Werner H. Ritter
Erdbeben, Pandemie, Krieg
und die „Liebe Gottes“
Wie heute von Gott reden?
Essay
2. Teil

1. Teil: https://schoepfblog.at/werner-h-ritter-wie-heute-von-gott-reden-essay/

Keine ausreichende Problembearbeitung

Mir ist seit vielen Jahren deutlich: Das Leben lehrt uns, dass die monoton-großspurige Behauptung, Gott liebt uns und er sei ein menschenfreundlicher Gott, den Realitäten des Lebens sehr oft nicht standhält. Es ist eine überzogen einseitige Gottesvorstellung, die Theologen retten zu müssen meinen, um so Gott zu retten. 

Solcher Art monomane Lösungen sind zu wenig problembewusst, zu wenig komplex, zu wenig nachdenklich. Ein alter Freund schreibt mir kurz vor Weihnachten 2021: Die Menschen, die wenigstens an kirchlichen Festtagen den Weg in die Kirche finden, möchten in ihrem Denken (und Zweifeln) `abgeholt´ werden, was nur durch Ehrlichkeit geschehen kann. 

Das heißt: Wir brauchen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, mit welcher Gottesvorstellung wir uns in Kirche und Theologie den harten Gegebenheiten des Lebens jenseits von Einseitigkeiten und Plattitüden stellen. Ich denke in dem Zusammenhang an Gottes Wort an Hiobs Freunde: ihr habt nicht recht von mir geredet (Hi 42, 7). 

Und an einen Satz von Luise Habel (die selbst behindert war): Ich habe einen Horror vor Leuten, nicht zuletzt vor den Pfarrern, die auf alles eine passende Antwort haben und die nicht merken, in welche Einsamkeit, ja Verzweiflung sie damit einen anderen stürzen können. Bibelsprüche, zur Unzeit gesprochen, helfen nur selten, mit einer Situation fertig zu werden. Im Gegenteil: Sie lassen mich mein Elend oft nur noch krasser empfinden.

Vieles, was uns widerfährt, fügt sich eben nicht nahtlos mit Gottes Liebe zusammen. Warum, weiß ich nicht. Es verbleiben oft genug der Schmerz, der Schrei, die Bitte: O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf. (EG 7, 1)

Mittlerweile gibt es viele nachdenkliche Menschen, die nicht mehr bereit sind, Pandemie, Kriege und jüngst das Erdbeben von der Gottesfrage zu distanzieren, um Gott nicht mit den Schattenseiten der Welt zu belasten. Wenn Gott mit den erfreulichen Seiten unseres Lebens und der Wirklichkeit zu tun hat, was ist dann mit den anderen, den dunklen, bedrohlichen und schmerzlichen, die sich nicht mit der Liebe Gottes zusammenreimen lassen?


Religiöse Deutung überflüssig?

Angesichts der Tatsache, dass manche kirchlichen Repräsentanten und Religionsexperten versichern, Gott habe nichts mit Corona, Kriegen und dergleichen zu tun, ist zu fragen, woher sie das denn so genau wissen. In meinen Augen sind religiöse Deutungen von Ereignissen nicht einfach überflüssig und entbehrlich. 

Friedrich D. E. Schleiermacher zufolge ist es Aufgabe von Glaube, Kirche und Theologie, die Wirklichkeit und das Leben von Menschen zu deuten. Denn es gibt neben Menschen, für die die Kontingenzen des Lebens nichts mit Gott zu tun haben, auch viele, die angesichts dieser Widerfahrnisse die Sache mit Gott umtreibt und sie Gott fragen, anklagen, anbeten und hoffen lässt: Wo bleibst Du? Wie lange noch? 

Können Menschen Gott wirklich aus einer Letzt-Verantwortung für die Pandemie und anderes Lebensbedrohliches wie Seuchen, Kriege und Erdbeben entlassen? Schwerlich. Es ist doch die Frage, was Gott, wenn ihn Menschen HERR nennen, mit all dem Genannten zu tun hat oder nicht. Weder ein Deismus (Gott hat am Anfang die Welt geschaffen, greift aber nicht mehr handelnd in sie ein) noch ein Non-Theismus (Gott wird nicht handelnd gedacht) beantworten die Fragen nach Gott und dem Leid und, wer der Herr der Welt ist, ausreichend. 

Wenn Gott mit diesen Kontingenzen, Zu-Fällen, nichts zu hat, woher kommen sie denn dann? Von einem bösen Gegengott? Von Menschen allein, die dann stärker und mächtiger wären als der Herr-Gott? Dann wäre dieser in der Konsequenz letztlich hilflos und ohnmächtig, das Divinum ein Rätsel – oder doch ein Geheimnis?


