Alois Schöpf
100 Jahre Salzburger Festspiele
Das Gründungsstück des Festivals ist ein unsäglich verlogener, jedoch touristisch sehr einträglicher Schmarrn!
Ich habe ihn am eigenen Leib erfahren, diesen hohen Genuss, etwas Besseres zu sein! Die Freude, zumindest einen Abend lang zu den Reichen und Schönen zu gehören. Und das im Wohlklang tatsächlich großartiger Musik und tatsächlich großartiger musikalischer Leistungen. Die Frage ist wohl müßig, wovon die Salzburger Festspiele und andere hochkulturelle Festivals mehr leben: Vom Distinktionsgewinn derer, die sie auf Steuerkosten gestalten und besuchen dürfen, oder von der intrinsischen Überzeugungskraft der Kunstwerke selbst?
Letztere ist bei einem Stück wie „Jedermann“, das Hugo von Hofmannsthal aus den Versatzstücken alter Mysterienspiele zusammengeschustert hat, vollkommen ausgeschlossen. Man fragt sich vielmehr, ob es tragisch, schlicht geistig korrupt oder nur lächerlich ist, wenn 100 Jahre nach der Erstaufführung dieses „Jedermann“ vor dem Salzburger Dom und somit 100 Jahre nach dem Beginn der Salzburger Festspiele sämtliche Kommentatorinnen in kultursexuell erregtem Ton kritiklos vom „meist gespielten Theaterstück der Welt“ schwärmen. Um sich sodann umgehend der Frage zuzuwenden, welcher Staatsschauspieler in welchem Jahr in welcher Rolle in einer Weise outrieren durfte, dass, zumindest mich, schon nach wenigen Sätzen das kalte Grausen überkommt.
Ist das die einem 100-Jahr-Jubiläum würdige Vergangenheitsbewältigung, wenn über die Qualität des Gründungsstücks in dieser Art hinweggeschwiegen wird? Reicht es aus, politisch korrekt auf die zahlreichen Fehltritte der Künstlerschaft während der nationalsozialistischen Diktatur hinzuweisen, den unsäglichen Zynismus jedoch zu verdrängen, der am Beginn der Festspiele und damit auch am Beginn des republikanischen Österreich Pate steht. Karl Kraus wird schon gewusst haben, weshalb ihm ein Max Reinhardt so unsympathisch war. Die Tatsache jedenfalls, dass das Duo Hofmannsthal und Reinhardt nicht einmal zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs ein Stück auf die Bühne hievten, in dem wieder einmal ein katholischer Gott triumphiert, nachdem seine Schergen, in brüderlicher Umarmung mit einem senilen Kaiser und einem unfähigen Generalstab, ein ganzes Volk in den Untergang gepredigt haben, ist angesichts der Bildung der beiden Herrn nur mit der unüberbietbaren Eitelkeit von Künstlern zu erklären, die wertfrei einfach etwas machen wollten und dafür bereit waren, alle noch so schäbigen weltanschaulichen Bedingungen des ortsansäßigen Bischofs zu erfüllen.
Dabei ist Gott das geringste Problem des Stücks. Eine Existenz, die so schwer nachweisbar ist, bleibt naturgemäß immer ein Klischee. Dass jedoch ein Reicher nur deshalb, weil er reich ist und weil er seinen Reichtum nicht hergibt, schon ein Bösewicht sein muss, ist aus kapitalismuskritischer und linkskatholischer Sicht vielleicht noch tragbar. Dass seine Verworfenheit jedoch vor allem darin gründet, dass er eine schöne Freundin hat, der er einen Lustgarten kaufen möchte, verweist auf eine Lustfeindlichkeit, die den Menschen über Jahrhunderte die Freude am Leben vergällte und in gleicher Weise wie die Verbrechen des Nationalsozialismus durchaus der Reflexion und der Verurteilung wert wäre. Geradezu sadomasochistisch wird das Stück, wenn der Vorwurf an Jedermann lautet, er habe sich in seinem Leben zu wenig dem Leiden unterzogen, dies alles in eine holprige, künstlich verstümmelte Sprache gekleidet, die in eine ferne Vergangenheit verweist, in Wirklichkeit jedoch dringend eines Sprachkurses, dem Inhalt des Mysterienspiels entsprechend, für gefährliche Taliban-Kämpfer bedürfte. Fehlt nur noch der zynische Ausklang des Stücks, der in gegenaufklärerischer Tradition dem armen Sünder unter der Bedingung die Erlösung verheißt, sofern er zu glauben bereit ist. Die Desertion des wirtschaftlich Erfolgreichen in den religiösen Unsinn wird somit als höchste Tugend ausgewiesen. Und mit ihr wird ein Publikum entlassen, das eine solch dumme und gefährliche Moral allerdings nur unbewusst mit auf den Heimweg nimmt. Denn bewusst interessiert sich für dieses schlechte Stück und seine kitschig niederträchtige Aussage schon längst niemand mehr. Bewusst wird lediglich darüber diskutiert, welcher prominente Mime, wie eingangs bereits mit dem Begriff „outrieren“ angedeutet, sich am jeweiligen Abend als besonders attraktiv erweist und damit die Einnahmen der Festspiele bei gleichzeitig geringem technischen Aufwand sprudeln lässt.
Wenn der aus Salzburg stammende Autor Thomas Bernhard immer wieder vom nationalsozialistisch-katholischen Österreich spricht, so ist diese Eigenschaft, durchaus in seinem Sinne, im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, die Entstehung der Republik und der Salzburger Festspiele durch die Begriffe „geldgierig“ und „touristisch“ zu ergänzen. So sehr nämlich dem Tourismus auch in Salzburg nicht das Verdienst abzusprechen ist, für den Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten gesorgt zu haben, so wäre es nicht ein unbilliges Begehren, dass er einen Teil seines Gewinnes auch dazu benützen könnte, im Sinne einer ehrlichen Vergangenheitsbewältigung mit der Verlogenheit, auf der er aufbaut, Schluss statt weiterhin ein glänzendes Geschäft zu machen. Nur aus dieser Verweigerung heraus ist es zu erklären, dass ein so miserables Stück wie „Jedermann“ unwidersprochen bis heute gespielt werden kann und im 100-Jahr-Jubiläum der Salzburger Festspiele ohne jeden Anflug der Reflexion oder Selbstkritik als geistig verhurte Einnahmequelle durchgewunken wird.