Alois Schöpf
Kunst oder Eitelkeit mit Staberl
Beim Dirigieren geht es nicht um Schlagtechnik, sondern darum, etwas zu sagen zu haben.
Essay

Der folgende Artikel wird viele ärgern, insbesondere solch honorige Persönlichkeiten, die manchmal oder gar ein Leben lang ihr Selbstbewusstsein aufmöbelten, indem sie versuchten, armen Schülern, die verehrungsbereit zu ihnen aufschauten, das Dirigieren beizubringen. Leider verwechselten die meisten von ihnen diese Tätigkeit mit der Fähigkeit, mit einem weißen „Staberl“, wie wir Österreicher sagen würden, genau vorgeschriebene Figuren in die Luft zu zeichnen.

Ich denke dabei an einen besonders berühmten Herrn, der mit dem Ruf eines internationalen Blasmusikgurus nach Innsbruck angereist kam, um uns die Frohbotschaft zu vermitteln, man könne nur mit dem richtigen „Puls“ (ich habe bis heute nicht verstanden, was er darunter verstand) ein Orchester leiten. Statt Atemübungen hatten wir gleichsam als Yogaübung den Viervierteltakt zu schlagen. Der bedeutende Mann, der nach kurzem und eher erfolglosem Engagement bei einem berühmten Militärorchester nie mehr ein Blasorchester leitete, mit dem man ihn etwa zu den Innsbrucker Promenadenkonzerten hätte einladen können, um seine Leistung als Dirigent zu beurteilen, ging strengen Blicks durch die Reihen und kontrollierte genau, wer bereit war, bei seinem Zauber mitzumachen. Wer sich verweigerte oder auch nur den Verdacht aufkommen ließ, es zu tun, wurde umgehend als untalentierter Nichtskönner niedergemacht.

Ich denke aber auch an Leute, die über Jahre im Konservatorium Dirigierkurse leiteten und dann, selbst einmal vor einem fremden Orchester stehend, nicht einmal den einfachsten Auftakt bzw. einen korrekten Abschlag zustande brachten. Womit ich bei der These des vorliegenden Artikels angelangt wäre, die lautet: Schlagtechnik wird oftmals von Leuten, die sonst künstlerisch nichts zu sagen haben, weit überbewertet und ist, so vorteilhaft es auch sein mag, wenn man über sie verfügt, nur dann wirklich von Bedeutung, wenn man ein Orchester zu dirigieren hat, das man nicht kennt und das den Dirigenten nicht kennt. Und sie ist, zweitens, wichtig, wenn es darum geht, bei bestimmten heiklen Stellen das Orchester zusammen zu halten.

Das grandioseste Beispiel dafür, wie Dirigieren zur reinen Eitelkeit und im konkreten Fall zu einer postfaschistischen Verlagerung des hitler`schen Führerprinzips ins Wirtschaftswunderzeitalter verkommen konnte, demonstriert übrigens die Konzertaufnahme mit der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven, dirigiert von Herbert von Karajan und gespielt von den in diesem Fall bedauernswerten, zu Statisten degradierten Berliner Philharmonikern. Hier gerät dem ansonsten ja durchaus mit großen Verdiensten gesegneten Maestro vollkommen aus dem Blickfeld, dass nicht er die Symphonie komponiert hat, sondern Beethoven, und dass nicht er die Musik zum Erklingen bringt, sondern seine Musiker. Die Tatsache, dass er sich dennoch gebärdet, als sei beides sein ureigenes Verdienst, lässt die Aufnahme zu einem ewigen Mahnmal der unerträglichen Eitelkeit und des künstlerischen Cäsarenwahns werden.

Ganz anders geht es da schon Laurence Equilbey mit ihrem Insula Orchestra an. Nach Maßgabe sämtlicher Kapellmeisterkurse, die ich im Laufe meines Lebens besuchte, „kann“ die Dame, eine ehemalige Chorleiterin, nämlich „nicht dirigieren“, was allerdings nichts daran ändert, dass Beethovens Fünfte, von ihrem grandiosen Orchester auf sogenannten Originalinstrumenten gespielt, in ihrer unverstellten, lustvollen Intensität die gequälte und lediglich geheuchelte Intensität der Karajan´schen Interpretation weit übertrifft. Was die schlagtechnische Kunst des Dirigierens betrifft, muss ebenso ein gewisser Nikolaus Harnoncourt, seines Zeichens ehemaliger Cellist der Wiener Symphoniker, unter die „Dilettanten“ eingereiht werden. Auch in diesem Fall ändert solches Unvermögen nichts daran, dass er einer der bekanntesten Dirigenten mit den meisten Platteneinspielungen weltweit war. Nicht minder „dilettantisch“ gebärdet sich übrigens auch René Jacobs, absoluter Star in der Alten-Musik-Szene und Wiederentdecker bedeutender und vergessener Opernwerke, wenn er mit heftigen Ruderbewegungen ins Klanggespinst einer Oper von Georg Friedrich Händel eintaucht und von der ersten Sekunde an keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass höchste künstlerische Intensität angesagt ist.

