Walter Plasil
Die Selbst-Krönung
Über die Zukunft unseres Alltags als Konsumenten
Eine Prophetie

Nachdem ich immer noch Wirtschaftskammermitglied bin, genieße ich das Privileg, früher als manch andere zu Informationen zu kommen. Das ist deswegen relevant, weil uns das Tempo der Veränderungen in der Welt, in der wir leben, mitunter zu schaffen macht. Da ist es von Vorteil, zeitgerecht an das Neue herangeführt zu werden. Und jeder von uns ist gut beraten, darauf zu achten, von der Lawine an Neuigkeiten nicht überschwemmt zu werden. Die Devise muss sein, sich schmerzlos anzupassen und sich vom hurtig dahinfließenden Strom der Modernität nicht abhängen zu lassen.

Damit komme ich zu jenem Beispiel, das uns dazu dienen kann, die Problematik symbolhaft zu beleuchten.

Nachdem die österreichische auch mit der estnischen Wirtschaftskammer eng zusammenarbeitet, bekamen wir über diesen Weg eine Studie zu Gesicht. Estland ist ja bekannt dafür, dass dort das Ausmaß an Automatisierung und Optimierung immer schon beispielgebend hoch war. Wenn wir von modernen Zeiten sprechen, müssen wir dort hinsehen, wo sie gestaltet werden. In dem Fall, von dem hier die Rede ist, geht es um das staatliche estnische Institut I-Agente.

Zusammen mit der Universität Tallinn wurden Zukunftsszenarien angedacht, auf die eine fortschrittliche Gesellschaft hinarbeiten muss, um nicht gegen die fernöstliche Konkurrenz abzustinken. Die Studie ist umfassend und beleuchtet alle Aspekte des modernen Alltags. Es geht also darum, wie wir in Zukunft leben und arbeiten werden.


Die Rolle des Konsumenten

Wir wissen ja, dass es fast schon selbstverständlich ist, dass wir uns beim Einkauf in Geschäften, vom Supermarkt bis zum Möbelhaus, die gekauften Waren selbst zusammensuchen müssen. Dann müssen wir sie zur Kassa schleppen und dort einscannen. Zahlen müssen wir sowieso mit der Karte. 

Wenn wir den Einkauf nicht persönlich vornehmen, sondern bequem im Internet bestellen, balgen sich Zustelldienste um die Aufträge. Die Fahrzeuge dieser Firmen, vom Fahrrad bis zum LKW, werden damit in Zukunft die Hauptverursacher des Verkehrsgeschehens sein. Alles, was wir sonst noch zu Hause brauchen, wird künftig ohnehin mit Drohnen geliefert. Dazu soll jedes Hausdach mit einem kleinen Landeplatz versehen werden. Die Transportlogistik wird ungeahnte Präzision durch eine weltweit funktionierende Satellitensteuerung erlangen.

Böswillige Beobachter behaupten, dass der unintelligente Teil der Kaufvorgänge zunehmend an die Konsumenten ausgelagert wird.

Bekannt ist in dem Zusammenhang auch, dass das Einscannen weiter modernisiert wird. Sobald wir aus irgendeinem Regal etwas entnehmen, wird es von unserem Konto abgebucht. Warum auch nicht? Da entfallen schon mehrere Schritte im Prozess des Eigentumsübergangs, die alle fehleranfällig sind. Die Diebstahlquote zum Beispiel fällt auf null. Da es keine Kassa mehr gibt, kann das eingesparte Personal in Mangelberufe überwechseln. Beispiel: Zahnprothesenmacher. Hier ist Eigenleistung nur begrenzt umsetzbar.


Beteiligung an der Produktion

Das Neue wird aber sein, dass wir uns in bestimmten Fällen schon vor dem Einkauf an der Produktion oder der Endfertigung der Produkte zu beteiligen haben. Die weltweit herrschende Personalnot zwingt uns dazu, sagt die Studie. Wer etwas konsumieren möchte, muss sich künftig am Prozess der Entstehung der Waren angemessen beteiligen.

Das I-Agente Institut gibt uns erste Beispiele dafür. Selbst Waren des täglichen Bedarfs sind da nicht ausgenommen.
Klar könnte man im hinteren Teil eines Supermarkts eine Verpackungsabteilung einrichten. Es wäre ja kein Problem, anlässlich des Einkaufs die angelieferten Eier in Kartons zu schlichten. Fleisch könnte gleich in die passenden Portionen geschnitten und direkt vom Endkonsumenten vakuumverpackt werden. 

Aber auch bestimmte Produktionsvorgänge können vom Kunden übernommen werden. Brot etwa kann heute einfach mit fertigen Backmischungen erzeugt werden. Und moderne Backöfen zu bedienen, ist auch keine Hexerei. Wer sagt denn, dass es nicht gelingen wird, Milch aus großen Kannen in haushaltsgerechten Mengen abzufüllen. Wenn man es ein paarmal gemacht hat, kann man auch Wursterzeugungsmaschinen bedienen und das Endprodukt sogar nach eigenen Vorlieben würzen.

