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Alois Schöpf
Das Böse existiert!
3. Teil: Die Macht des Gezeigten
Essay

Die Redaktionen unserer angeblich so freien Medien hüllen sich, wie an den Beispielen US-Interventionen, Saudi-Arabien, Iran, Nordkorea und Massentierhaltung aufgezeigt wurde, in, wie der Historiker Fritz Stern es nennen würde, „feines Schweigen“, wenn es darum geht, den durch sein Ein- und Ausschalt-, Hin- und Wegzapp-Verhalten über Rundfunkgebühren und Werbekosten allmächtigen Konsumenten als Voyeur vor Irritationen zu schützen.

Um die Frage zu beantworten, wer sich bei der Berichterstattung über den Terroranschlag in Wien nun mehr schuldig gemacht hat, jene, die vornehm zensierten, oder jene, die geil herzeigten, ist es notwendig, nicht nur vor dem Hintergrund des Verschwiegenen, sondern auch vor dem des Gezeigten zu untersuchen, in welch umfassendem Ausmaß dokumentarisches Bildmaterial das politische Bewusstsein ganzer Gesellschaften verändern kann. Und zwar nicht auf abstrakter Ebene, wie es das Verschweigen als Spekulation über das Nichtanwesende möglich macht, sondern konkret, persönlich, auf Basis der je eigenen Empathie und Betroffenheit, um das verhunzte Modewort hier einmal mit vollem Recht einzusetzen. Denn der Augenblick, in dem den historisch interessierten Zeitgenossen Bildsequenzen und ihre Grausamkeit ganz konkret erreichen, ist immer eingebunden in eine ganz persönliche Erkenntnisgeschichte.

1. So wurde ich als Schüler am Gymnasium des Jesuitenordens, der mehrere Opfer des Hitlerregimes zu beklagen hatte, bereits als Vierzehnjähriger mit jenen Bilddokumenten konfrontiert, die den industriellen Massenmord an den europäischen Juden, aber auch an anderen Randgruppen wie den sogenannten Zigeunern oder an Homosexuellen auf alle Zeiten als Mahnmal unüberbietbarer menschlicher Bosheit und Verworfenheit vor dem Vergessen bewahren. Die fotografische und filmische Hinterlassenschaft des Holocaust hat nicht nur dem Naziregime, das für den Völkermord verantwortlich zeichnete, jede moralische Legitimation entzogen, es hat auch dem Antisemitismus als einer über Jahrzehnte akzeptierten Marotte ein Ende gesetzt. Und es hat dem Überleben Israels unter feindlich gesinnten und in ihrer Würde verletzten arabischen Nationen das Überleben mitermöglicht und somit eine Fortsetzung des Vernichtungswerks an den Juden verhindert.

Vladimir Putin, der den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte Katastrophe der russischen Geschichte bezeichnet, wird also schon wissen, was er tut, wenn er die Archive aus der Zeit des stalinistischen Massenterrors nicht öffnet, sofern darüber überhaupt Bildmaterial existiert und sich nicht die Deutschen, worunter auch wir Österreicher zu verstehen sind, durch die satanische Lust, ihre eigenen Abgründe zu dokumentieren, als Sonderfall kollektiven Irreseins erweisen. Was nämlich die Alliierten bei ihrem Einmarsch an Elend noch vorfanden, ist nur ein Teil dessen, was die Täter selbst in bürokratischer Besessenheit verewigten. Bildmaterial, das auch nur annähernd an jenes des Holocaust heranreichen würde, würde das von den Massenmördern Lenin und Trotzki gegründete und vom Massenmörder Stalin vollendete Arbeiterparadies, als dessen verquerer Erbe Putin sich empfindet, ebenso delegitimieren wie das Naziregime. Auch die europäische Linke sähe sich plötzlich gezwungen, in den verstaubten Archiven ihrer postmarxistischen Begriffswelten Ordnung zu schaffen und sich der von allen anderen eingeforderten Vergangenheitsbewältigung zu unterziehen.

