Print Friendly, PDF & Email

Walter Klier
Die Jammerergeneration
Aus dem Leben eines abgefallenen Grünen
Essay

Der Ausdruck „Jammerergeneration“ stammt von meinem Vater, mit dem meine Schwester und ich einst, trotz erheblicher ideologischer Differenzen, immer gerne diskutierten. Auch er diskutierte gerne mit uns – alle daran Beteiligten waren sich sicher, bei genügender Stärke der eigenen Argumente den anderen schließlich doch noch überzeugen zu können.

Anschließend konnten wir Kinder uns maßlos über seine Verbohrtheit ärgern, wenn er die scharfsinnige Kapitalismuskritik auch als persönlichen Affront nahm (er war ein sehr erfolgreicher Unternehmer), während er sich über das Wolkenkuckucksheim, in dem wir uns offenbar, trotz seiner vorbeugenden weltanschaulichen Erziehungsmaßnahmen, eingenistet hatten, nicht minder maßlos alterierte. So hatten wir alle recht, jeder für sich, und dabei blieb es.

Im übrigen lebten wir wie die Maden im Speck und waren ziemlich brave Kinder. Zwar hatte ich das Studium der Geisteswissenschaften bald wegen unaushaltbarer Langweiligkeit und endlosen Sitzens in geschlossenen Räumen aufgegeben, doch verdiente ich ungefähr ab dem 18. Lebensjahr mein eigenes Geld mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln, Romanen und Bergbüchern; er hatte das in seinem früheren, weniger erfolgreichen Leben als Schriftsteller auch so gehalten und schien immerhin ausreichend zufrieden darüber, dass ich die Tradition weiterführte.

Meine Schwester studierte fleißig Medizin, da konnte man über ihr Engagement für die „Kritische Medizin Innsbruck“ hinwegsehen, die sich für Abtreibung, Homöopathie, Akupunktur und gegen einen frauenfeindlichen Professor der Gynäkologie an der hiesigen Uni engagierte.

Das viele schöne Geld, das der Vater verdiente und das uns jedenfalls ein sorgenloses Leben garantierte, kam von einer Seilbahn, also von einem wesentlich naturzerstörerischen Unterfangen. Neben der Kapitalismuskritik erschien damals, fast aus dem Nichts, plötzlich „die Natur“ ganz oben auf der Dringlichkeitsliste der jungen Menschen, die nach dem Edlen und Hohen strebten.

Im Jahre 1977, gewissermaßen unser Jahr der Wende, erkannten wir, dass die RAF einen Irrweg beschritten hatte. Gewaltlosigkeit stand auf der Agenda, und die vorderhand größte Bedrohung stellte die Kernkraft, nämlich ihre sogenannte friedliche Nutzung dar, gegen die man sich mit aller Macht zu stemmen hatte. Das war nur folgerichtig, hatte unsere Welt doch die drei Jahrzehnte nach dem letzten echten in der panischen Angst vor dem möglichen nächsten Krieg zugebracht. Wir übernahmen – brav wie wir waren – beide Ängste, waren also friedensbewegt, und, als wäre das nicht genug, kämpften wir zusätzlich für die Umwelt und gegen „das Atom“, wie das kurz genannt wurde.

Noch waren wir wenige, aber wir würden bald viele sein, und da war jeder einzelne gefragt. Wir demonstrierten gegen das im Bau befindliche erste österreischische Atomkraftwerk in Zwentendorf, das dann tatsächlich nach seiner Fertigstellung nie in Betrieb ging, und während meines Auslandsjahrs in Schottland vermehrte ich die auch dort noch recht geringe Zahl der Fortschrittlichen um meine werte Person, bei einer Kundgebung gegen das geplante AKW in Torness bei Edinburgh, wo sich in einem für drei Tage aufgebauten Protestcamp die alten Trotzkisten und die jungen frauenbewegten Frauen mit uns mehr allgemein Bewegten ein Stelldichein gaben und der Naturreis, der da an uns alle verfüttert wurde, eine weltweit einzigartige pampig-geschmacklose Note hatte. Englisch eben.

Diese kulinarischen Herausforderungen waren ein Hemmschuh für das Gedeihen der Bewegung; seither haben die Grünen immerhin kochen gelernt und werden von einer TV-geeichten Meisterköchin im EU-Parlament vertreten.

