Walter Plasil
Das Verhalten von
Gnus und Touristen
Eine vergleichende Studie
Kennedy behauptete 1963, er sei ein Berliner. Heute weiß man, dass diese Behauptung der Versuch einer unzulässigen kulturellen Aneignung war. Es geht eben nicht an, sich mit fremden Federn zu schmücken. Die Aussage, man sei eigentlich oder auch gleichzeitig etwas anderes, als man tatsächlich ist, ist nur glaubhaft, wenn man sehr viel Gemeinsamkeiten mit dem hat, von dem man behauptet, es zugleich zu sein.
Sofern dieser Sachverhalt gegeben ist, muss vor allem sichergestellt sein, dass man in der gleichen Kultur lebt, um nicht in Verdacht zu geraten, sich eine andere aneignen zu wollen. Amerikaner und Berliner leben aber nicht in der gleichen Kultur und haben auch sonst wenige Gemeinsamkeiten.
Gnus hingegen haben mit Touristen viel gemein. Ja mehr noch: man kann zurecht von einer kulturellen Einheit der beiden ausgehen. Deswegen ist es nicht abwegig, sich als Tourist auch als Gnu, ob Bulle oder Kuh zu bezeichnen. Oder sich so zu verhalten.
Auch Gnus könnten sich Touristen nennen. Allein schon deshalb, weil sie eine gemeinsame Wanderkultur haben. Sie zeigt sich in legendären Wanderungen, die Jahr für Jahr stattfinden. Im konkreten Fall ist die Rede von Streifengnus (Connochaetes taurinus). Millionen von ihnen bilden riesige Herden. Aus den ausgetrockneten Gebieten der Serengeti und der Masai-Mara-Region Ostafrikas machen sie sich auf den Weg und wandern los, um ein erhofftes Wohlfühl-Paradies in der Ferne anzusteuern. Dabei legen sie Distanzen von mehreren Hundert Kilometern zurück.
Der Tourist, der bekannt dafür ist, ebenfalls gewaltige Strecken zurückzulegen, könnte solche Entfernungen problemlos um das Zehnfache übertreffen. Aber die meisten von ihnen wählen Wanderrouten, die auch Gnus locker bewältigen könnten. Dieses Schauspiel, auch als Great Migration bekannt, ist ein beeindruckendes Phänomen, dargeboten von unstetig aufhältigen Lebewesen. Dies gilt auch für Touristen. Dort nennt man es dann Hauptreisezeit.
Gnus müssen auf der großen Wanderung nicht nur Flüsse voller Krokodile überqueren, sondern auch die Bedrohung durch Löwen, Hyänen und andere Raubtiere überwinden. Touristen wiederum bevorzugen vermutlich deswegen andere Wege, um zu ihren Wohlfühl-Paradiesen in der Ferne zu gelangen. Die während der Wanderung der Touristen auftretenden Gefahren sind allerdings jenen der Gnus vergleichbar.
Die enorme Zahl an Todesfällen von Touristen, zu denen es während deren Wanderaktivitäten kommt, ist statistisch etwa gleich hoch wie bei den Gnus, obwohl in diesem Fall Krokodile kaum eine Rolle spielen. Die Rate beträgt immerhin 0,4 Prozent. Damit verunglücken pro einer Million Teilnehmer an den Wanderungen 4.000 davon tödlich. Das gilt für Gnus ebenso wie für Touristen.
Der Wandertrieb von Touristen und Gnus scheint sich durch das drohende Risiko allerdings nicht bremsen zu lassen. Aber es gibt auch positive Aspekte dabei. So wird berichtet, dass die Wanderungen das Überleben der Gnus in ihrem Ökosystem sichern. Ein fragiles System, das von ständigen Veränderungen geprägt ist. Auch die Millionen an herumziehenden Touristen sichern das Überleben der besuchten Regionen in ihrem Ökosystem, das ebenso ständigen Veränderungen unterworfen ist.
Zwischen Gnus und Touristen existieren weitere kulturelle Parallelen, die es verdienen, näher betrachtet zu werden.
Einer der Hauptgründe für das Wanderverhalten der Gnus ist wissenschaftlich nachgewiesen. Gnus bekommen auswärts besseres Fressen. Beim Vergleich mit dem, was diesbezüglich dem Touristen nahrungsmäßig in der Ferne geboten wird, muss man freilich ein großes Fragezeichen setzen. Aber meist schmeckt es auch in der Fremde. Oft sogar besser.
Das einzelne Tier – in dem Fall das Gnu – ist entweder Bulle oder Kuh und lebt in großen Herden. Bullen haben ein Körpergewicht von bis zu 250 Kilogramm. Kühe bringen es hingegen nur auf 155. Sie wiegen also um 28% weniger.
Ähnliche Proportionen herrschen auch zwischen dem Touristen und der Touristin. Der Tourist wiegt 85 Kilogramm, die Touristin 70, das sind um 18% weniger. Diese Durchschnittswerte bei Touristen werden aber Beobachtungen zufolge häufig nach oben hin überschritten. Demnach steigt beim einzelnen Touristen das Gewicht häufig auf jene Prozentwerte, die auch bei Gnus üblich sind.
