Stephan Wyss
In Gottes Namen
Essay

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1913, beschloss in Prag ein neunzehnjähriger Sohn reicher, gebildeter, liberaler Juden  ein Aussteiger zu werden, besorgte sich eine Fahrkarte nach Ostgalizien, nach Belz in der Ukraine, in der Absicht, unter jenen Chassidim zu leben, die dort, geographisch fünfhundert Kilometer weit entfernt und kulturell um eben diese Anzahl an Jahren zurückgeblieben, eine jiddische Welt lebten und pflegten, die wenige Jahrzehnte später radikal ausgelöscht werden sollte, Jiri Mordechai Langer, Bruder des Arztes und Dichters Frantisek, Freund Franz Kafkas und später in Israel Max Brods. Mehr als Jiris Aufbruch entsetzte Familie, Bekannte und den Bruder seine Heimkehr:

Er stand mir in einem schäbigen, kaftanähnlich geschnittenen schwarzen Rock gegenüber, der vom Kinn bis zum Boden reichte, und auf dem Kopf hatte er einen runden, breiten Hut aus schwarzem Plüsch, tief in den Nacken geschoben. Er stand gebeugt, Wangen und Kinn waren von einem rötlichen Bart überwachsen und vor den Ohren hing ihm das Haar in spiraligen Locken bis zu den Schultern. Die Pejes. Sonst war vom Gesicht nur weisse, ungesunde Haut geblieben und Augen, bald müde, bald fieberhaft. Mein Bruder war nicht aus Belz weggefahren und nach Hause gekommen in die Zivilisation, mein Bruder hatte Belz mit sich gebracht. (15f)

Mit Belz aber auch eine überreiche literarische Ernte miteingefahren, die freilich erst sicht- und geniessbar wurde, als er sich selbst, nicht zuletzt über die Lektüre Sigmund Freuds, wieder zivilisiert hatte, Erzählungen der Chassidim, nein, Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim, denn Erzählungen der Chassidim sollten Martin Bubers Werk werden, Jiri Mordechai Langer unterscheidet sich vom Klassiker durch kindlich unbeschwerte Spontaneität des Augen- und Ohrenzeugen, schreibt nicht wie Buber von Rabbi Uri von Strelitz, sondern fabuliert vertraulich und zärtlich von Reb Irele von Streliska, vom gelehrten Irelicek. Wer war Irelicek? Bevor er Reb Irele von Streliska war, ein aufgrund ebenso grosser Gelehrsamkeit wie Armut bekannter Jidde in Lemberg.

Damals lebte, so nun im Wortlaut Jiri Mordechai Langer, in Lemberg der reiche Lejb Mimeles, ein Schwager des heiligen Sehers von Lublin. Reb Lejb Mimeles gewann den gelehrten Irelicek sehr lieb. Eines Tages fragte er ihn: „Wovon lebt ihr eigentlich?“ „Cho cvaj ki“ entgegnete Irele lakonisch. Jeder hätte das so verstanden, dass Irele gesagt hat, er habe zwei Kühe. Denn Kuh heisst auf Jiddisch ky. Auch Reb Mimeles verstand es so. Und weil er dem frommen Mann helfen wollte, verfügte er zuhause, dass man die Milch nächstens nur bei Reb Irele kaufen soll. Und also suchte man den Keller auf, der Ireles Wohnung war. Kühe gab es dort nicht. „Wie konntet ihr mir gestern sagen, dass ihr zwei Kühe habt!“ warf ihm der Reiche am nächsten Tag vor. „Ach verzeiht“, entschuldigte sich Irele, „so habe ich das doch nicht gemeint. Ich hatte nicht das jiddische Wort ky im Sinn, sondern die zwei hebräischen ki aus einem Vers der heiligen Schrift: Denn in Gott freut sich unser Herz, denn in seinen heiligen Namen hoffen wir.“ – Hebräisch ki heisst nämlich DENN (134f)

