Franz Tschurtschenthaler
Südtirol ohne Maske
Zehnter Brief

Liebe Leserinnen und Leser!

Südtirol hat 533.597 Einwohner, 116 Gemeinden und 8 Städte – und doch ist es ein Dorf. Jeder kennt jeden. Und das nicht nur über sechs Ecken, wie die von Stanley Milgram in den 60er-Jahren aufgestellte Theorie besagt. Sondern gleich direkt. Als ich vorgestern mit einem Kollegen bei der Pizza saß, erzählte er mir, dass der Sohn einer Freundin, den ich noch nie gesehen habe, nach dem Studienabschluss wegen seiner Freundin nach Südtirol zurückkommt, und ich stellte fest, dass diese wiederum die Nichte eines engen Sportsfreundes von mir ist. Die Verflossene des mir flüchtig bekannten Chefredakteurs, der kurz im Gespräch seine Trennung thematisierte, stellte sich hingegen als eine Person heraus, mit der ich des Öfteren bereits arbeitsmäßig zu tun hatte. Und der Vater des Schulfreundes meiner Tochter entpuppte sich als langjähriger Skikumpel eines sehr guten Freundes. Zufall? Mitnichten!

Zumindest in bestimmten Kreisen ist es auf der Südseite der Alpen schwierig, so etwas wie Privacy aufrecht zu halten. Jeder weiß über das Leben der anderen bestens Bescheid und ist zum Teil sogar aktiv darin involviert – mehr oder weniger stark. Und wird deshalb natürlich auch auf das Heftigste kritisiert, sobald er etwas tut, was „man“ eben nicht tut. Z.B. Dinge laut sagen oder sogar öffentlich niederschreiben, die man sich im heiligen Land Südtirol nur denken bzw. die man nur flüstern darf (sofern man nicht der politischen Opposition angehört und das Kritisieren und Dagegensein sozusagen zum offiziellen Berufsbild gehört).

Warum ist das verboten, auch wenn man dabei nur verbalisiert, was eh alle schon wissen? Weil man damit anderen öffentlich auf den Schlips oder sonstwohin tritt. Und das wiederum kann unangenehme Konsequenzen auf Bereiche des eigenen Lebens haben, die man im ersten Moment nicht vermutet hätte. Denn Rache ist ja bekanntlich süß und wird kalt serviert.

Das ist auch der Grund, warum hierzulande etliche Schreiberlinge mit scharfer Zunge und Feder es vorziehen, unter Pseudonym zu schreiben – der Unterfertigte ist also mit der Furcht vor der Rache derjenigen, die die Hebel in der Hand haben, nicht allein auf weiter Flur. Ich denke hier etwa an einen gewissen „Hansi Klein“, der vor einigen Jahren in einer Polit-Satire-Serie mit dem Titel „Die Lernjahre des kleinen A.“ die „neuen Zeiten“ beschrieb, die „im Land der Blauschürzen“ nun angebrochen wären, da „der Neue“ in Amt und Würden sei und tapfer „gegen alle Widrigkeiten der heimischen Politik“ kämpfe. Dem kleinen A., der inzwischen – unter uns gesagt – natürlich zu einem ausgewachsenen und sehr krisenresistenten Arno (Kompatscher) herangewachsen ist, unterstellte der freche Schreiber, seine Entscheidungen mithilfe eines übergewichtigen Murmeltiers getroffen zu haben. In seiner Satire zog der Verfasser dieser Folgen zudem etliche honorige Politiker, Verwaltungsgrößen, Unternehmer und VIP’s durch den Kakao. Da er jedoch jahrelang selbst beruflich eng mit der Südtiroler Politikszene verwoben war, tat er gut daran, anonym zu bleiben, wollte er nicht künftig mangels Aufträgen am Hungertuch nagen.