Wahrscheinlich wird es einen solchen durch Bildmächtigkeit erzwungenen Sinneswandel jedoch nie geben, was beweist, wie schwach sich der Einfluss von lediglich in Worten festgeschriebenen Zeugnissen erweist, selbst wenn sie von Schriftstellern wie Alexander Solschenizyn und vieler anderer seiner beredten Kollegen, die das sowjetische Lagersystem überlebten, in umfangreichen Büchern festgehalten wurden.

2. Nachhaltig und unerwartet verändert wurde mein Denken auch durch eine Dokumentation der BBC, die sich mit der Rolle des japanischen Kaisers während des Zweiten Weltkriegs beschäftigte und in der unter anderem gezeigt wurde, wie auf Befehl der japanischen Besatzer im chinesischen Nanking Planierraupen lebende Menschen in einen Graben schieben und sie mit Erde überschütten. Wenige Sekunden reichten auch in diesem Fall aus, um das über Jahrzehnte in der Regenbogenpresse gehuldigte japanische Kaiserhaus mit einem Herrscher, der der gerechten Todesstrafe als Kriegsverbrecher nur deshalb entging, weil die staatliche Ordnung Japans dadurch zusammengebrochen wäre, als eine gesalbte Elite der Unmenschlichkeit dastehen zu lassen.

3. Österreich wartet auf einen Spruch des Verfassungsgerichtshofs, von dem sich die fortschrittlichen Kreise des Landes eine Liberalisierung der Sterbehilfe erwarten, sodass den ehrwürdigen Traditionen christlicher Brutalität, die Menschen zu zwingen, bis zum bitteren Ende zu leiden, auch hierzulande Grenzen gesetzt wird. Vor Monaten bereits vereinbart hätte dieser Tage gemeinsam mit dem Deutschen und dem Schweizerischen Fernsehen auch im ORF die Übertragung des Stücks „Gott“ von Ferdinand von Schirach, das sich mit Fragen der Sterbehilfe beschäftigt, übertragen werden sollen. Unter dem äußerst fadenscheinigen und argumentativ nicht nachvollziehbaren Verweis auf den Terroranschlag in Wien wurde die Übertragung abgesagt. Es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass dies lediglich ein billiger Vorwand war, um nicht in genau jener Woche, in der der Verfassungsgerichtshof weitere Beratungen angekündigt hatte, die liberalen Kräfte zu stärken. Eine ORF-Führung, der es weltanschaulich wertfrei schon seit Jahren lediglich um die Absicherung ihrer durch Opportunismus eroberten, großfürstlich entlohnten Positionen geht, vollführte den Kotau vor einer christgläubigen Clique, die es als großen Schaden für ihre mittelalterlichen Anliegen empfunden hätte, wenn auch hierzulande, wie in Deutschland und der Schweiz 70 Prozent der Fernsehzuseher Sterbehilfe für jemanden befürwortet hätten, der sie nicht einmal als Schwerstkranker, sondern lediglich als Lebensmüder für sich in Anspruch nimmt.

Kein einziges heimisches Medium hat die Absetzung dieser Übertragung als Skandal zu diagnostizieren gewagt. Die Branche hat sich vielmehr durch ihr Schweigen am Kampf gegen die Autonomie und die letzte Freiheit, Art und Zeitpunkt des Todes selbst zu bestimmen, willig beteiligt. Mit Ausnahme von Frau Coudenhove-Kalergi im Standard haben keine und keiner unserer sonst so selbstbewussten und besserwisserischen Kolumnistinnen und Kolumnisten für eine Liberalisierung der Sterbehilfe das Wort ergriffen. Und es wäre wohl zu viel verlangt, wenn einer unserer öffentlichen oder privaten Fernsehanstalten jene feinfühlige und diskrete Dokumentation aus den Niederlanden wiederholt hätte, in der ein an fortschreitender Muskellähmung leidender Mann dabei begleitet wird, wie er, ein letztes Glas Wein trinkend, noch einmal von seinem Arzt besucht wird und, professionelle Sterbehilfe in Anspruch nehmend, vor laufender Kamera, seine Gattin neben ihm sitzend, friedlich und gelöst aus dem Leben scheidet.