Aber damit nicht genug. Für die Liebhaber von Süßigkeiten wird im Produktionsbereich ein Sortiment an edlen Zutaten bereitgestellt, aus denen man leicht köstliche Schokoladen oder andere Leckereien herstellen kann. Sogar an Gemüse wurde gedacht. Schon heute besitzen kleine Gruppen von naturbewegten Konsumenten eigene Felder. Weiter so! 

Wenn wir die regionale Herstellung von Nahrung haben möchten, müssen wir es selbst erledigen. Das Ganze unterstützt damit auch den Trend, naturnah und regional versorgt zu leben. Wir müssen uns von der Vorstellung leiten lassen, dass künftig immer weniger Menschen anderen zur Verfügung stehen, um ihre basalen Bedürfnisse zu decken. Da ist es nur natürlich, dass man den Endverbraucher in die Produktionskette, den Handel und Transport der Waren mehr einbindet.


Möbel selbst zusmammenbauen

Selbst wenn es nicht um Nahrung geht, sondern etwa um Möbel. Zum bereits bekannten Prinzip, dass wir unsere Möbelteile selbst abholen, die Pakete einscannen und nach Hause karren, um sie dort aufzubauen, käme nun dazu, dass wir – etwa an der Rückseite der Möbelhäuser – die Einzelteile mit der Kreissäge aus den Platten sägen. Ja warum nicht? Das muss gemacht werden! Und der Nutznießer ist am Ende der Konsument selbst! Und das dienstbare Personal dafür gibt es schlichtweg nicht mehr.

Man kann sogar der Frage nachgehen, in welcher Form sich der Konsument bei der Produktion der Platten beteiligen kann. Die Wertschöpfungskette beginnt ja schon im Wald. Wer Möbel haben will, der muss sie sich eben besorgen. Ob Holzfäller, Waldarbeiter oder LKW-Fahrer: all diese Berufe werden vom Arbeitsmarkt verschwinden. Was kommt, ist eine totale Hinwendung zum Endverbraucher. Der bekommt zunehmend die Bedeutung, die ihm zusteht.


Kosten

Was die Kosten betrifft, ist für Konsumenten aber leider wenig Trost zu erwarten. Wie bereits aus den frühen Zeiten des Beginns der Selbstbedienung bekannt, werden Einsparungen durch Eigenleistung von den Unternehmen kassiert. Man spricht da von Abdeckung des Unternehmerrisikos, der Belastung durch Steuern und überbordende Bürokratie.

Auf den Einwand, dass Konsumenten, wenn sie etwa frühere Aufgaben des Erzeugers oder Händlers übernehmen, wie geringfügig Angestellte bewertet werden, denen ihr Anteil an der Leistung abgegolten werden muss, wird von Seiten der Unternehmer mit Unverständnis reagiert. Die Kritiker seien eben allesamt Zukunftsverweigerer.

Als Konsument ist es also wichtig, zu akzeptieren, dass man sich auf Dauer nicht gegen den Fortschritt stellen kann. Das trifft auf alle Bereiche des Lebens zu. Auch dort, wo man bisher nicht daran gedacht hat. Das macht eben den Wert einer soliden Studie aus, die auch den Zweck hat, die Menschen präzise darauf vorzubereiten, was kommen wird.


Auch viele andere Bereiche und Branchen werden betroffen sein.

Die Autobranche zum Beispiel: Hier wird es zu Umbrüchen kommen, wenn publik wird, dass man Autos nur mehr in Form von Bausätzen beziehen kann. Die Vorteile, die das mit sich bringt, werden im ersten Überschwang des Unmuts vermutlich untergehen, aber später wird man sich ihrer bewusst werden. Sonderwünsche in der Ausstattung kann man sich nämlich dann selbst erfüllen!

In der Verwaltung wird es ebenso zu Einsparungen kommen, da man eigene Anträge und Bescheide auch selbst wird ausstellen können. So wird auch der grassierende Reformstau aufgebrochen. Das wäre endlich ein Beispiel für Selfservice, in höchster Reife ausgelebt.

Die Sicherheit, die den Menschen so wichtig ist, wird allumfassend werden. Was soll da schon Böses geschehen, wenn jeder sich selbst bewacht? Wasserversorgung (Eigenbrunnen), Abwasser (Eigenkläranlage) und Strom (Bal-konkraftwerk) sind problemlos effizient zu organisieren. Der Stördienst ist auch schon zu Hause.

Der Arztkontakt findet per Videokonferenz über den eigenen PC statt. Das bringt Virenschutz und Kostenoptimierung in einem. Nach Eigendiagnose kann man sich in die Selbstheilungsabteilung im Krankenhaus einliefern. Dem eigenen medizinischen Befund vertraut man ohnehin am meisten. Und wie man sich selbst therapiert, bleibt der Eigenleistung überlassen. Unabwendbare Operationen erledigt der OP-Roboter. Im Fall von Problemen dabei gibt’s Blutspenden mit Eigenblut. Das alles lässt die Arztrechnungen dahinschmelzen, was zu einer markanten Entlastung des ohnehin überbordenden Sozialbudgets führen wird.