Zwei DENN, zwei Kausalitäten. Wovon lebt ihr eigentlich? Von der Herzensfreude in Gott. Woraus speist sich diese? Aus der Hoffnung in seinen heiligen Namen. Letztursache, Erstursache des Lebens ist der Name Gottes – wie lautet er? Das sagt nicht mehr Irele von Streliska, das ist jüdischer Gemeinplatz: JHW, Ich bin da. Ein Name, der zunächst nichts mehr bezeichnet als Anwesenheit, Präsenz. Zunächst. Dann aber hört ein Jude, wessen Anwesenheit, wessen Präsenz: dessen, der die Unterjochten aus dem Exil in die Würde frei bewirteter Heimat geführt hat, so das Buch Exodus zu den Juden, die in Ägypten gelitten hatten. Wo leiden die Chassidim? In Ost-Galizien, in Podolien und Wolhynien, wo sie ein neues Exil fanden, nachdem sie im vierzehnten Jahrhundert aus dem vorhergehenden in den deutschen Rheinstädten als Brunnenvergifter und Verursacher der grossen Pest vertrieben worden waren, potenziertes, mehrfach potenziertes Exil, das kaum mehr glauben lässt, dass eine Heimat im Rücken je da war, in der Zukunft je da sein wird. Und den Ich bin da schwach aussehen lässt. Und das ist er, wie die Rede der Chassidim von der Schechina nun sagt. Doch zuvor ein vorläufig letzter Versuch, die Exilierten heimzuführen, Sabbatai Zwi.

Der Messianismus in der ostjüdischen Diaspora, die Hoffnung, es käme doch nun endlich der Gesandte Gottes, der sein immer und immer wieder vertriebenes Volk ein für alle Mal heim führte, fand seinen Höhepunkt und sein Ende im siebzehnten Jahrhundert mit dem Scharlatan Sabbatai Zwi, der vom Balkan aus verzweifelte Juden in Osteuropa in Scharen zu einem neuen und letzten Exodus über Konstantinopel zum Heiligen Land verführte, sie indes auf der Strecke liess und selber schliesslich zum Islam konvertierte.

Diese Enttäuschung hatte indessen einen grossen, einen grössten Gedanken zur Folge, in dem der Chassidismus seinen Grund finden sollte: Wenn Gott, von menschlicher Bosheit daran gehindert ist, sein geliebtes Volk heimzuführen, so kann ihn doch nichts daran hindern, sich aus Barmherzigkeit und Mitleid selbst ins Exil zu begeben, damit ihn sein Volk doch immerhin dort bei sich finde. Was aber ist das Exil Gottes? Für den, der vor, über und nach der Schöpfung ist, die Schöpfung, die Geschöpfe, in ihnen nimmt Gott sich Einwohnung oder Wohnstatt, Schechina. So der Name der Wolke, in der Gott einst über der Bundeslade schwebte und dem Volk auf dem Weg durch die Wüste weisend voranging. Die Schechina ist, so Martin Buber, Gottes Weltschicksal und er wird nun selbst erlösungsbedürftig, indem er aus der Zeit in die Ewigkeit zurückkehren möchte. Der Chassid, der Gläubige, kann ihm zur Hilfe kommen, der höchst Erlösungsbedürftige selbst zum Erlöser werden: Indem er dem zeitlichen Ding, dem zeitlichen Geschöpf, mit dem er eben beschäftigt ist, so klein und minderwertig es sein mag, mit der grössten ihm nur möglichen Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Zuwendung und Hingabe begegnet – chawwana heisst das – und damit auf ein Mal von grösster Freude beglückt wird – hitlawahut -, hat er Gewissheit gefunden, dass die Schechina aus der Zeit in die Ewigkeit zurückgefunden hat, Ewigkeit und Zeit wieder geeint sind, ewige Heimat, JHW, Ich bin da.

