Werner H. Ritter
Erdbeben, Pandemie, Krieg
und die „Liebe Gottes“
Wie heute von Gott reden?
Essay

Türkei

Hilfeschreie aus den Trümmern lautete eine Schlagzeile meiner Tageszeitung am 07. 02.2023. Erdbeben im Süden der Türkei und im Norden Syriens am frühen Morgen des 06. Februar. Sehr hohe Ausschläge auf der nach oben offenen Richterskala. Die Beben waren stärker als jene 1999 in der Nähe von Istanbul mit 20. 000 Toten und haben ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. In vielen ist mehr als die Hälfte der Bewohner getötet worden.

Hans Kluge, WHO-Regionaldirektor, sagte auf einer Online-Pressekonferenz am 14.02.: Wir erleben die schlimmste Naturkatastrophe in der WHO-Region Europa seit einem Jahrhundert. 

Das ganze Ausmaß ist zu der Zeit nicht klar. Immer noch werden – fast nicht zu glauben – vereinzelt Überlebende geborgen. Dazu kommen bei unzähligen Menschen körperliche und seelische Not. Die meisten von ihnen haben alles verloren, was sie hatten. 

Und dann die Eiseskälte in den Nächten, aber auch am Tag. Die Versorgung mit Hilfsgütern klappt mittlerweile einigermaßen, freilich unterschiedlich in den Regionen. Die Zahl der bislang (22. 02.) bestätigten Opfer liegt bei über 48. 000. Und es werden noch mehr werden. Dazu kommen unzählige Verletzte. Mehr als 1,2 Millionen sind in Notunterkünften untergebracht. Bilder des Grauens.

Auf den ersten Blick erinnern nicht nur die Zahlen, sondern das ganze verheerende Szenario an das große Erdbeben von Lissabon 1755. In einer der schlimmsten Naturkatastrophen Europas kamen damals zwischen 30.000 und 100.000 Menschen um. Seitdem ist die Frage Wie kann ein guter, barmherziger und lieber Gott so etwas zulassen? oft gestellt worden. Stimmte denn das, was Kirchen und Theologie von Gott meinten verkünden zu müssen? Das Zeitalter der Theodizeefragen beginnt.


Und heute?

Fragen Menschen heute in dem Maße wie damals nach Gottes Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Liebe? Einige werden es sicher tun. Bis noch vor über 20 Jahren, als sich 1998 in Eschede ein schreckliches Eisenbahnunglück mit vielen Toten ereignete, titelten Gazetten Wo war Gott in Eschede? 

Ähnlich auch noch zu Weihnachten 2004, als sich im Indischen Ozean ein furchtbares Erdbeben (mit anschließendem Tsunami) mit bis zu 300.000 Toten zutrug. Seitdem sieht es allerdings danach aus, dass im 21. Jahrhundert medial veröffentlichte Fragen nach Gott (Theodizeen) aus der Öffentlichkeit verschwinden. Aus unterschiedlichen Gründen: Die religiös Unmusikalischen nehmen zu; Gottesvorstellungen werden plural und gehen zurück.

Wie also ist es mit Gottes Liebe und der von Theologie und Kirchen unter Berufung auf die erste Schöpfungserzählung lange beschworene gute Schöpfung Gottes? Ist sie doch nicht so gut? 

Du brauchst bloß in diesen Tagen nach Syrien und in die Türkei zu schauen, bemerkt ein alter Freund. Bis vorgestern – 22. Februar 2023 – haben sich Kirchen und ihre Vertreter sowie wissenschaftliche Theologen, sonst immer schnell mit Stellungnahmen bei der Hand, noch nicht geäußert. Ob es ihnen die Sprache verschlagen hat? Man wird sehen. 

Immerhin gab ein Theologieprofessor auf die von ihm selbst gestellte Frage: Wirkt Gott in der Welt? noch vor wenigen Jahren diese Antwort: Gott wirkt überall, immer und in allem, auch durch Menschen. (2018) Wirklich immer und überall? Also auch im türkisch-syrischen Grenzgebiet? Mittlerweile liegt dazu ein erster aktueller Artikel vor, der die Theodizeefrage aufwirft (vgl. BR Religion Kulturnewsletter vom 23.2. 23): Gott als Adressat für Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Wesentlich redefreudiger waren Kirchenleute und Theologen dagegen in den Pandemiejahren seit 2020/21.

Pandemie

Über zweieinhalb Jahre hielt uns die Pandemie im Griff. Sie scheint derzeit abzuklingen. Was hat diese Seuche mit Gott zu tun? Nichts sagen welche, weil es ihn gar nicht gibt. Nichts sagen andere, weil Corona durch Menschen verursacht wurde, folglich nichts mit Gott zu tun hat.  

