für einen Komponisten wie Nino Rota, der ein Leben lang bescheidener Direktor des Konservatoriums in Bari blieb, sich mit seinen Konzerten und Opern immer als Komponist der klassischen Musik verstand und an der Seite von Federico Fellini durch die Filmmusik etwa zu „La Strada“ oder „Otto e mezzo“ , aber auch durch seine Filmmusik zu „Der Pate“ in der Regie von Francis Ford Coppola einen Oscar und einen Golden Globe Award zugesprochen bekam. Riccardo Muti ist das Verdienst hoch anzurechnen, dass er sich dafür einsetzte, die klassischen Werke seines ehemaligen Lehrers, und hier vor allem die unglaublich effektvolle Ballettmusik zu „La Strada“, in den Konzertsälen durchgesetzt zu haben.

Dass dies Leonard Bernstein, obgleich ein nicht minder bedeutender Dirigent, mit seinen eigenen Werken nur mäßig erfolgreich gelang, ist wohl kaum auf die Bescheidenheit seiner exzentrischen Persönlichkeit zurückzuführen, sondern kann als weiterer Beweis für die unglaubliche Verblendung der in deutschsprachigen Landen grassierenden Unterscheidung zwischen E- und U-Musik gelten. Erstere, die ernste Musik, ein Distinktionsmerkmal derer, die es geschafft haben oder dies zumindest glauben, weshalb sie bereit sind, um nicht bei ihrer musikalischen Halbbildung erwischt zu werden, sich jeden Unsinn als große Kunst andrehen zu lassen. Die zweitere, die Unterhaltungsmusik, ein durch die Existenz der ersteren von allen kulturellen Selbstbeauftragungen befreiter übler Kommerz. Was dazwischen liegt, wird konsequent missverstanden, herabgewürdigt und ignoriert: ein Bernstein zum Beispiel, der in seiner West Side Story Schlagermusik komponierte und zugleich mit drei Sinfonien oder seinem „Divertimento für Orchester“ großartige klassische Musik schuf. Oder ein George Gershwin, der wesentliche Beiträge zum „American Songbook“ lieferte und zugleich ein fulminantes Klavierkonzert schrieb, von der weltberühmten „Rhapsodie in Blue“ ganz abgesehen.

Am Ende dieser langen Liste von Persönlichkeiten, denen nicht nur der verdiente Ruf als Künstler, sondern oft auch der damit einhergehende gerechte Lohn vorenthalten wurde, muss die Bitte des Papstes, die Kulturschaffenden in der Pandemie nicht zu vergessen, denn sie seien die Verwalter der Schönheit, aber auch die Worte Riccardo Mutis, die Musik sei verantwortlich für die psychische Gesundheit der Menschen, in Erinnerung gerufen werden: Diese hehre Aufgabe werden die Komponisten erst dann wieder erfüllen können, wenn sie zur Musik zurück finden. Wenn sie also mit ihren Werken nicht nur die Ohren der musikalisch Höchstgebildeten kitzeln und damit zu deren Distinktionsgewinn beitragen, sondern wenn sie mit ihren Einfällen den noch so erfolgreichen Popmusikern und Schlagersängern den Platz an der Sonne und ihre Beliebtheit beim Publikum streitig zu machen verstehen. Wie zu vormodernen Zeiten! Sollte Ihnen dies gelingen – so die These – wird eine neue Schönheit zurückgekehrt sein. In diesem Fall jedoch würde der Bevölkerung auch das Wohlergehen jener, die sie geschaffen haben, ein Herzensanliegen sein.


Fortsetzung 29.01.2021
Die Dichter und Schillers Auftrag

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. schoepfblog

    Toller Artikel!
    Bin mit sehr vielem d’accord.

    Allerdings: „Dennoch haben diese …. Komponisten die Konzertsäle der Welt erobert“
    Adorno, der in der geistigen Erfolgswelle der 12-Ton-Technik mitschwamm, ging es meiner Ansicht nach um die traditionelle Vorstellung „hoher Kunst“, an der alles gemessen wurde. Ein Kompositionsbild, meist bezogen auf das Bach´sche Spätwerk – an dem nicht mal 80% der Bach-Werke gemessen werden könnten…
    In dieser starken Betonung konstruierter Strukturen mußte ihm alles lau und mittelmäßig vorkommen, was nicht seinen Kompositionsprinzipien entsprach…
    Adorno entspricht ein wenig dem Klischee des Musikkritikers, dem die eigene künstlerische Karriere versagt geblieben ist, darauf nehme ich gerne Rücksicht und lese seine musikalischen Schriften mit einem gewissen Vergnügen (Gounod: Ave Maria) und einer Prise Verständnis…
    Ich gehe davon aus, daß der Erfolg in den Konzertsälen für den Schönberg-Webern-Kreis eher ein Beweis minderer Qualität war… seit dem Verein für musikalische Privataufführungen wollen manche Menschen einerseits nur Anerkennung von Experten, andererseits verleihen sie ihrem Neid auf populäre KollegenInnen oft genug Ausdruck… aber sie leben ganz gut mit diesen Widersprüchen.
    Wolfgang Fritzsche, Klagenfurt

    von Facebook übernommen

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