Nie hat jüdische Theologie näher zum Christentum gedacht, zur barmherzigen Menschwerdung Gottes, der so mit der Barmherzigkeit des Menschen am Menschen den Königsweg zu Gott gewiesen hatte, dem franziskanischen zumal, dem über das Kind in der Krippe die kleinsten Dinge zum Anlass werden konnten, der Einwohnung Gottes in der Schöpfung, der Schechina zu begegnen. Tatsächlich darf wohl behauptet werden, dass die franziskanische Freude, die sich an der Zuwendung zum geringsten Geschöpf entzündet und darin die überwältigende Erfahrung der Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit macht, von jener der Chassidim, von jener vielleicht auch der Zen-Buddhisten in nichts sich unterscheidet, vielleicht das intimste Erleben von Religion überhaupt indiziert.

Zeit wird mit Ewigkeit aufgeladen, das geringste Geschöpf mit grösster Bedeutung, das Exil wird zur ewigen Heimat, Cho cvaj ki, das Herz des armen Reb Irele hat im Namen Gottes seine Hoffnung erfüllt und zur Ruhe gefunden.

In meinem Garten, wo Pflaumen-, Kirsch- und Apfelbäume gedeihen, Hasel, Holunder, Weissdorn, Schwarzdorn und Liguster, Weinreben, blaue und weisse, Beeren sowie Gemüse und Blütenpflanzen aller Art, erstrecken sich an seinem Ende gegen Sonnenuntergang zwei langgezogene Rosenbeete, getrennt durch ein Kiesweglein, nach Süden und Norden – weil im Hang liegend – abgestützt von zwei Trockensteinmäuerchen, in denen sich Eidechsen, Spitzmäuse, Ringelnattern gezeigt haben. Das Weglein führt in eine Pergola, die, von einem hohen Rosenstrauch und einer Chasselas-Rebe bedeckt, den Garten nach Westen hin abschliesst. An seinem Eingang hin zwischen die Beete steht auf der Trockensteinmauer rechts ein irdener Topf, roter Ocker, mit antikisierenden Henkeln, gefüllt mit Erde, aber nicht bepflanzt, von mir da hingestellt für die Schechina. Er ist nicht die Schechina, erwartet nicht einmal, dass die Schechina auf ihrer bekümmerten Wanderung durch das weltweite Exil sich eines Tages da niederlässt, wiewohl er für das und nichts anderes gedacht wäre. Er ist nichts als ein Wort, ein Wort der Achtsamkeit auf Antwort, der Bereitschaft, der Offenheit, er ist da in Erwartung des Ich bin da, in Erwartung einer Begegnung. Die nicht im Garten stattfinden muss, Exil und die Schechina finden sich überall, wenngleich er ein privilegierter Ort ist, wie der biblische Paradiesgarten sagt, wo der Mensch in der Gegenwart des lebendigen Gottes weilte, wie der biblische Garten bei den Gräbern sagt, wo die Frau dem getöteten und von den Toten auferstandenen Sohn des Gottes begegnete.

Wir sind im Garten, verlassen wir ihn nicht, spazieren wir, begleitet von Martin Buber, der ein geübtes Auge hat, ein geübtes Ohr zumal, unter Bäumen, zwischen Sträuchern und Beeten und merken wir auf, was uns begegnet, ob uns etwas begegnet. Zunächst nehmen wir mit unseren Sinnen alles Mögliche in diesem Garten, den Garten selbst wahr, womit überhaupt erst alles Mögliche in diesem Garten und der Garten selbst in Wahrheit und nicht bloss vermutet oder fingiert da ist, esse est percipi, Sein ist Wahrgenommenwerden, so der Philosoph George Berkeley. Aber sind wir damit schon etwas begegnet? Dort sehe ich einen blassblauen Rittersporn stehen und blühen! Ich lokalisiere, beschreibe, benenne, definiere, identifiziere ein Wahrgenommenes, mache es dingfest, kann es nun verwenden, verwerten, es pflücken und im Wohnzimmer in eine Vase stellen, auf dass auch dort ein bisschen Garten sei. Gewiss zeige ich damit eine Wertschätzung, aber das Geschätzte bleibt mir dennoch Gegenstand, Ding, äusserliches, an das mich nichts bindet ausser meinen Absichten, sofern ich welche habe. Wahrnehmen indes heisst nicht nur Sehen, das immer Gegenstände sieht, dort ist, ich sehe es, es kann auch Hören heissen, Vernehmen einer Ansprache, eines Wortes, das Antwort erwartet, statt dass ich ihn sehe, spricht mich der Rittersporn an und eröffnet in Erwartung meiner Rücksprache ein Gespräch. Was sagt er?

