Susanne Weinhöppel
Wer hat Recht?
Über einen unsinnigen Ehrgeiz
Notizen
Meine Kindheit war intellektuell sehr spannend, weil ich zwei ältere Schwestern hatte, die sich pausenlos stritten. Sie stritten darum, ob Vanilleeis aus Milch oder aus Sahne gemacht wird, ob unsere Mutter dreißig oder vierzig Paar Schuhe im Schrank hatte, oder ob der Kaugummiautomat an der Ecke funktionierte. Er funktionierte übrigens nicht, zumindest wenn es mein Zehnerl war, das eingeworfen wurde.
Ich war fünf Jahre alt und konnte schon zählen, deshalb habe ich die Anzahl der Schuhpaare unserer Mutter überprüft, es waren genau sechsunddreißig. Mit diesem Wissen wollte ich meine Schwestern überraschen, kam aber nicht durch, weil sie mitten in einem neuen Gefecht waren.
Unsere Nachbarin hatte ein blaues Auge. Hanni meinte, ihr Mann habe sie geschlagen, Mina behauptete, es sei ein Tennisball gewesen. Und plötzlich ging es darum, ob sie die Schläge verdient hätte. Der Streit endete damit, dass Mina ein blaues Auge hatte.
Da ich beide sehr liebte, habe ich ihnen alles geglaubt und mit den Widersprüchen konnte ich leben. Meistens sah ich sie sowieso einzeln. Bei Hanni hatte Hanni recht und bei Mina Mina.
Die Schule vereinfachte die Welt, weil es harte Fakten gab, selbst wenn man sie nicht wusste. Außerhalb ging die Rechthaberei weiter, es gab noch kein Wikipedia und manche Menschen konnten einfach irgendetwas behaupten. Wenn der Widersprecher nicht stark genug oder sozial nicht so angesehen war, dann galt das.
Mir konnte man sowieso jeden Schmarrn erzählen und daran waren bestimmt Hanni und Mina schuld. Noch mit elf Jahren glaubte ich, dass Transistoren aus Bergwerken kämen. Ein Bub hatte mir das erklärt – ich war in ihn verknallt, er nicht in mich und er verarschte mich einfach. Die Amerikaner im Krieg, wissenschaftlich viel weiter als die Deutschen, hätten diese Transistoren in den deutschen Bergwerken entdeckt.
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass mein bairischer Vater für sehr beleibte Menschen den Spruch hatte: Der hat a ganz schöns Leberkäsbergwerk beinandt. Für mich waren von kleinauf in Bergwerken die wundersamsten Dinge zuhaus.
Als Jugendliche habe ich mich auf einer Geburtstagsfeier so nachhaltig blamiert, dass ich ab da selber recht haben wollte.Ein Freund von mir hatte berichtet, Krokodile wüchsen in Schüben, deshalb dürfe das Terrarium nie zu klein sein. Wenn sie nämlich übers Wochenende einen Wachstumsschub kriegten, der könnte bis zu 30 Zentimeter ausmachen, und der Besitzer sei nicht daheim, ginge der stabilste Käfig kaputt. Als ich das erzählte, war der Vater der Freundin, ein Biologe, anwesend und vor Lachen flog ihm sein Hustenbonbon aus dem Mund. Der Urheber dieser Geschichte glaubt sie bis heute.
Es gab in mir eine Hierarchie der Rechthaber: am rechtesten hatte mein Vater, dann Hanni, Mina spielte nicht mehr mit, und dann immer mein jeweiliger Freund, der meistens 2 bis 3 Jahre älter war als ich und zusätzlich gab es noch das von Berufs wegen rechthabende Fachpersonal, auf das man sich im Notfall berief.
Im Nachhinein sehe ich, dass meine Mutter gar nicht vorkam, obwohl sie viel öfter recht hatte als mein Vater. Sie hatte ein profundes Geschichtswissen, aber ich hatte Probleme mit ihr. Daran zeigt sich, wie sehr der Beziehungsaspekt und nicht die Sachlage eine Rolle dabei spielt, wem man glaubt.
Mit der Zeit musste man dann schon etwas mehr wissen, meistens hatten wir Halbwissen, auf dem wir aber eisern beharrten. Wir stritten, ob Mozart oder Beethoven besser sei, ob Kant oder Sartre die richtige Philosophie hatte, welche Partei die gerechtere sei. Ich glaubte damals, es gäbe bei all dem ein endgültiges Urteil – und es war besonders wichtig, dass die engsten Freunde genauso dachten wie man selbst.
Einmal sagte ich in Anwesenheit einer Mitschülerin, eine hingebungsvolle Mireille Mathieu-Verehrerin, dass ich Mireille nicht ausstehen könne. So schnell habe ich weder vorher noch nachher je eine Ohrfeige bekommen. Es war genau wie bei Hanni und Mina. Irgendwann wusste auch ich, dass man nur bei hartem Faktenwissen rechthaben kann, z.B. wie alt Adenauer wurde, was man ja irgendwo nachschlagen konnte.
Aber der Kampf hörte für mich erst auf, als ich einen Freund hatte, der immer alles besser wusste, und er wusste es eben wirklich besser. Er wusste, dass Rita Hayworth in Schönste der Stadt die Hauptrolle spielte und nicht Ann Sheridan und warum. Ich hatte gedacht: Joan Crawford. Diesen Film muss man nicht kennen.