Die Wiederholung dieser Dokumentation hätte nicht nur in der Zeit einer wichtigen Entscheidung sämtliche marktschreierischen Argumente und Gerüchte von der Inhumanität der Sterbehilfe des Platzes verwiesen, sondern auch viele von denen, deren Skepsis lediglich eine Folge der Angst vor dem eigenen Tode ist, von der Würde eines selbstbestimmten Lebensendes überzeugt. Alle, die als Obwalter der edlen Gesinnung mit Verachtung auf Vater und Sohn Fellner herabblicken und im österreichischen Presserat die Messer wetzen, müssen um die Existenz dieser Dokumentation wissen. Ihr kleinmütiges Wegschauen delegitimiert auch in diesem Fall jeden Anspruch, im Dienste der Aufklärung zu agieren.

4. Der weltweit steigende Fleischkonsum hat nicht nur zur Folge, dass immer mehr Tierarten durch den Verlust ihres Lebensraums ausgerottet werden. Tiere, also fühlende, zur Freude aber auch zum Leiden befähigte Wesen werden nur noch dazu geboren – erzeugt, wie das heißt, produziert, wie das heißt – ,um sich nach einem kurzen und industriell auf Gewichtszunahme fokussierten sogenannten Leben vom Menschen töten und fressen zu lassen. Tiere, vor allem die sogenannten Haus- und Nutztiere sind, wie Peter Sloterdijk es wortmächtig formuliert, die wahren Verlierer der Moderne. Verlierer sind wir aber auch selbst, da industrielle Massentierhaltung nicht nur die letzten Reservate an unberührter Natur für die Landwirtschaft verbraucht, sondern die Ausbeutung der Tiere zu menschlichen Zwecken bereits seit Jahrtausenden Ausgangspunkt von gefährlichen Pandemien war und ist. Covid19 firmiert dabei im Schaufenster zoogenetischen Unheils lediglich als eher harmlose Variante.

Ganz im Gegensatz zur kulturellen Abstraktion, die das Fleisch eines lebenden Wesens über Tötung, Aufbereitung und zuletzt durch eine kunstvoll applizierte Panier auf seinem Weg zur Lieblingsspeise Schnitzel erfährt, fällt das Publikum gleichsam tödlich getroffen vor ihren Fernsehschirmen hintüber, sofern es einem der verdeckt agierenden Tierschützer in den Medien wieder einmal gelingt, das Foto einer gequälten Muttersau oder die Filmsequenz von grausam verstümmelten, gar tirolerischen Kälbern zu zeigen, die in den Nahen Osten exportiert und dort schandbar umgebracht werden. Allzu leicht wird gleichzeitig vergessen, dass unser gesamter Fleischkonsum, unsere Fressorgien an den herrlich duftenden sommerlichen Grillstationen fürstlich von der vornehmen Weigerung der Medien leben, uns mit dem Anblick der gequälten und gedemütigten Kreatur zu konfrontieren.

4. Nach Jahrzehnten des hedonistischen Nachkriegswohlstandes, in denen man es mit weltanschaulichen Fragen nicht so genau nehmen musste, hat die Corona-Pandemie und die mit ihr einhergehenden strikten Schutzmaßnahmen einen neuen Typus des Zeitgenossen zum Vorschein gebracht: den Rechthaber! Dabei handelt es sich in der Regel um Personen, deren Dummheiten wahrscheinlich schon von Kindesbeinen an in bester 68-er Tradition auch dann noch mit nachsichtig vorgetragenen Argumenten begegnet wurde, wenn es darum ging, nicht aus dem ersten Stock zu springen, nicht mit Vatis Raucherutensilien im Wohnzimmer ein Lagerfeuer zu entfachen beziehungsweise das Schwesterchen nicht mit einem Küchenmesser zu attackieren.