Sieh da, ich wiege mich im Wind, bin seit dem Aufbrechen meiner ersten Blätter aus dem noch kühlen Frühlingsboden gross und kräftig geworden, stolz auf drei stattliche Blütenstände, auf denen sich ungezählte blaue Blumen öffnen, auf dass Bienen, Hummeln, Fliegen sie besuchen kommen und mir und sich selbst damit Gutes tun, Dir zu Freud und Gefallen. Wessen ich bedarf, ist fruchtbare Erde, Feuchtigkeit und vielleicht eine Stütze für meine allzu stolze Grösse, die einem allzu starken Wind zum Opfer fallen könnte.

Ich hole die Giesskanne, ein schlankes Bambusrohr und Bast und sehe zu, dem bedürftigen Gegenüber – nicht Gegenstand – zu entsprechen, was es mir mit seiner Schönheit dankt; die Blume wird verblassen, aber das Gegenüber bleibt, sie wird sterben, aber die Begegnung war da. So unser Gespräch, indem sie wie ich einmal Ich, einmal Du ist, einmal Wort, einmal Antwort; im achtsamen Aufmerken, das mehr ist als Wahrnehmen, ist es zu einer Begegnung gekommen, in der nicht Gegenstände einander entgegenstehen, sondern jedes einmal sich selbst und das Andere ist, Wort und Antwort. Begegnung ist Interesse, nicht im üblichen Sinn von Absicht, sondern im wörtliche Sinn von inter-esse, das Sein dazwischen. Dort und dann wo und wann es gelingt, dort wo es gelungene, geglückte Begegnung ist, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Dankbarkeit, erscheint mit einem Mal, plötzlich eine Wirklichkeit der dritten Art, nicht meine und nicht die des Andern, sondern die glückliche und beglückende Wirklichkeit der geglückten Begegnung, Eins wie das Andere für einen unzeitigen Augenblick anwesend im Ich bin da, die Schechina hat heimgefunden, die Zeit ist mit Ewigkeit aufgeladen. Das ist nicht mystisches Erleben, es ist weniger und mehr. Mystisches Erleben meint nicht Begegnung des Einen mit dem Andern, sondern Verschmelzung des Einen mit dem Andern , Aufhebung des Einen und des Andern im rein Indiskreten, wo sie in der blossen Wahrnehmung rein Diskretes waren. Mystisches Erleben ist erotische Liebe, während die glückliche Wirklichkeit der geglückten Begegnung in der Barmherzigkeit gründet, in der Erwartung eines Wortes, das Antwort erwartet, im Ich bin da, in dem Eins und das Andere sich begegnen, Zeit für einen Augenblick zur Ewigkeit wird. Nächstes Mal vielleicht in der Stadt.

Ich nehme Abschied von meiner Blume und meiner Begleitung – es ist dem Menschen keine glückliche Wirklichkeit ohne Abschied vergönnt – und setze mich mit einem frischen Bier in die Pergola und sage nach dem ersten Schluck lachend mit Reb Irele von Streliska: Cho cvaj ki! (Ewige Heimat!)

Marly, Schweiz, Oktober 2020

Stephan Wyss, Der heilige Franziskus von Assisi: vom Durchschauen der Dinge, Edition Exodus  2000

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