Im Seniorenheim liest man sich selbst die Zeitung vor, damit man von der aktuellen politischen Lage nicht abgekoppelt wird. Durch diese Selbstbeschäftigung hat man es nur noch mit intellektuell hochstehenden Persönlichkeiten zu tun. Die 24-Stundenbetreuung wird schrittweise auf computergestützte Eigenleistung umgestellt.


Im Restaurant

Ein Restaurantbesuch wird sich künftig so abspielen: Man tritt ein, sucht sich selbst einen Platz, putzt den Tisch, holt sich aus der Spüle das Besteck, nachdem man es abgewaschen hat. Dann studiert man die Speisekarte am I-Pad. Man bestellt sich etwas, begibt sich in die Küche, wo auch schon andere Gäste an ihren Gerichten arbeiten. Dann wird gekocht. Die Gewürze hat man in kleinen Portionen von zu Hause mitgebracht. Jemand, der sich selbst dafür angeboten hat, begibt sich in den Keller und holt die gekühlten Getränke, die man am Vortag dort deponiert hat. Nachdem die Teller und Gläser, die man gedenkt, zu benutzen, gespült sind, darf man endlich selbst etwas für sich persönlich machen. Essen und Trinken.

Zuletzt räumt man alles ab, bringt es in die Spüle und rechnet sich aus, was das gekostet hat. Man überweist den offenen Betrag per Handy auf das Konto des Restaurants Zum fröhlichen Bacchanten. Immerhin darf man das Trinkgeld behalten. Dann verabschiedet man sich und wünscht sich selbst noch einen schönen Abend.

Am nächsten Tag bekommt man per Mail einen Fragebogen zugeschickt. In dem wird auf einer Skala von 1-10 um eine Bewertung gebeten. Die Fragen, wie etwa: Waren Sie mit dem Selfservice zufrieden? Oder: Wie stufen Sie das Ausmaß der Sauberkeit im Lokal ein? Das alles sollte man ehrlich beantworten, da es der Qualitätsoptimierung dient.


Kultur

Wer nach dem Essen noch ins Theater will, muss einen Teil der Dialoge selbst sprechen. Will man auch noch Musik dazu haben, sollte man auf einem Instrument der eigenen Wahl der Kreativität freie Bahn lassen. So kommt zusammen, was vereint werden soll. Individualität und Lebensgefühl in einer wirtschaftlich optimierten, selbstgestalteten Lebenswelt.

Nur die ohnehin seit Generationen in die Eigenleistung abgedrängte Schriftstellerei bleibt weitgehend unangetastet, was die Masse der Menschen freilich nicht bemerken wird. Ausgenommen davon sind nur Textteile und Passagen, die über die künstliche Intelligenz generiert werden. Deren Anteil am Endprodukt der fertigen Texte wird um etwa 90% steigen, sagt man uns voraus.

Lediglich in der Malerei könnte es zu einem rasanten Qualitätsverlust kommen, wenn die Bilder im Homeoffice entstehen. Nicht jeder Kunstliebhaber hat selbst eine gute Hand fürs Malen. Wer seine eigenen Werke verbessern möchte, sollte Helfer einstellen. Kunstkritiker zum Beispiel. Das wird nämlich bleiben: Kritiker können selbst alles besser.


Bilanz

Wir Menschen brauchen das Vorausschauen. Es gibt uns Sicherheit und Vertrauen in die Zukunft. Bedenken wir, dass wir allein ohne die Kenntnis der täglichen Wettervorausschau schon jetzt nicht aus dem Haus gehen. Wer also wissen möchte, wie unser Leben weitergehen wird: Das und vieles mehr findet man in der Studie, von der eingangs die Rede war.

Auch in den Reihen der Wirtschaft herrscht höchstes Interesse am Thema. Man möchte eine Arbeitsgruppe einsetzten, die sich an die Umsetzung der Visionen macht, bevor wir das über Druck aus Amerika oder China gezwungenermaßen und dann fremdbestimmt tun müssen. Die Unternehmer in der Wirtschaft versprechen uns Konsumenten jedenfalls: Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Es gilt nach wie vor das Motto: Der Kunde ist König. Und das werde so bleiben. 

Durch die fortschreitende Modernisierung der Eigenbedarfsdeckung bei Produktion und Handel wird der Kunde am Ende sogar in die Lage versetzt, sich damit selbst zu krönen.

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Walter Plasil

Walter Plasil, Jahrgang 1946, geboren in München, aufgewachsen in Wien, seit 1971 in Innsbruck. Führte viele Jahre das INGENIEURBÜRO WALTER PLASIL für Technische Gebäudeausrüstung und Energieplanung und war als Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger tätig. Walter Plasil: „Ich war immer ein Vielschreiber und habe nun, nachdem meine bisherige Tätigkeit dem Ende zugeht, Zeit und Lust dazu, auch zu veröffentlichen. Mein neuer Beruf daher: „Literat.“

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