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Alois Schöpf
Hedonisten streiten nicht gern.
Corona bedroht nicht nur die Gesundheit, sondern auch Freundschaften.
Essay

Über die Grundlagen unseres praktischen und alltäglichen Lebens wird so elegant hinweggeschwiegen wie über die genaue Höhe der Einnahmen, die jeder für sich verbuchen kann. So ist der innenpolitische und außenpolitische Frieden, in dem wir seit Jahrzehnten wie in einer geschichtlichen Wunderlinse leben, ebenso wenig ein Thema wie ein trotz allen Gejammers unglaublicher, vollmotorisierter, computer- und internetgestützter Wohlstand. Gesund zu sein ist eine Selbstverständlichkeit. Bei Krankheit bricht Panik aus. Dass wir in diesem Fall auf ein exzellentes Gesundheitssystem zurückgreifen können, wird als selbstverständlich betrachtet. Selbstverständlich ist auch, dass die meisten von uns über ausreichend finanzielle Mittel verfügen und der Kauf eines Buches, eines Sportgeräts oder auch eines Kleidungsstücks nicht zur Frage führt, ob wir uns das leisten können.

Selbstverständlich ist, dass wir privilegiert sind, in einem Land zu leben, in das andere Leute von weit her kommen, um Urlaub machen. Und dass wir, wenn schon nicht in großen, so doch immerhin in geheizten Zimmern wohnen. Dass uns keine gesellschaftliche Bigotterie daran hindert, Beziehungen mit wem auch immer einzugehen. Ein erneuertes Bewusstsein, in Freiheit zu leben, verdanken wir übrigens der Pandemie, durch die uns aufgrund von Reisebeschränkungen ein Teil dieses Komforts abhanden gekommen ist. Wir haben so wenig daran gedacht wie wir auch kaum Dankbarkeit empfinden, jeden Tag ausreichend und gut essen zu können. Es erfüllt uns eher mit Freude, wenn es gelingt, die Gefahr, übergewichtig zu werden, in Grenzen zu halten.

Das Philosophieren, also das Nachdenken über die drei entscheidenden Fragen des Menschseins: wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen? – ist zum Medium der Abendunterhaltung geworden, um sich auf der Suche nach Distinktionsgewinn auf diskrete Art und Weise als auf der Höhe der Zeit befindlich zu präsentieren. Dass dabei die Liste der Themen, über die man besser nicht spricht, damit das Vergnügen des gemütlichen Zusammenseins erhalten bleibt, immer länger wurde, ist längst ein ebenso verschwiegenes kollektives Gemeingut wie die Grundlagen unseres Wohllebens, das unter keinen Umständen gestört werden darf. Vorbei sind die letzten Nachwehen jener wunderbar kindlichen, verblendeten 68-er Revolution, als man glaubte, der Königsweg zum guten Leben führe über schonungslose Offenheit zur, wenn man nur lange genug gestritten habe, kollektiven Annäherung an die Wahrheit. Die Lüge vergeht, nur die Wahrheit besteht, galt als Grundsatz. Heute kann der Kommentar dazu mit Ernst Jandl nur lauten: Werch ein Illtum!

So werden Fragen, ob wir die Migration befürworten, den Klimawandel ernst nehmen, uns darüber empören, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, und im übrigen akzeptieren, eine multikulturelle Gesellschaft zu sein, ebenso gemieden wie eine Debatte darüber, ob jemand an Jesus Christus als den eingeborenen Sohn Gottes glaubt. Da diesbezügliche Meinungen keine Auswirkungen auf das konkrete Verhalten der Anwesenden zueinander haben, ist die Selbstzensur leicht zu verkraften. Migrationskatastrophen passieren bekanntlich im Mittelmeer und nicht im Zweithaus am Land, Asylbescheide werden auf Ämtern ausgestellt und allfällige Affinitäten zum Katholizismus sind inzwischen dermaßen verwässert, dass selbst bei Themen wie Abtreibung und Liberalisierung der Sterbehilfe Gegensätze bestenfalls zu den Ansichten der offiziellen Amtskirche, kaum jedoch zu Personen bestehen, die, auch wenn sie Gottesdienste besuchen, mit ihrer Privattheologie weit außerhalb des dogmatisch abgesteckten Heils ihrer Kirche stehen.