Über die Qualität eines Dirigenten entscheidet eben nicht die Schlagtechnik, die, im schlimmsten Fall gar in voller Montur vor dem Spiegel zum Zwecke erfolgreichen Blendens einstudiert wird. Entscheidend ist, ob jemand aus tiefer innerer Erfahrung und Leidenschaft heraus in der Lage ist, seinen Mitmenschen emotional etwas mitzuteilen. Der Dirigent muss wissen, was im Leben die Ekstasen der fallweise sogar himmlischen Freude und die Abgründe des Leidens sind. Und er muss dieses Wissen mit einer umfassenden Hörerfahrung vor allem im Bereich der klassischen Musik und mit einem daraus entwickelten unbestechlichen Geschmack dem Orchester vermitteln können. Und zwar nicht als ewig schwätzender, mit Bildung prunkender und zuletzt miserabel dirigierender Lehrer, sondern als einfallsreicher Zauberer, der, wenn die Dirigierausbildung ihrem Namen gerecht würde, von seinen erfahrenen Vorbildern gelernt haben sollte, mit welchen Tricks und Überredungskünsten man den Musikern und ihren Instrumenten jene Töne entlockt, die in ihrer Gesamtheit die Magie einer gelungenen Aufführung ergeben. Die wichtigste Information der Musik besteht eben nicht aus Taktstrichen, sondern aus emotionalen Spannungen, die der Dirigent, wenn er ein Orchester kennt und wenn das Orchester ihn kennt, im Kopfstand, im Liegen, durch Zwinkern, Ohrenwackeln oder wie Ernst Mosch es tat, durch das Vorschieben eines auf einer gewaltigen Halsfalte aufsitzenden Kinns seinen Musikerinnen und Musikern verständlich macht.

Bleibt nur noch zu sagen, dass all diese Kriterien im Idealfall natürlich auch für den Kapellmeister der kleinsten Dorfkapelle gelten sollten, würde er doch durch die beschriebenen Fähigkeiten den Mitgliedern seines Musikvereins mehr mitgeben als lediglich die Gelegenheit, ein- oder zweimal in der Woche gemeinsam zu musizieren. Er würde sie authentisch mit dem konfrontieren, was Kunst im Medium der Musik ist und sein kann: eine klingende Himmelsleiter, die es gilt, sich an der Hand zweier Schamanen, des Komponisten und des Dirigenten, aus den Tiefen der Hölle aufsteigend bis in die Höhe des Paradieses und wieder zurück als bereichernde und unverzichtbare Lebenserfahrung zu erspielen.

Herbert von Karajan dirigiert die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven mit den Berliner Philharmonikern: (https://www.youtube.com/watch?v=9aDEq3u5huA).

Laurence Equilbey dirigiert die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven mit dem Insula Orchestra:
(https://www.youtube.com/watch?v=TG_1B3eARjQ)
Nikolaus Harnoncourt dirigiert und probt die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven:
(https://www.youtube.com/watch?v=O9Mrk62TyI4).
Rene Jacobs dirigiert „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ von Georg Friedrich Händel:
(https://www.youtube.com/watch?v=aGvlwTUhSL8)


Erschienen in: Blasmusik, Offizielle Fach- und Verbandszeitschrift des Bundes Deutscher Blasmusikverbände

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Amandus Feiel

    Servus Alois,
    sehr pointierte aber treffsichere Analyse eines Handwerks, das viele machen, aber wenige wirklich können. Ergänzen möchte ich aber auch noch, dass ein Dirigent nicht nur seine Musiker dirigieren können sollte, sondern auch das Publikum. Was nützt der beste „Wachtler“, wenn er das von ihm dirigierte Orchester oder die Kapelle nicht mit dem Publikum verbinden kann. Es kann ein musikalisch hochwertige,s aber für die Zuhörer ein ‚fades‘ Konzert werden.
    Ich danke Dir für die großartige Organisation der Konzerte in der Residenz, es war für mich jedesmal ein besonderes Erlebnis dort zu spielen.
    Beste musikalische Grüße aus Salzburg.

  2. Thomas

    Alois, wirklich großartig analysiert! Bin fast zu 100%ebenso deiner Meinung!
    Lg thomas

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