Ein paar Jahre später, man schrieb 1983 und der Sommer war, obwohl es noch lange kein Klima im heutigen Sinne gab, doch sehr heiß, rief Peter mich an, den ich bisher nur flüchtig gekannt hatte, und sprach mit mir über die Gründung einer „Alternativen Liste“ für die kommenden Gemeinderatswahlen, und ob ich Interesse hätte daran mitzuarbeiten. Gelassen sprach er das große Wort aus: „Die Bewegung braucht dich.“

Das hatte noch gefehlt, um meinen, wie es bei Georg Heym 1913 hieß, „brachliegenden Enthusiasmus in dieser banalen Zeit“ endlich zu fokussieren. Es folgten zwei, drei aufregende Jahre. Ich machte einen richtigen Wahlkampf mit. Er war, für die damaligen Verhältnisse, ein durchschlagender Erfolg. Wir errangen ungefähr 3 Prozent der Stimmen und einen Sitz im Gemeinderat.

Heute hat meine Heimatstadt einen grünen Bürgermeister, der bunte Parkbänke aufstellen lässt, auf denen geschrieben steht: „Diese Bank setzt ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Akzeptanz und Gleichberechtigung der LGBTIQ Community.“ Und vor nicht allzulanger Zeit, zwei Jahre ist es her, hat der hiesige Gemeinderat den „Klimanotstand“ ausgerufen. Zumindest hieß es eine zeitlang, Innsbruck lebe jetzt im Klimanotstand; dann wurde das, wegen der Touristen, die es vermutlich abschrecken würde, im Klimanotstand zu urlauben, wieder halb und halb zurückgenommen. Man hörte dann so wenig vom Notstand, daß man sich mittlerweile fragt, ob er nicht vielleicht wieder abgesagt worden ist oder man sich das überhaupt bloß eingebildet hat.

Seither haben wir die große Seuche zu bewältigen, und die Touristen waren vorderhand nicht nur abgeschreckt, sondern komplett abgeschmettert. Wir werden sehen, wie das weitergeht.

Damals also, 1983, standen wir auf der Prachtstraße dieser selben Stadt und verteilten Flugblätter, auf denen „für ein anderes Tirol“ geworben wurde. Die Leute blieben stehen und fragten uns, was uns an diesem Tirol nicht gefalle, da wir ein anderes wollten. Das war, so auf die direkte und geschwinde, gar nicht so leicht zu erklären, aber wir gaben uns alle Mühe.

Heute würde ich sagen, dass mir an diesem Land, weil ich eben, wohl genetisch bedingt, ein querulantisches Wesen habe, zwar alles mögliche nicht passt, zum Beispiel Tugend signalisierende Parkbänke, dass mir das Land selber, sozusagen an und für sich, aber sehr wohl passt und ich überhaupt kein anderes haben möchte.

Aber damals wollten wir „ein anderes“. Denn, das darf man nicht vergessen: das Waldsterben hatte gerade begonnen. Obwohl für das laienhafte Auge der tiroler Wald 1984 ziemlich genauso ausschaute wie zum Beispiel 1974, so erklärten uns die wissenschaftlichen Experten zweifelsfrei (und hundertprozentig einer Meinung), dass er bald nicht mehr so ausschauen würde, sondern ungefähr wie der, den man auf dramatischen Schwarzweißfotos aus dem Böhmerwald bewundern konnte, wo eine Ruinenlandschaft aus ehemaligen Fichten gegen einen weltuntergangsmäßig nebelverhangenen Himmel ragte. Das war keine angenehme Vorstellung. Denn in meinem schönen Land wäre ungefähr jede zweite Ortschaft im Winter von Lawinen und im Sommer von Muren bedroht, wenn es den Wald nicht gäbe, der uns beschützt.

Selbst ohne das Waldsterben, das dann irgendwann wieder abgesagt wurde, müssen – selbst in der Landeshauptstadt – bei ungünstigen Schneelagen Straßen gesperrt und Häuser evakuiert werden, zum Beispiel das Haus, das meine Familie und ich etwas oberhalb der Stadt bewohnen. Ein kleiner Teil dieses Waldes gehört sogar mir persönlich. Damals gehörte er meinen Eltern, und er war mir zwar vertraut, interessierte mich aber kaum im Detail, sondern mehr als Gesamteindruck, und da in diesem, wie in jedem Wald, auch da und dort ein Baum stand, der gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe war, hatten wir schon den Beweis: es war schon hier, das Waldsterben, und es drohte nicht nur so mehr allgemein, weltweit, sondern saß uns höchstpersönlich im Genick.