Schon etwas heikler wird das Behüten des abendlichen Friedensfeuers, wenn es um Fragen des Feminismus geht. Hier befleißigen sich anwesende, im schlimmsten Fall „weiße, alte Männer“ als versierte und ausreichend gescholtene Taktiker wortkarger Zustimmung und hoffen im Übrigen auf baldigen Themenwechsel. In endgültiges Schweigen verfallen hingegen die Anhänger der modernen Naturwissenschaften, wenn, als unausbleibliches Fatum der meisten Gespräche, zuletzt esoterische Wasser befahren werden und von der Homöopathie über Yoga bis zur Energetik, von der Radiästhesie bis zur traditionellen chinesischen Medizin und Fragen der Tierkreiszeichen die Errungenschaften der Europäischen Aufklärung der Zerstreuungslust der narzisstischen Postmoderne zum Opfer fallen. Denn es gilt schlicht als unhöflich und weitab von jeder zeitgeistig verordneten Achtsamkeit, bei solchen Gelegenheiten auf einem Minimum an verifizierbaren und außer Streit gestellten Tatsachen und Erkenntnismethoden zu bestehen. Zu bestehen ist vielmehr auf der Harmonie des Abends, des gegenseitigen Austauschs und der daraus abgeleiteten Selbstfeier aller durch alle.

Diese für das eigene Vergnügen instrumentalisierte sogenannte Toleranz hat inzwischen dazu geführt, dass wir im Hinblick auf eine friedliche und dennoch der Wahrheit verpflichtete, schonungslose öffentliche Debatte verlernt haben, wie vorzugehen ist, wenn plötzlich ein Problem – wie die derzeit wütende (oder nach Ansicht anderer eben auch nicht wütende) Pandemie – auftritt, ein Problem, das nicht mehr nur als Möglichkeit amüsanter Abendunterhaltung über unseren Köpfen schwebt, sondern massiv in die Grundlagen unseres hedonistischen Lebens einzugreifen droht. Wie also mit Zeitgenossen umzugehen ist, deren (aus unserer Sicht) Unsinnsbehauptungen bisher als harmlos abgehakt, belächelt oder übergangen werden konnten, die nun jedoch durch ihr sogenanntes Querdenken und die daraus folgende Nichtbeachtung von Quarantänemaßnahmen und Regierungsvorschriften im Kampf gegen die Pandemie ganz offen ein Bekenntnis zu asozialem Verhalten ablegen.

Plötzlich ist es nicht mehr möglich, einfach das Thema zu wechseln. Die Realität drängt es uns tagtäglich wieder auf. Plötzlich ist es auch nicht mehr möglich, höflich zu schweigen, wenn das Verhalten bester Freunde und Freundinnen die Gefahr in sich birgt, infiziert zu werden, im Spital zu landen und im schlimmsten Fall auf der Intensivstation aufgrund von Sauerstoffmangel das Leben unter schrecklichen Umständen beenden zu müssen. Plötzlich wird aus der charmanten Lässigkeit liebenswürdiger Zeitgenossen, denen es bisher gelang, Steuererklärungen und Verkehrsregeln lediglich als leichte Trübung der persönlichen Lebensfreude einzustufen, akute und gefährliche Dummheit. Soll man es ihnen sagen, dass man sie schlicht und einfach für Arschlöcher hält? Für eitle Deppen? Darf man es ihnen sagen? Was brächte es, wenn man es ihnen sagen würde? Schon in besseren Zeiten stießen ja vorsichtig formulierte Argumente gegen die jeweiligen Monstren des zeitgeistigen Aberglaubens auf Unwillen und den lächelnd vorgebrachten Tadel, doch nicht immer so lästig und besserwisserisch zu sein. Nein, eigentlich bleibt nur noch die Möglichkeit, all diese Leute, auch wenn sie bisher noch so gute Freunde und Freundinnen waren, in Zukunft um des lieben Friedens willens zu meiden und fairerweise in Kauf zu nehmen, auch von ihnen gemieden zu werden.

Dort halten wir derzeit. Die Frage bleibt, wohin, von all den persönlichen Befindlichkeiten abgesehen, eine Gesellschaft unterwegs ist, wenn in relevanten politischen Fragen selbst jene sozialen Netzwerke, die bisher, wenn auch angewandt auf harmlose Themen, über eine zumindest theoretisch hohe Problemlösungskompetenz verfügten, aufgrund unüberbrückbarer Meinungsgegensätze nicht mehr funktionieren und in gegenseitiger Abneigung, ja Hass aufgrund von vollkommen verschiedener Einschätzung von Lebensgefahren auseinanderbrechen?

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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