Beim Geschlecht eines anderen Ghostwriters tappe ich bisher immer noch im Dunkeln: Goggel Totsch nennt sich ein*e Eiertreter*in (sic!), der/die sich in den letzten zwei Jahren beim Online-Medium salto.bz immer wieder zu Wort gemeldet und sich dabei niemals ein Blatt vor den Mund genommen hat. Ihr Fett bekommen hier regelmäßig alle ab, die in Südtirol etwas zu sagen haben – oder auch Gesamtsüdtirol in seiner ganzen Herrlichkeit. Kostprobe gefällig? Bitteschön: „Ich bin so froh, dass es unser Bergvolk gibt. Woran könnte ich mich sonst abarbeiten? Wenn man euch braucht, seid ihr da. Wenn man uns mit diesem ekligen Wattestäbchen in der Nase rumstochert, seid ihr da. Berechenbar, hinterwäldlerisch, hinterfotzig… ihr seid da. Wie war das: Wenn die Welt untergeht, flüchte nach Südtirol – dort sind sie hundert Jahre im Rückstand. Da dauert es noch etwas mit Apokalypse, Armageddon, Götterdämmerung.“

Oje, das schreit geradezu nach gesamtvölkischem Widerspruch – angesichts solcher Wortwahl würde auch ich es vorziehen, mich bedeckt zu halten, nicht nur, was mein Geschlecht betrifft. Was Goggel Totsch wohlweislich auch tut. Einer lieben Freundin, die es vor Jahren gewagt hatte, unter eigenem Namen den öffentlich über die Medien ausgetragenen Konflikt zwischen dem damaligen Chef der Tourismuswerbung und dem damaligen Boss des Hotelier- und Gastwirteverbands HGV in einem Artikel für eine Nordtiroler Tourismuszeitschrift zusammenzufassen, wurde daraufhin postwendend ein laufender Vertrag in der Tourismuswirtschaft gekündigt. Wie gesagt: Jeder kennt jeden und nutzt das auch aus.

Diesem Schicksal möchte ich natürlich entgehen. Und jenem meines Vorbilds im Geiste Karl Techet alias Sepp Schluiferer schon überhaupt. Er wurde für seine in einem Buch verschriftlichten schonungslosen Aufdeckungen der Eigenheiten der Tiroler von ebendiesen fast gelyncht und musste Hals über Kopf ins liberaler gesinnte nachbarliche Ausland flüchten (damit meine ich selbstverständlich nicht Südtirol oder gar Italien; Techet wählte München für sein Exil). Und da mein Pseudonym schon hie und da zu bröckeln droht wegen in meinen Briefen preisgegebenen Einzelheiten und typischem, offenbar leicht zuordenbarem Erzähl- und Schreibstil, habe ich schweren Herzens eine Entscheidung getroffen: Ich werde Sie künftig mit meinen Briefen aus dem sonnigen „Sieden“ verschonen und mich anderen Themen widmen. Wenn ich Sie in den letzten, ja nicht sehr Lebenslust-fördernden Wochen mit meinen Ergüssen vielleicht etwas erheitern oder doch zumindest informieren konnte, würde es mich freuen und ich bedanke mich herzlich für Ihre Zeit. Und wer weiß: Vielleicht liest man sich doch mal wieder? „Sag niemals nie“ darf ja nicht nur James Bond alias Sean Connery sagen, sondern auch

Ihr Franz Tschurtschenthaler

Franz Tschurtschenthaler

Franz Josef Tschurtschenthaler wurde 1980 im Schweizer Kanton Appenzell Ausserrhoden geboren und studierte Agrarwirtschaft. Zunächst war er als Agronom in Hundwil tätig, bis ihn sein Schicksal ereilte und es ihn auf den Spuren seiner Urahnen nach Südtirol verschlug. Schuld war nicht etwa die Liebe, sondern ein sehr interessantes, wenn auch nicht wirklich lukratives Arbeitsangebot. Seither wirkt Tschurtschenthaler im Spannungsfeld zwischen Bozen, Kaltern und Meran, wo er bei seiner Arbeit viel Gelegenheit hat, die Seele und Gepflogenheiten der Südtiroler zu studieren. Wenn er nicht seinem studierten Beruf nachgeht, frönt er seinem Hobby – dem Verfassen von Kommentaren, bei denen er sich selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstverständlich schreibt er genau deshalb unter Pseudonym, um dem Los seines Vorgängers im Geiste Carl Techet zu entgehen. Solange ihm dieses erspart bleibt, lebt Tschurtschenthaler mit Frau und Kindern irgendwo in Südtirol.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Karlheinz Veit

    Guter Artikel – aber das ganze Thema kann ganz beruhigt Eins zu Eins auch am „Norden Tirols“ anwenden ! Es läuft auch bei uns genau so…!

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