Bei den allwinterlichen Schitouren oder auch beim Bergsteigen im Sommer hätte mir, so etwa nach der Mitte der achtziger Jahre, auffallen können, dass an der Waldgrenze oben immer mehr kleine Bäume nachwuchsen. Das fiel mir erst später auf, und es war, wie der geneigte Leser, die charmante Leserin schon ahnen werden, es war: die Erderwärmung, aus der später, unter der Obhut von gewieften PR-Leuten und, sagen wir, mit etwas beschränkter Optik ausgestatteten und vom plötzlichen Ruhm und dramatisch gestiegenen Forschungsbudgets leicht benebelten Wissenschaftlern eine Krise, ja eine weltweite Katastrophe geworden ist.

Was wirklich eine Katastrophe war, nämlich vor so zirka 1500 Jahren, könnte man sich anhand unseres Stadtteils Wilten vorzustellen versuchen, dessen römischer Vorläufer, das Kastell Veldidena, unter etwa zehn Meter Flußschotter begraben liegt, den der zuständige Fluss, die liebliche Sill, einmal nach den Römern, aber noch vor uns unter vermutlich recht unangenehmen Begleiterscheinungen herangeschafft und hier abgelagert haben muss. Aber das ist freilich eine andere Geschichte, die auf einem anderen Blatt steht.

Das Ende meiner grünen Parteiarbeit erfolgte, schon gegen Ende der achtziger Jahre, in einem auch schriftlich festgehaltenen Tobsuchtsanfall, als auf unsere dringlichen Appelle an die Basis und den Sympathisantensumpf wieder einmal lediglich um die 450 Leute (und immer dieselben!) zur Anti-Transit-Demo erschienen. Wir waren nur unwesentlich mehr als die Ordnungskräfte, die demgemäß recht gedrängt um uns herumstanden respektive sich in ihren Mannschaftswagen in höflichem Abstand hinter dem nächsten Häuserblock aufhielten, damit es nicht zu blöd ausschaute.

Der Transit ist bis heute neben dem Speck und dem Gletscherschilauf eine einheimische Spezialität geblieben; damals protestierten wir dagegen, dass im Jahr 600.000 Lastwagen zwischen Deutschland und Italien bei uns durchbrausten. Heute sind es viermal so viele, und das Problem ist beim Mann auf der Straße angekommen, ebenso wie beim Landeshauptmann. Ich schickte meinen Text an vier oder fünf verschiedene Zeitschriften mit insgesamt geringer Auflage, von denen drei oder vier ihn druckten. Es war mein bis dahin größter publizistischer Erfolg.

Teil des einschlägigen Sympathisantensumpfes blieb ich noch etliche Jahre, währenddessen der zunehmend ergrünende Zeitgeist immer neue Katastrophentheorien gebar, die mir zunehmend immer weniger gefielen. Schon dass das Waldsterben so nebenbei entsorgt worden war, als der Wald sich erdreistete, nicht und nicht sterben zu wollen, sondern in Österreich und Umgebung fröhlich weiter wuchs, hinterließ einen schalen Nachgeschmack.

Beim größeren Rest der Menschheit erwies sich das Schema Waldsterben als sichere Bank, mit um so durchschlagenderem Erfolg, je abstruser die jeweiligen Horrormeldungen ausfielen. Es fand seine Fortsetzung zunächst im Ozonloch mit seinen hautkrebsbefallenen chilenischen Schafherden, oder waren es argentinische? – und dann, finale furioso, dem wir seit einiger Zeit mit der Heiligsprechung der Hl. Greta von Stockholm beiwohnen dürfen, in der Klimakatastrophe. Zumindest während des Schuljahrs, wenn die Schüler genügend Muße zum Streiken finden. (Den einen oder anderen kleineren Weltuntergang dazwischen werde ich, das möge man mir verzeihen, vergessen haben.)

Meine Zeitgeistallergie ist, wie es sich mit derlei Allergien zu verhalten pflegt, auch nicht besser geworden. Immerhin lässt mich die allmählich keimende Altersweisheit, zusammen mit dem erwähnten Haus im Wald, das den Umgang mit der Menschheit auf das notwendige Minimum reduzieren hilft, das Geschehen mehr aus der Ferne, im Sinn des ebenfalls schon erwähnten Gesamteindrucks, distanziert und milde gestimmt verfolgen.