Der einzelne Tourist, als eigenständige Rasse betrachtet, ähnelt der Rasse der Gnus auch in vielen seiner Verhaltensweisen, vor allem was die Mobilität betrifft. Oberhalb von 1.800 bis 2.100 Höhenmeter sind Gnus selten anzutreffen, jedoch überqueren sie während ihrer saisonalen Wanderbewegungen durchaus Grasland in Bergregionen oder Hügelland. Wer meint, dass hier lediglich das Verhalten von Gnus beschrieben ist, irrt. Es sind nur die Wanderrouten des Touristen, die sich von jenen der Gnus unterscheiden. Die Wanderkultur selbst ist die gleiche.
Die Haarfarbe bei Gnus ist unterschiedlich. Manche haben eine dunkle, schiefergraue Behaarung. Die meisten aber eine eher rotbräunliche, mit auffälligen Querstreifen. Touristen haben ebenfalls unterschiedliche Behaarung. Manche weisen sogar Querstreifen im Haar auf.
Unterschiede in der Intelligenz von Touristen lassen sich übrigens am Geschmack ihrer Bekleidung und der Art ihrer Schuhe erkennen. Über äußere Zeichen, mittels derer der Intelligenzquotient von Gnus ablesbar wäre, wird noch geforscht. Erste Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Form der Hufe dabei eine gewisse Rolle spielt.
Wenn es um Unterschiede geht, spricht die Wissenschaft übrigens von Dimorphismus. Dieser Begriff wird für Zweigestaltigkeit, also vom Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen einer gemeinsamen Grundform verwendet. Das trifft auch bei den Wanderungen der Gnus und jenen der Touristen zu. Es handelt sich um unterschiedliche Formen derselben Urform. Manchmal scheint dieses Phänomen sogar fließend zum Polymorphismus überzugehen. Damit ist ein Auseinanderdriften von nicht immer genau abgrenzbaren Varianten des Verhaltens gemeint.
Bei der Anzahl dieser Ausnahmeformen hat freilich der Tourist die Nase vorn. So bleiben etwa den Gnus Auto-, Bahn- und Pauschalflugreisen verschlossen. Dennoch verhalten sich dabei Touristen wie Herden von Gnus.
Als weitere Verhaltensweise von Wandernden könnte man das Vorhandensein von Sexualdimorphismus beleuchten. Überraschend mag erscheinen, dass dieser bei Gnus eher gering ausgeprägt ist. Das macht es den männlichen Tieren während der Dauer der Wandersaison möglich, in der Herde zu leben, ohne dass dies zu einer erhöhten Aggressivität mit anderen männlichen Tieren des Herdenverbands führt.
Der Tourist im Allgemeinen muss allerdings als ein solcher beschrieben werden, dessen Aggressionspegel in der Reisegruppe unberechenbar ist. Deswegen kann man ihn diesbezüglich auch als polymorph pervers einstufen.
Aber es gibt auch Exemplare von apathisch wirkenden Touristen. Der Volksmund nennt solche Wanderer in verbal diskriminierender Weise Misanthropen. Sofern sie nicht selbst dazuzählen, meiden Touristen klassischer Prägung den Umgang mit derartigen Exemplaren. Einzelfälle der Prägung gibt es auch bei Gnus. Man kann es als Anthropophobie einstufen.
Gnus sind nicht nur für ihre Wanderungen bekannt. Die Ausscheidungen der Gnus, also konkret jene immense Menge an Fäkalien, die sie auf ihrer Wanderroute absetzen, sind für die Biologie der besuchten Landschaft von Bedeutung.
Ähnlich verhält es sich bei Touristen, allerdings in umgekehrter Bewertung.
Leider können nicht alle Gnuherden wandern, da in vielen Regionen weitläufige Zaunsysteme der Reviergrenzen die Routen unterbinden. Auch Touristen werden von weitläufigen Zaunsystemen der Länder am Wandern gehindert.
Gnus und Touristen hassen das. An Grenzen kommt es deswegen immer wieder zu unschönen Vorfällen.
Irgendwann kommt die Zeit, dass Gnus und Touristen wieder in die angestammten Reviere zurückkehren wollen. Für die Heimkehrer herrschen leider dieselben Gefahren, die man noch aus der Hinreise kennt. Gegen Heimweh sind allerdings weder Gnus noch Touristen immun. Die Gnus werden auch diesmal von Raubtieren und Krokodilen erwartet, was tausenden Exemplaren der Wandermasse das Leben kostet.
Die Herden der Gnus können aus allen Altersgruppen und Geschlechtern zusammengesetzt sein. Aus Gründen, die man erahnen kann, bilden Männchen und Weibchen über die längsten Wegstrecken hin jeweils getrennte Herden.
Seitens der modernen Friedensforschung wird dem Modell der gezielten Trennung von wandernden Massen daher steigende Bedeutung zugemessen. Am ausgeprägtesten trennen sich die Gruppen zu jenen Zeiten, in denen die Kälber zur Welt kommen. Die Bullen halten sich dann weit entfernt in losen Gruppen auf.
