Alois Schöpf
Vereinsmeier und Stammtischbrüder
Essay
Wenn in der Politik immer wieder darüber geklagt wird, dass den etablierten Parteien die Wähler davonlaufen, lässt die Forderung nicht lange auf sich warten, man müsse wieder die Oberhoheit über die Stammtische zurückgewinnen. Am Stammtisch nämlich sitzt aus Sicht des städtischen Weltbürgers jene dumpfe Masse an renitenten Hinterwäldlern, die sich nicht nur den Freuden der Globalisierung, sondern auch jedem gerade aktuellen Engagement von der Willkommenskultur bis zur Klimakatastrophe verweigern. Der nächste Verwandte des Stammtischbruders, nur um Weniges weniger verachtet als er, ist der Vereinsmeier, der seinen Selbstwert von Funktionen wie Obmann, Präsident, Kassier oder Kassaprüfer ableitet und in dieser provinziellen Genügsamkeit vielen mittelmäßigen bis berühmten Kabarettisten, wie sie ab 22:00 Uhr im Fernsehen auftreten, zum Spott gereicht.
Inzwischen, durch die Covid-19 Pandemie bedingt, wurden die Stammtische, sofern sie überhaupt noch existierten, durch den jüngsten Lockdown behördlich geschlossen. Aber auch die Vereine mussten als Orte potentieller Infektionen ihren Betrieb nahezu einstellen. Dass dies, um speziell Musikvereine als besonderes Beispiel anzuführen, gerade bei begeisterten Musikern und Musikerinnen zu erheblichen Entzugserscheinungen führt, liegt auf der Hand. Aber auch jene, für die neben dem gemeinsamen Musizieren der freundliche Kontakt mit anderen Zeitgenossen ein gleichsam kommunikatives Glücksmoment im Ablauf der Woche darstellt, sehen sich gezwungen, sich nach einer Einrichtung zu sehnen, die durch ihr Verschwinden plötzlich unversehens an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnt.
Denn so sehr der Verlust des krakeelenden und oftmals dem Alkoholmissbrauch zugeneigten Stammtischbruders verschmerzbar sein dürfte, so klar tritt zutage, dass der Vereinsmeier, wie er verächtlich genannt wird, vielleicht doch ungerecht behandelt wird, wenn man ihn nur als lächerliche Schießbudenfigur karikiert.
Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859), noch heute lesenswerter Publizist und Begründer der Vergleichenden Politikwissenschaft, hat in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ vermerkt, dass eine Gesellschaft, um ihre innere Stabilität zu wahren, darauf bedacht sein müsse, allen eine Aufgabe im gesellschaftlichen Gefüge zukommen zu lassen, die der Ehrgeiz dazu treibt, etwas Bedeutendes sein zu wollen. Im Gegensatz zu Europa, wo, historisch bedingt, immer noch viele Positionen vom Staat vergeben werden, stehen, wie auch die jüngsten Präsidentschaftswahlen gezeigt haben, in den Vereinigten Staaten zahlreiche Aufgaben vom Sheriff bis zum Richter über Volksabstimmungen zur Disposition.
In Deutschland und Österreich wiederum, jahrhundertelang obrigkeitsstaatlich regiert und erst im Zuge der bürgerlichen Revolution mit Vereinsfreiheit bedacht, ist es ein dichtes Netz von Vereinen, die im Rahmen der Zivilgesellschaft verantwortungsvolle Aufgaben vergeben und somit all jene in das Gemeinwohl einbinden, deren Ehrgeiz, wenn er nicht befriedigt würde, Unruhe stiften könnte.