Theologische Konkretionen und Relativierungen

Es wird seitens Kirche und Theologie zu wenig versucht, die harten Erfahrungen von Menschen in Pandemie, Krieg und Erdbeben mit Gott zusammenzubringen, wenn sie sich denn zusammenbringen lassen. Hier nur auf die Liebe Gottes zu verweisen, lässt nicht erkennen, was das Leid der Menschen für unser Reden von Gott bedeutet. Ich vermisse zum einen unsere existentielle Betroffenheit und Teilhabe am Leiden von Menschen – Theologen reden gerne aus der Perspektive des unbeteiligten, neutralen und objektiven Zuschauers, als befänden sie sich außerhalb belastender Situationen. Und ich merke zum anderen, dass uns einfache, fromme Antworten, wie sie lange gegeben werden konnten, nicht mehr wirklich weiterhelfen. Es sind ermattete theologische Richtigkeiten (Thorsten Moos), die Probleme verharmlosen und verschleiern und Menschen nicht mehr erreichen. 

Corona, Krieg und Erdbeben führen uns die denkerischen Abgründe der Gottesrede …vor Augen (Isolde Carle). Der altkatholische Bischof Mattias Ring bezeichnete in dem Zusammenhang die Theologie als ratlos: Es treibe ihn der Verdacht um, dass eine bestimmte Art von Theologie an ihr Ende kommen könnte, eine Theologie, die im guten Sinne versucht, eine Frohe Botschaft zu formulieren, aber dies nur um den Preis der Nichtintegration der Negativität des Lebens vermag (2022). Was lässt sich also heute theologisch Wichtiges und Weiterführendes zu Pandemie, Krieg und Erdbeben sagen? 


Vier Aspekte erscheinen mir wichtig:

Zum einen: Gott wird in den Schriften des Alten und Neuen Testaments immer wieder mit Liebe in Verbindung gebracht, weil Menschen ihn als Liebenden und Barmherzigen erfahren. Dabei ist der hohe emotionale wie auch kognitive Gehalt des Wortes Liebe hervorzuheben. Allerdings ist die biblische Bezeugung der Liebe Gottes nicht so breit und durchgängig, wie gerne angenommen wird. Es sind v.a. folgende drei Bibelstellen, die für die kirchlich-theologische Rede von der Liebe Gottes stilbildend geworden sind.

Johannes 3,16 zufolge hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Die Aussage des 1. Johannesbriefs 4, 8-10 liegt genau auf dieser Linie; wobei die zugespitzte Formulierung Gott ist die Liebe biblisch einzigartig ist. Beiden Stellen ist gemeinsam, dass Gott seinen Sohn aus Liebe zu den Menschen dahingibt. Es geht also nicht um eine Art Allerweltsliebe Gottes im Sinne von der Papa wird´s schon richten, sondern um die in Christus Mensch gewordene Liebe Gottes. 

Der gleiche Tenor findet sich im Römerbrief 8, 31-39 mit dem Schlussbekenntnis, dass uns nichts scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. Ich bin gewiss leitet Paulus sein Bekenntnis ein; es spricht hier also ein Einzelner. Ein Bekenntnis, die höchste Form des Überzeugtseins ist etwas anderes als eine neutrale Wesensbeschreibung Gottes; es ist vielmehr die freie Antwort eines Individuums an Gott auf ein Widerfahrnis hin. Ein Bekenntnis kann nicht erzwungen oder verordnet, wohl aber nachgesprochen werden von Einzelnen und dann Vielen, wenn es ihn bzw. sie trifft und zutrifft.

Sodann: Wer alle menschlichen Erfahrungen, also auch die harten, unter Liebe Gottes subsumiert, redet zum einen einer religiösen Sonderwelt das Wort. Und wer zum anderen Gott mit Liebe identifiziert, also gleichsetzt, macht sich letztlich ein Bild von ihm. Das wiederum wäre ein Verstoß gegen das Erste Gebot, demzufolge wir uns kein Bildnis von Gott machen sollen (Ex 20, 4f.). 

Es geht hier wie in Exodus 3,14 ich werde da sein als der ich da sein werde – da sind sich Exegeten einig – auch um Gottes Freiheit, der sich von Menschen nicht festlegen lassen will. Dies ist kritisch gegen eine Monopolisierung der Liebe Gottes als Gottesprädikat einzuwenden und dementsprechend verbal abzurüsten.

Drittens: Wenn wir andere, harte Erfahrungen von Menschen mit Gott in biblischer Zeit bis heute verschweigen und negieren, zeichnen wir ein unzureichendes Gottes-Bild. De facto sind die Erfahrungen von Menschen mit Gott in biblischer Zeit bis heute vielgestaltig und facettenreich. Es ist also immer wieder an den großen Reichtum und die erstaunliche Spannung, ja Inkonsistenz biblischer Gottes-Bilder und –Erfahrungen zu erinnern, die sich nicht vollständig miteinander harmonisieren lassen. 

Menschen erfahren Gott einst wie heute als Liebe und Nicht-Liebe, als nah und fern (Jer 23, 23), als helfend und abwesend, als hell und dunkel. Beides zusammen macht biblisch grundierte Rede von Gott aus. Dunkelheit gehört zu Gotteserfahrungen – Jochen Klepper und viele andere vor ihm seit alttestamentlicher Zeit bis heute haben Gott erfahren, der im Dunklen wohnen will, wie es in seinem Lied Die Nacht ist vorgedrungen heißt. Menschen erfahren ihn aber auch immer wieder zu seiner Zeit als Sonne, Wonne, Licht und Stärke. Paul Gerhardt fällt mir ein, der beides, Nähe und Ferne, Macht wie Ohnmacht Gottes, lebenslang kennengelernt hat.