Nur während ihrer Sturm- und Drangzeit versuchen einzelne Bullen ein Territorium zu etablieren, das ihnen die Chance zur Fortpflanzung bietet. Dieses Revier wird dann gegen andere Männchen verteidigt. Betritt eine Weibchenherde in solchen Zeiten ein derartiges Gebiet, übernimmt das Männchen die Kontrolle über sie und paart sich mit ihnen, ehe sie das Revier wieder verlassen dürfen.
Der kulturell verfeinerte Konkurrenzkampf zwischen Touristen, speziell, wenn es um die Eroberung von Touristinnen geht, scheint hier am Beispiel des Wandergnus anschaulich erklärt zu sein. Tragende Kühe schließen sich, sobald sie gekalbt haben, anderen Muttertieren an. Man kann zum Geburtsvorgang auch sagen: die Kühe werfen. Touristinnen hingegen bevorzugen andere Bezeichnungen für die Geburt ihres Nachwuchses. Interessant ist auch, dass sich nichttragende Gnu-Weibchen häufig in Herden nicht territorialer Gnu-Männchen herumtreiben. Über die Gründe dafür herrschen in der Fachwelt noch unterschiedliche Theorien.
Touristen machen sich im Gegensatz zu Gnus von vornherein gemischtgeschlechtlich auf den Weg. Die Realität zeigt aber, dass Touristen ebenso wie Gnus von lebenslangen Partnerschaften eher wenig halten. Nichtschwangere Touristinnen sind häufig in Runden nicht territorialer männlicher Touristen zu finden. Das führt dazu, dass Touristinnen die Rückwanderung mitunter in gesegneten Umständen antreten. Die Tragzeit der Gnu-Kuh beträgt wie bei der Touristin neun Monate. Anschließend wird ein Junges geboren, das dann für ein paar Monate gesäugt wird. Mehr an biologisch-kultureller Gemeinsamkeit geht fast nicht mehr.
Bei Touristinnen kommt es allerdings zunehmend zu Mehrlingsgeburten. Das wird dem Einsatz der künstlichen Befruchtung zugeschrieben. Bei Gnus findet man diese Technik noch nicht. Sie wäre aber praktikabel.
Ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Kälber von den Muttertieren absondern, verschiebt sich das Geschlechterverhältnis allmählich zu Gunsten der Weibchen. In manchen Populationen der Gnus kommt dadurch auf zwei Weibchen nur noch ein Bulle.
Männliche Tiere sind permanent einem höheren Stress ausgesetzt, da sie ständig um Reviere und Kühe kämpfen müssen. Bei der Abwehr der Raubtiere stehen sie auch an vorderster Front. Vermutlich sind das die Gründe dafür, dass die Bullen früher sterben als die Kühe. Touristen sterben auch früher als Touristinnen. Möglicherweise aus ähnlichen Gründen. Woher man das alles weiß? Die herumziehenden Herden der Gnus werden wie Touristenströme von Forschungsflugzeugen, Drohnen und der Wissenschaft beobachtet. Zusätzlich werden die Gnuwanderungen von Geiern begleitet, jene der Touristen von Reiseleitern. Da bleibt nichts unentdeckt.
Das gemeinsame Wandern in einem riesigen Verbund ist und bleibt für Gnus wie auch für Touristen lebensgefährlich. Deswegen ist zu empfehlen, sich davor einen Überblick über die Risken zu verschaffen, die Route nochmal zu überdenken und überhaupt die Notwendigkeit der Wanderbewegung nüchtern zu analysieren. Das ist allerdings etwas, das man von den Teilnehmern der großen Gnuwanderung nicht wirklich erwarten darf. Aber, genau betrachtet, auch nicht von den Touristen.
Der Wandertrieb ist allem Anschein nach naturtrieblich angelegt. Sowohl Gnu- als auch Touristenströme sind letzten Endes weder verhinderbar noch beherrschbar. Sie suchen sich und finden ihre Wege auch dort, wo man meint, dass es eigentlich keine gibt. Ungehemmte Züge von Wanderern können auch wahren Ausbrüchen von Panik gleichen. Das geschieht dann, wenn sich ein latentes Gewaltpotential aufgestaut hat. Sobald dieses ausbricht, stürmen Gnus wie Touristen als wilde Horden los und walzen alles nieder, was sich vor ihnen aufgebaut hat.
Fazit:
In der vorstehenden Beschreibung konnte gezeigt werden, dass sich im Leben von Gnus und Touristen vieles ereignet, das sich gleicht und das beide auf ihre Weise zu meistern haben. Das wirkt verbindend. Zumindest zwischen Gnus und Touristen. Daraus folgt: Gnus und Touristen haben die gleiche Kultur, sie sind seelenverwandt. Da könnte man ja auch einmal etwas gemeinsam unternehmen. Etwa eine Neigungsgruppe Wandern-modern gründen. Oder einen Sozialverein Unterwegs für die gute Sache ins Leben rufen.
Die Devise könnte lauten: Fort sein, um bei sich zu bleiben Der Weg dafür wäre offen. Dann käme es vielleicht sogar vom Gnu zum Du.
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Köstliche Abhandlung! Kurz: ein G’NUss!