Mit dem Dreischritt Weihnachten, Pandemie und die Liebe Gottes haben sich in den drei Weihnachtszeiten seit 2020/21 viele TheologInnen und PfarrerInnen einen Reim auf die pandemische Situation zu machen versucht. Ob dieser Reim, diese Situationsdeutung mit Liebe Gottes wirklich überzeugt, ist die Frage. Wie es aussieht trugen viele vom theologischen Personal in dieser Jahrhundertkrise weiter ihre herkömmliche Theologie vor. Nachdenkliche Äußerungen fanden sich auch, aber deutlich seltener. Ich führe für Ersteres einige exemplarische Stimmen an.

Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes

Davon höre und lese ich viel: Weihnachtszeit! Trotz und gerade mit Corona: uns wird Gottes Liebe mit dem Kind in der Krippe zuteil, das kann uns niemand nehmen. Egal was kommt, wir sind in seiner Hand und seine geliebten Kinder. Oder: Gott ist unser Vater, er liebt seine Kinder. Oder: In seiner Liebe hat Gott auch von sich aus die Brücke aus dem Himmel zu uns auf die Erde geschlagen durch die Geburt seines Sohnes, damit wir sehen, wie sehr er uns liebt. Ein Pfarrer schickt mir ohne weiteren Kommentar eine Grußkarte mit dem Aufdruck Als aber erschien die Freundlichkeit und die Menschenliebe Gottes. Ein anderer schreibt in einem Rundbrief: Ein frohes Weihnachtsfest in der Erwartung des erlösenden Besuches Gottes in dieser Welt durch die Geburt Jesu Christi. In einem Zeitungsbeitrag lese ich: Es gibt tausend Gründe, an Gottes Liebe zu zweifeln. Es gibt einen einzigen, es nicht zu tun: der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus. 

Ein Dekan äußert sich in einer Sonntagszeitung ähnlich: Gottes Liebe in seinem Sohn gilt der Welt und allen Menschen. Der bayerische Landesbischof und (damalige) EKD-Ratsvorsitzende äußert am 23.12.2021 in einer Videobotschaft: Dass Gott Mensch wird, sei eine ungeheure Hoffnungsbotschaft. Damit komme die Liebe in die Welt und niemand kann sie mehr auslöschen.

Wohlgemerkt: Dass es an Weihnachten auch um die Liebe Gottes geht und gläubige Menschen Schutz, Bewahrung und Hilfe erfahren haben, wie sie sagen, ist theologisch sicher die eine Seite der Wahrheit und Wirklichkeit. Das sollten wir nicht leichtfertig in Zweifel ziehen.

Die dunklen Seiten

Die gibt es auch. Natürlich wissen wir, dass Not und Leid, Sterben und Tod zum Leben gehören. Aber was haben Gott, seine Liebe mit diesem großen Leiden und Sterben gerade in der Pandemie zu tun? Mitte Januar 2022 zählt die John-Hopkins-Universität 5,5 Millionen Corona-Tote weltweit; 115.000 in Deutschland; Mitte Februar 2023 sind es über 6,8 Millionen weltweit (WHO) und in Deutschland über 167.000 Corona-Verstorbene (RKI). Die Zahlen werden weiter ansteigen.

Konkret lese ich von grausamen Einzelschicksalen wie diesem: Ein 51-jähriger rumänischer Lastwagenfahrer, der im Februar 2022 auf einem Autobahnrastplatz in unserer Nähe hochfiebrig aus seinem LKW-Führerhaus heraus den Rettungskräften in die Arme fiel – Corona! Dreiundfünfzig Tage hat er um sein Leben gekämpft, dann war es vorbei. Zurück blieben seine Frau und zwei unmündige Kinder, von nun an ohne Mann und Vater. 

Ich höre von zahlreichen jungen Müttern und Vätern mit kleinen Kindern, die innerhalb kurzer Zeit der Seuche zum Opfer fallen; ich lese von vielen Jüngeren und Älteren, die innerhalb nur weniger Tage wegsterben. Wie ist das mit der Pandemie und der Liebe Gottes? 

Dann seit dem 24.02.2022 der Ukrainekrieg: Zerstörung, unermessliches Leid, Zahl der Toten letztlich unbekannt. Der Erste und Zweite Weltkrieg fallen mir ein mit bis zu vielleicht 100 000 000 Toten. Die vielen Kriege seit der Neuzeit. Und jetzt noch das Erdbeben. Wie sieht es angesichts all dessen mit Gottes Menschenfreundlichkeit und Liebe aus? Lässt das nicht je für sich und alles zusammen an Gott zweifeln, ja verzweifeln?