Schließlich ist im Wissen darum, dass wir als Menschen nicht von Gott zureichend reden können, daran zu erinnern: Theologische Aussagen von Gott sind menschliche Orientierungsaussagen; sie beschreiben also nicht Gott oder bilden ihn ab, sondern entfalten den von Menschen gelebten Glauben an Gott und ihre Erfahrungen mit ihm seit biblischen Zeiten bis heute.

Sie sind weniger fixe Antworten auf Fragen, eher Richtungsangaben, Ortungen, Gewichtungen, Klärungen und Einladungen (Dietrich Ritschl), die uns anregen können und die wir auf ihre Tragfähigkeit und Wahrheit überprüfen dürfen. Unterschiedliche Erfahrungen und Deutungen bewahren uns zudem davor, unsere, am besten: die je meine Erfahrung oder Deutung für die Lösung zu halten. Die haben wir nicht.



Theologisch redlich werden

Eindeutige theologische Antworten auf das letztliche Woher von Seuchen, Kriegen und Erdbeben haben wir nicht. Auch der monotone Verweis auf die Liebe Gottes in diesen Zusammenhängen hilft nicht wirklich weiter. Er ist letztlich ein untauglicher theologischer Ablenkungs- und Beschwichtigungsversuch, der ein Problem zuzudecken versucht, das nicht zugedeckt oder gedeckelt werden kann. 

Bezüglich des Woher muss man einräumen, dass im Falle von Pandemie und des (Ukraine-)Krieges Menschen durchaus Mitverantwortung an ihrer Entstehung tragen. Gott hier also allein die Schuld in die Schuhe zu schieben, geht nicht. Im Falle von Erdbeben sieht es noch einmal anders aus. Wo trüge hier der Mensch Mitverantwortung oder gar Schuld? Heißt: Bei Erdbeben steht erheblich massiver als bei den beiden anderen Phänomenen der gute Schöpfergott von Kirche und Theologie in Frage. Unabhängig von dieser notwendigen Differenzierung stellt sich gleichwohl die grundlegende Frage, wer das alles letztgültig zu verantworten hat, wenn doch Gott HERR genannt wird, der immer und überall wirkt?

Ich denke, es kommt heute darauf an, theologisch redlich zu werden und bestimmte überlieferte Vorstellungen in ihrer Fragwürdigkeit zu erkennen. Dazu braucht es den Mut, theologisch selbst zu denken und brüchig gewordene theologische Vorstellungen sein zu lassen. Letztlich freilich ist die Frage nach dem Warum des Leides und dem Woher von Pandemie, Krieg und Erdbeben eine aporetische Frage. Es gibt keine Antwort darauf, die wirklich zufriedenstellen kann. Menschen können Gott und sein (Nicht-)Handeln nicht abschließend ergründen – conditio humana.

Wenn Gott auch sehr häufig nicht als rettend und helfend eingreifend erfahren wird, wie Glaubende das erbitten und erflehen, am Ende bleibt die Hoffnung auf einen Gott, der sein Da-Sein (Ex 3, 14) zusagt, ohne dessen konkrete Art und Weise preiszugeben. Pointiert formuliert oszilliert damit menschlicher Glaube an Gott immer wieder zwischen zwei Polen: zwischen Herr, ich glaube und hilf meinem Unglauben (Mk 9, 24). 

Womit auch der Glaube am Ende eines Zeitalters der Eindeutigkeiten an Nicht-Eindeutigkeit und Unsicherheit partizipiert. Im Übrigen sind wir auch hinsichtlich des Glaubens lebenslang Suchende, nicht Besitzende. Dies schließt die Möglichkeit ein, dass unser Gottesglaube eine Täuschung ist, wie das Hans Küng schon vor Jahrzehnten eingeräumt hat. Bis dahin neige ich – Sie vielleicht auch – einem Satz von Dorothee Sölle zu: Alle, die an Gott glauben, hinken ein wenig wie Jakob, nachdem er mit Gott gekämpft hat. (Gen 32, 23ff.).


PS: Der Artikel aus dem Jahr 2023 erscheint erst heute, da der Autor vor einem Konflikt mit seiner Bayerischen Landeskirche zurückscheute. Heute tut er das nicht mehr.

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Werner H. Ritter

Werner H. Ritter, geb.1949 in Weißenburg/Bayern. Seit Nov. 1987 Lehrstuhlinhaber für Ev. Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Universität Bayreuth, 2000-2004 1. Vorstand im Ev. Bildungswerk Bayreuth, 2000-2004 1. Sprecher der KLT (Konferenz der an der Lehrerbildung beteiligten TheologInnen), Oktober 2008 Wechsel auf gleichnamigen Lehrstuhl an der Universität Bamberg, seit 2014 im Ruhestand. Zahlreiche Publikationen.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Hannes Hofinger

    Danke für diese beiden Beiträge. Ein 3. Teil wäre mein Wunsch an das Christkind.
    Hannes

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