Neben dieser diskreten psychohygienischen Auswirkung wird die Zivilgesellschaft durch Vereine auch dadurch gestärkt, dass über persönliche Beziehungen im Hinblick auf alle Bereiche des Lebens Hilfeleistungen möglich sind, die, nur weil sie abseits öffentlicher Cluster, staatlicher Subventionen und Aufstiegsrituale erfolgen, nicht schon deshalb unter Korruptionsverdacht stehen müssen. Dies bezieht sich auf Hilfe bei der richtigen Schulwahl ebenso wie auf Vermittlung von Jobs, den Hinweis auf interessante Ausschreibungen und die Auftragsvergabe etwa an Leute, deren Seriosität man am Instrument kennengelernt hat. Man könnte dem scherzhaft hinzufügen, dass, wenn allgemein bekannt wäre, wie wirkmächtig die Beziehungsgeflechte eines Musikvereins sind, wohl mancher Städter niemals mit dem Gedanken gespielt, aus Karrieregründen zu den Freimaurern zu gehen, sondern besser Trompetenunterricht genommen hätte.
Vor allem innerhalb von Musikvereinen, bei denen von allem Anfang an klar ist, wer künstlerisch und spieltechnisch, unabhängig von seiner Position außerhalb, zur Elite gehört, werden gesellschaftliche Hierarchien abgebaut und neu aufgestellt. Das schöne Nebeneinander von Alt und Jung ist dabei oft genug Gegenstand von erbaulichen Sonntagsreden. Schon etwas weniger wird das Nebeneinander ganz verschiedener gesellschaftlicher Milieus thematisiert, wie Gerhard Schulze sie in seinen berühmten Studien „Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart“ vorschlägt. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Der am Instrument fast schon technisch perfekte 1. Klarinettist aus dem Harmoniemilieu zwingt den aus dem städtischen Hochkulturmilieu stammenden weniger perfekten 3. Klarinettisten zu einer gewissen Toleranz gegenüber dem Genre der Böhmischen Polka, so wie umgekehrt der 3. Klarinettist dem einen oder anderen vor, neben oder hinter ihm die gehobenen Freuden einer gelungenen Opernaufführung zu vermitteln versteht, wenn eine dazu passende Ouvertüre am Notenpult liegt.
Wie sehr gerade Musikvereine in einer Gesellschaft von Bedeutung sind, in der es immer schwieriger wird, über weltanschauliche Gräben hinweg miteinander zu reden, müsste jedermann einleuchten, der durch die am Markt der Aufmerksamkeiten hysterisch um Einschaltziffern oder Likes kämpfenden Medien beobachtet, wie sie zur Erhöhung des eigenen Profits durch Übertreibung Spaltung zulassen und vertiefen. Dabei ist das Entscheidende nicht so sehr, dass etwa nach einer Probe in der Kantine heftige politische Debatten aufflammen müssen. Das Entscheidende ist vielmehr, dass das Weltanschauliche, dies ist zumindest meine eigene Erfahrung, oft bewusst umgangen wird und an seiner Statt höchst unschuldige musikalische Probleme Gegenstand leidenschaftlicher Auseinandersetzungen sind. Das Wesentliche ist die Kommunikation an sich. Dem Nicht-mehr-miteinander-können außerhalb der Vereinslokalitäten wird mit tiefgründigen Gesprächen etwa über die Bedeutung der Es-Klarinette im modernen Blasorchester entgegengewirkt.
In diesem Sinne wird auch, um an den Ausgangspunkt der Überlegungen und zur traurigen, jedoch ohnehin vom Aussterben bedrohten Figur des Stammtischbruders zurückzukehren, durch die Suche nach künstlerischer Vollkommenheit und Schönheit in einem Feld der oftmals belächelten Breitenkultur, zum Beispiel der Blasmusik, „Gemeinschaft gebildet“: ein hehres Ziel, wie es in meiner Heimat Tirol schon vor Jahrzehnten in den Richtlinien der tonangebenden konservativen Partei stand. Wir haben als Studenten darüber spöttisch gelacht. Gemeinschaftsbildende Kräfte, wie das hieß! Was sollte das schon wieder für ein möglicherweise sogar braunes Gedankengut sein? Leider entging uns, dass es nach den auch sozialen Desastern der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkrieg absolut notwendig war, auf diese Therapie zu setzen und Gemeinschaft wieder neu zu bilden. Vielleicht begreifen wir, inzwischen alt gewordenen, zumindest heute, dass eine solche Therapie wieder notwendig wäre. Wenn auch aus ganz anderen Gründen.