Massive Spannung

Ein Pfarrer schreibt am Ende der Weihnachtszeit 2021/22 in einer Sonntagszeitung: Wie oft habe ich es selber erlebt: Wenn ich in Not war, traurig oder niedergeschlagen, und ich Jesus um Hilfe bat, dann ließ er mich nicht im Stich. Dann erlebte ich Hilfe. Ja, das kann so sein. Ich denke freilich auch an Leszek Kolakowski. Der fragte angesichts des Gelobt sei der Herr, denn er stürzte Ross und Reiter (der Ägypter) ins Meer (Ex 15, 1ff) aus dem Mund der Israeliten, was wohl die ägyptischen Soldaten von der Barmherzigkeit und Liebe Gottes gedacht haben mögen? Will sagen: Wir wissen sowohl von Menschen, die Gott durch furchtbare Situationen durchgetragen und bewahrt hat, als auch von solchen, die er nicht erhört und nicht gerettet hat. Letzteren hilft die wunderbare Erfahrung der Geretteten herzlich wenig, um nicht zu sagen: gar nichts. 

Und wenn ich dann an Ostern 2022 seitens des bayrischen Landesbischofs vernehme, Worte von der Liebe Gottes zu hören, hilft uns, eine feste Basis für unser Leben zu gewinnen, und Gott sei ein Freund des Lebens – frage ich mich: Wie hören solche frommen Sätze Menschen, die früher, jetzt und heute Gott nicht als Liebe und nicht als Freund des Lebens erfuhren und erfahren? Sind sie ein wirklich hilfreicher Zuspruch? Oder doch vielmehr ein Schlag ins Gesicht von Menschen, die schon am Boden liegen? Als denkender Christ tue ich mich mit solchen (Ver)Tröstungen, die so schnell zu Floskeln werden können, sehr schwer.

Alles in allem sehe ich in den letzten Jahren eine massive Spannung, um nicht zu sagen Diskrepanz, zwischen einer häufig floskelhaft daherkommenden und sich zu Unrecht normativ gebenden Gott ist Liebe-Kirchentheologie einerseits und von Menschen real erlebter Not andererseits. Auch wenn viele Geistliche und Theologen diese extreme Spannung mit Hilfe althergebrachter Überzeugungen zu lösen versuchen, das Ergebnis kann weder logisch noch theologisch befriedigen. Oder ist am Ende die Koexistenz des emotional und kognitiv Differenten charakteristisch für den religiösen Umgang mit den großen Kontingenzen des Daseins? (Rudolf Englert). Schwerlich nachvollziehbar.

„Gott ist Liebe“?

Etliche wissenschaftliche Theologen setzen in diesem Zusammenhang alles auf die Karte Liebe Gottes. So schreibt der Theologieprofessor Ingolf Dalferth: Diese Liebe (Gottes) kennzeichnet Gottes Wesen: Gott liebt nicht nur, sondern ist Liebe, ist also ganz und gar als Liebe bestimmt, so dass nichts von Gott wahrheitsgemäß gesagt werden kann, was ihn nicht als Liebenden charakterisiert.Ganz und gar, Wesen!? 

Unendlich steile, konstruierte Sätze. Woher weiß Dalferth das alles? Wenn Menschen leiden, dann – muss man schlussfolgern – wäre, nein: ist das ein Geschehen in und aus Gottes Liebe. Dann wären – in Zuspitzung – die Corona-, Kriegs- und Erdbebentoten Zeichen der Liebe Gottes?! 

Ich frage mich, was für eine Liebe das ist. Wer von unseren Gemeindemitgliedern oder den Kirchendistanzierten soll uns das abnehmen? Liebe, die sich unter ihrem Gegenteil versteckt? Wie geheimnisvoll!? Wie grausam! 

Dann ist Liebe letztlich ein Wort, ein Wort ohne Inhalt, eine Hülse, eine Floskel, die man gedanken- und realitätslos gebraucht, ein Schibboleth, das anzeigt, dass man (noch) dazugehört – fragt sich bloß, wie lange noch. 

Und ich frage, wieweit ist ein Autor, der das so veröffentlicht, vom wirklichen Leben weg? Im hehren Elfenbeinturm der Theologie lässt es sich gut sitzen und daherreden. Kurt Flasch, Philosoph und Religionswissenschaftler, schreibt: Es ist eines der Klebemittel, mit denen man die Leute am Christentum festhält, indem man es auf Liebe reduziert.

2. Teil in einer Woche: Keine ausreichende Problembearbeitung / Religiöse Deutung überflüssig? /  Theologisch redlich werden!

PS: Der Artikel aus dem Jahr 2023 erscheint erst heute, da der Autor vor einem Konflikt mit seiner Bayerischen Landeskirche zurückscheute. Heute tut er das nicht mehr.

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Werner H. Ritter

Werner H. Ritter, geb.1949 in Weißenburg/Bayern. Seit Nov. 1987 Lehrstuhlinhaber für Ev. Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Universität Bayreuth, 2000-2004 1. Vorstand im Ev. Bildungswerk Bayreuth, 2000-2004 1. Sprecher der KLT (Konferenz der an der Lehrerbildung beteiligten TheologInnen), Oktober 2008 Wechsel auf gleichnamigen Lehrstuhl an der Universität Bamberg, seit 2014 im Ruhestand. Zahlreiche Publikationen.

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