Es ist diesen selbstbewussten, stolz wie Solitärbäume in den Himmel ragenden und zugleich unerträglich lächerlichen Ausformungen des zeitgeistig egalitären Denkens schlicht unmöglich, die von Wissenschaftlern und Politikern überprüfte und immer wieder hinterfragte Einschätzung einer Gefahr und die daraus resultierenden Schutzmaßnahmen mit einem Anflug von Demut zu akzeptieren und sich nicht selbst für gescheiter als den Rest der Welt zu halten. Ein inzwischen bald 70 Jahre währendes Wirtschaftswunder hat leider die Weltsicht von Leuten gefördert, die glauben, das ganze Universum existiere nur um ihretwegen und kreise ausschließlich um ihre honette Person. Solchen Leuten ist es zu verdanken, dass die zweite Welle der Corona-Pandemie unser Land kurzzeitig sogar zum Weltmeister in Sachen steigende Infektionszahlen machte. Aber auch einem ServusTV ist es zu verdanken, das obskuranten Vorbetern, die es glänzend verstehen, dem zeitgeistigen Narzissmus des Publikums zu huldigen, die Bühne bietet. Und einer FPÖ, die am Strich der Anbiederung und in der Verzweiflung ihres Niedergangs in der Verharmlosung von Covid19 ein Alleinstellungsmerkmal gefunden zu haben glaubt.

Die gebetsmühlenartig wiederholte und von keinerlei Erkenntnisfortschritt irritierbare Behauptung, die Corona-Pandemie sei lediglich eine Grippe und der Lockdown weit überzogen, wurde auch in diesem Fall erst dadurch in die Schranken gewiesen, als im Hauptabendprogramm des ORF eine Reportage ausgestrahlt wurde, die über die bedrückenden Zustände in mit Covid-19-Patienten überfüllten Intensivstationen berichtete und die Interviews mit erschöpften Ärzten und Pflegekräften präsentierte, die zum Glück noch Kraft genug besaßen, sich wütend über die Verharmlosung der Krankheit und ihrer Gefährlichkeit zu äußern.

Im Zeigen von Bildern und Bildsequenzen erreicht die Macht von Bildmedien ihren Höhepunkt. Daher ist das Zeigen oder Verheimlichen von Bildern auch die relevanteste politische Entscheidung, die die Vierte Macht im Staate in einer Redaktionssitzung zu diskutieren, zu reflektieren und zu treffen hat. Denn jede Entscheidung, wie sie auch ausfällt, kann nicht nur dramatische Folgen nach sich ziehen, sondern sie beruht auch auf Argumenten, die in der Regel mit der öffentlichen Selbstbeauftragung und Selbsthuldigung von Medien wenig, mit dem eigenen Machterhalt und der Sicherung von Privilegien leider sehr viel zu tun haben.

Fortsetzung: Freitag 4. Dezember

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Lena

    Großartig an Schirachs Stück ist ja gerade, dass er einen schlicht Lebensmüden in den Mittelpunkt stellt und keinen sich in Schmerzen windenden, elenden Wurm, von dem im Zusammenhang mit Sterbehilfe gesprochen und nur für den es ausnahmsweise erlaubt sein soll. Sein Stück macht auf die Argumente der anderen Seite aufmerksam, die ja auch gut und nachvollziehbar sind. Aber wenn jemand nicht mehr Leben will, muss er auf brutale, riskante und/oder unwirksame Methoden zurückgreifen, weil effektive Medikamente für die meisten nicht zugänglich sind, das Wissen fehlt etc. Das ist auch so beabsichtigt, eine Säule der Suizidprävention ist die Abschreckung.
    Wir zwingen ihm evtl. unsere Meinung auf, dass das Leben immer lebenswert sei oder, wenn man für restriktive SH ist, wenn man nicht schwer behindert/krank sei.
    Ich vertrete die Position, dass jeder sein Leben beenden können soll, wann und wie er es möchte. Es steht uns nicht zu, seine Motive unseren Maßstäben von lebenswert oder nicht zu unterwerfen. Grundsätzlich ist Sterbehilfe zu erlauben, nur bei Menschen, die ihren Willen nicht äußern können, oder Minderjährigen einzuschränken bzw. zu verbieten, weil diese schutzbedürftig sind und es sich Staat und Familie gern leichter machen würden, also gerade die, von denen sie abhängig sind.

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