Ansonsten, wie es einem so geht, wenn man älter und alt wird, bemerkt man neben dem Wandel zum Reaktionär aber auch ein Festsitzen in alten und ganz alten Lebenshaltungen, die einen schließlich und endlich, ganz nebenbei, als Angehörigen einer bestimmten Generation definieren helfen.

Wie jemand in Tschechows „Onkel Wanja“ sagt: „Ich bin noch einer von der alten Garde, so aus den achtziger Jahren.“ Gewisse Spleens habe ich mir erhalten, aus jenen nächsten achtziger Jahren nach Tschechow, so das Faible für die Mülltrennung, mit dem ich meine liebe Frau und die Kinder drangsaliere, ganz im Geiste der kleinen Geschichte von Robert Gernhardt über die korrekte Entsorgung des Teebeutels, die in dem ad hoc erfundenen Begriff „Altschnursammeltonne“ gipfelt.

Die Kinder haben zwar in der Schule ein Schuljahr lang das Fach Mülltrennung dazubekommen und dort im wöchentlichen Turnus das ehrenvolle Amt des „Müllpolizisten“ bekleidet, doch scheint der Unterschied zwischen Verpackungs- und Restmüll trotzdem, niveaumäßig, in den Bereich der höheren Mathematik zu gehören, bleibt ihnen also gänzlich fremd.

Oder ganz allgemein ein gewisser Naturfimmel. Wie es Kollege Jonathan Franzen mit den Vögeln hat, habe ich es mit dem Wald. Ich werde allerdings mürrisch, wenn man versucht, mir immer wieder einen Bären aufzubinden, à la „Es war noch nie so heiß wie gerade jetzt“ – zumal wenn der aufzubindende Bär (heutzutage mit Vorliebe ein Eisbär), erst in der Zukunft auftreten soll. Die Maschinchen, die man neuerdings zum Wahrsagen verwendet, sind bei komplexen chaotischen Systemen wie dem Klima noch nicht wesentlich treffsicherer geworden als die gute alte Kristallkugel.

„In hundert Jahren haben wir es hier so heiß wie in Dakar.“ Über das Jahr 2121 weiß man nur eines ziemlich sicher: die solches sprechen, werden dann tot sein, genauso wie Sie und ich. Und meine Generation wird als diejenige in die Geschichte eingehen, die das Jammern auf höchstem Niveau an die Spitze aller Kunstfertigkeiten gesetzt hat.

Walter Klier

Walter Klier (* 5. Juli 1955 in Innsbruck) ist ein österreichischer Schriftsteller, Kritiker, Herausgeber, Autor von Berg- und Wanderführern und Maler. Klier war von 1980 bis 1984 Mitherausgeber der satirischen Zeitschrift „Luftballon“ und von 1989 bis 1997 Mitherausgeber der Kulturzeitschrift Gegenwart (Innsbruck). Unter dem Pseudonym Luciana Glaser publizierte er 1990 gemeinsam mit Stefanie Holzer die Erzählung „Winterende“. Publizistisch trat er auch als Literaturkritiker in der Feuilletonbeilage „extra“ der Wiener Zeitung und als Kolumnist der Tiroler Tageszeitung hervor. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Als Maler beschäftigt sich Klier vor allem mit der Berglandschaft, die er sich schon als Autor von Berg- und Wanderführern erschlossen hat.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Max Siller

    Walter Klier, der Waldbesitzer dieser Jammerergeneration-Glosse, dessen Wald immer noch gedeiht, erinnert mich an die Goldgräber im Amazonas, die hordenweise die Wälder abholzen und die Indigenes vertreiben und dabei feststellen, dass es immer noch genug Wald gibt. Im übrigen scheint sein klimatologisches und ökologisches Wissen auf dem Niveau stehengeblieben zu sein, auf dem er seine geisteswissenschaftlichen Studien beendete: War es während oder nach dem 1. Semester? Ihm wird sein Erbe und sein Aluhut sicher ein glückliches Lebensfinale garantieren. Ob für seine Kinder (und Kindeskinder) die Zukunft eine rosige Roseggersche Waldseligkeit vorsieht, weil für ihren Vater das prophezeite Waldsterben nicht eintraf und er (deshalb?) seit Jahren offenbar keine Nachrichten aus Radio, Fernsehen und den Medien (außer den eigenen?) zur Kenntnis nimmt, scheint mir nicht gesichert.

Schreibe einen Kommentar