Er wusste wann die Matthäuspassion uraufgeführt wurde und wie viele Jahre später Mendelssohn sie wieder aufgeführt hatte. Ich hatte 100 Jahre im Kopf – es waren 102. Dafür kannte ich das wunderbare Mendelssohn-Zitat: …dass es ein Jude sein musste, der den Leuten die größte christliche Musik wiederbringt.
Er hatte aber gesagt: Judenjunge.
Darauf meinte ich nur noch: Du hast recht und du wirst immer recht haben. Aber es ist wahnsinnig unerotisch. Dann verschwand ich aus seinem Leben.
Kurz darauf machte ich den Führerschein und merkte, dass der deutsche Straßenverkehr das Eldorado der Wichtigtuer und Rechthaber ist: Sie nehmen dir die Vorfahrt und schauen dich dabei strafend an. Beim Autofahren kann ich mich damit abfinden grundsätzlich im Unrecht zu sein, dafür hätte ich gerne am Wahltag recht.
Die Partei, der ich meine Stimme gebe, soll regieren. Ob ich mit meiner Wahl dann wirklich recht habe, stellt sich erst nach Monaten oder Jahren heraus. Und gerade im Rechthaben ist mir wenig Glück beschieden. In der Politik, das ist den meisten genauso klar wie mir, gibt es keine endgültige Wahrheit – Anschauungen bestehen aus vielen Fakten, die man unterschiedlich gewichten kann. Trotzdem wird auf Partys gestritten, Expertenmeinungen zitiert, bewertet – oft ohne Quellenangabe. Wie bei uns als Kindern: Der Stärkste hat recht und bestimmt den Diskurs.
Ich kenne ganz wenig Leute, die politisch so gebildet sind, dass es ihnen möglich ist, eine eigenständige Anschauung zu den Ereignissen in der Welt zu haben. Ich gehöre nicht dazu.
Jeden Tag bin ich dankbar für mein harmloses Leben, in dem ich keine Entscheidungen zu treffen habe, die andere beeinträchtigen. Denn die politische Entscheidung, die allen Gruppierungen gefällt, wurde noch nicht getroffen.
Politiker haben oft nicht recht – aber sie haben die Macht. Und ich habe nicht das Wissen, um sicher zu sagen, wie es besser gewesen wäre. Das ist für mich als Nichtrechthaberin ein Stück Ohnmacht.
Rechthaben in der Politik ist etwas für den Stammtisch. Da wird ein Politiker in wenigen Sätzen runtergemacht. Aber das kennen wir ja auch aus der Kulturkritik. Ein Pianist z.B., der jahrelang an den Beethoven-Sonaten, Bachfugen, Debussy-Stücken geübt hat, die er dann im Konzert präsentiert, wird von einem Kritiker verrissen, weil der die Stücke gerne anders gehört hätte. Das könnte er ja schreiben, aber er sollte doch die Anschauung des Künstlers, die auf intensiver Beschäftigung mit der Materie beruht, nicht mit ein paar gut gebauten Sätzen abtun. Sowas habe ich schon gelesen, ohne jetzt Namen zu nennen.
Bevor es die Sozialen Medien gab, konnte eine Kritik in der Süddeutschen Zeitung über die anschließende Auftragslage eines Künstlers entscheiden. Der Kritiker hatte eben für viele Feuilletonleser recht und damit Macht.
Genauso haben die derzeit angesehenen Denker in den Medien die Macht, den Diskurs zu bestimmen, weil viele Nichtrechthaber wie ich, finden, sie haben in ihren Anschauungen recht.
Ein Kritiker kann mit einem Satz die Arbeit eines Künstlers zunichte machen. Einige Intellektuelle können bestimmen, worüber geredet wird: Nahost oder Kongo. Das ist Einfluss. Das ist Macht. Aber da die allerwenigsten Menschen diese Macht haben, muss noch irgendetwas anderes hinter der ewigen Besserwisserei und vor allem der Rechthaberei stecken.
Immer schon lebten Menschen in einer Welt voller Unsicherheit. Heute haben viele genug zu essen, ein Bett in einer sicheren Hütte und eine Lebensversicherung. Aber von einem Moment zum anderen kann sich all das in Rauch auflösen, eine schlimme Krankheit kommen, Kinder sterben und Menschen in schlimmen Kriegen umkommen.
Gleichzeitig haben mich noch nie so viele führende Politiker in ihrem Habitus an die Sandkastenphase erinnert.
Und an der Stelle fallen mir meine großen Schwestern wieder ein, ohne dass ich platte Vergleiche mit der Weltlage ziehen möchte.
Hanni fühlte sich von der Mutter ungeliebt und Mina vom Vater. Das hat beide in ihrem Lebensfundament und in ihrem Selbstwertgefühl stark verunsichert. Um diese Grundlagen musste täglich gekämpft werden und zwar blutig. Beide Kinder fühlten sich nie wirklich geborgen, aber manchmal konnten sie wenigstens ihre Meinung durchsetzen.
Und vielleicht ist genau das der Punkt: Rechthaben heißt, für einen Moment über allem zu stehen in einer Welt, in der nicht einmal mehr die Fakten sicher sind.
Und jetzt habe vielleicht auch ich einmal recht: Es macht nichts, wenn ich etwas nicht genau weiß, ich mache meine Sachen, höre mir Geschichten und verschiedene Anschauungen an und versuche mich einigermaßen wohlzufühlen. Rechthaben will ich nur noch bei Wetten und der Einsatz ist Champagner.
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