Susanne Weinhöppel
Es gibt Leid.
Eine Welt geriet aus den Fugen und
Yoga half gar nicht.
Notizen
Keine Frau muss Scheidentrockenheit aushalten. Sie kennen diese Werbung? So habe ich ziemlich lange das Leben betrachtet. Es gibt immer eine Creme die hilft. Meine Mutter war Amerikanerin. Zu einer Zeit, als man Psychiater noch Irrenärzte nannte, wurden wir Kinder schon zur Psychotherapie geschickt, vermutlich zur Prophylaxe. Sie war schon in den 50er Jahren der Meinung, dass es bereits im Diesseits für jedes Problem eine Lösung gäbe, man müsse sie nur finden.
Als eine übergewichtige Bekannte von ihr eine Psychoanalyse machte und nach drei Monaten immer noch nicht abgenommen hatte, riet sie ihr, den Therapeuten zu wechseln.
Natürlich gab es auch bei meiner Mutter Probleme, die trotz aller Maßnahmen anhielten. In diesem Fall waren Andere schuld oder sie verdrängte sie einfach, darin war sie gut.
Ich war bestens auf die 80er Jahre vorbereitet, als der Glaube an Ratgeber zum allgemeinen Standard gehörte. Seither gibt es viele Hilfsangebote, von den Anonymen Alkoholikern über Wie sag ich`s mit Blumen, Schuldnerberatung bis hin zu den Weightwatchers.
Mir ging es trotzdem oft schlecht, aber ich hielt das für meine ganz persönlichen Neurosen, quasi selbstgewählt.
Und dann steht es plötzlich vor der Tür – das Leid, das jeden treffen kann. Es ist, als ob eine Boxerfaust von außen dein Fenster einschlägt. Unser Partner verliert mit Fünfzig seinen hochspezialisierten Job oder wird unheilbar krank, einem anderen stirbt das Kind. Bei mir war es meine geliebte Schwester die eine tödliche Krankheit bekam.
Eines Menschen Siechtum hautnah mitzuerleben, macht hilflos und das ist keine Neurose. Für mich veränderte sich die Welt mehr und mehr, ohne dass ich begriff, was wirklich geschah. Liebevolle Freunde rieten zu mehr Egoismus. – Wie hätte ich mich früher über einen solchen Rat gefreut!
Ich hatte die erste der Vier edlen Wahrheiten des Buddhismus verstanden: Es gibt Leid. Meine Welt geriet aus den Fugen und Yoga half nicht.
Aber eigentlich hatte sich gar nichts verändert, ich hatte es bis dahin nur nicht richtig eingeordnet. Selbst meine Mutter war ja ständigen Alltagspeinigungen oder Bauchweh ausgesetzt gewesen. Aber der Glaube, dass im Ernstfall irgendwo da draußen eine Rettung wartet, hatte uns gehalten.
Blutige Trennungen und peinliche Niederlagen hatte ich überstanden. Der Schmerz ließ jedes Mal nach einiger Zeit nach, um einem neuen Wehwehchen zu weichen. Und in den seltenen Momenten der Verschonung konnte ich mich weiterhin der Illusion hingegeben, mein Leben im Griff zu haben. Es hatte mich ja schon überfordert, wenn anderen die wirklich schlimmen Ereignisse zustießen.
Und jetzt sind die Anderen mir sehr nah gerückt. Vor dem Café Münchner Freiheit sehe ich nicht mehr eine anonyme, plaudernd konsumierende Menge, sondern da sitzen einzelne Menschen mit einem Schicksal. Ich stelle mir vor, dass die Frau ganz hinten unter entsetzlichen Zahnschmerzen leidet, ich weiß das, denn genau da war ich auch schon gesessen. Der Herr mit dem Fleck im Gesicht drei Tische weiter hat vermutlich ein malignes Melanom und wird bald sterben. Rechts außen sitzt ein Paar um die Sechzig. Sie schaut so traurig. Vielleicht hat er ihr eben eröffnet, dass seine Geliebte ein Kind von ihm erwartet.
Viele erleben einen durchschnittlichen Tag, sind fröhlich oder gestresst, aber das Leid kann ich nicht mehr ignorieren, es gehört zu unserer Welt und daran habe ich jetzt teil. Aber wie soll man mit dieser Gewissheit weiterleben, wie je wieder froh werden? Alkohol, Drogen und Zigaretten helfen nur sehr kurzfristig.
Ich kenne Katholiken, die Schmerz als von Gott gegeben hinnehmen und darin etwas Gutes erkennen können. Immerhin hat ihr Heiland durch seinen Schmerz die Menschheit erlöst. Deshalb sei früher in Ordenskrankenhäusern mit Schmerzmitteln sehr gegeizt worden, wie mir ein Arzt erzählte. Die frommen Nonnen erachteten Schmerzen nämlich als heilsam für die Seele.
Leider steht mir der Glaube, meine Pein sei von Nutzen für die Allgemeinheit, nicht zur Verfügung, und auch meine Seele zieht die Tablette dem körperlichen Schmerz vor.
Dann gibt es Wiedergeburtsgläubige, die der Überzeugung anhängen, man trage durch großen Schmerz sein Karma ab. Das soll heißen, man habe in früheren Leben Fürchterliches getan und diese Verbrechen seien jetzt abzuarbeiten, damit der Geist wieder rein werde. In den nächsten Leben würde all die Anstrengung Früchte tragen, aber im Moment herrscht auf unbestimmte Zeit Dürre.
Auch ich hatte schon Zeiten gehabt, in denen ich glaubte, meine Probleme könnten nicht allein aus diesem Leben stammen. Irgendwann wusste ich dann alles aus meinen vorherigen Inkarnationen. Nur in der jetzigen kannte ich mich nicht aus.
Am Liebsten hätte ich den Schmerz mit einem Fußtritt aus meinem Leben gekickt, aber irgendwann habe ich eingesehen, dass er bleibt,, solange er eben dauert, und irgendwann kommt ein neuer.
Auch meiner Mutter, die fest an Lösungen für alles geglaubt hatte, blieb das Leid nicht erspart. Sie bekam im Alter Parkinson und musste in ein Pflegeheim. Ich habe ihr zwar das bestmögliche ausgesucht, aber es war eben dennoch ein Heim und kein Zuhause.
Sie begriff nicht, warum ausgerechnet ihr das passierte, sie hatte doch immer alles richtig gemacht. Ich konnte es ihr auch nicht erklären, und religiös war sie eben nicht.
Es ist leichter, wenn die Menschen einen Sinn in ihrer Krankheit sehen. Sie sah darin keinen und verstand nicht, dass so etwas eben passieren kann, wenn man alt wird. Auch für mich war ihr Schmerz nicht leicht mitanzusehen. Ich fühlte mich ohnmächtig und Ohnmacht gehört zum Schlimmsten.
Es gibt Leid, und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll, bis auf eines: Es verbindet. Früher oder später kennen sich die meisten Menschen damit aus. Und manchmal kann es in den ganz harten Zeiten auch lustig sein.
Ich war wegen meiner Mutter oft im Altersheim und sah dort viele ihrer KollegInnen. Einmal sagte ich einer seit Jahren bettlägerigen Patientin, wie jung und rosig sie aussähe. Ihre trockene Replik: Man kann ja nicht behaupten, dass ich die letzten Jahre viel gearbeitet hätte.
Ein anderes Mal saß ich mit einer Pflegerin im Garten und wir beobachteten einen Greis, der mit seinem Gehwagen immer wieder ins Blumenbeet oder in die Büsche fuhr. Es kostete ihn große Anstrengung, seine Gehhilfe wieder auf den Fußweg zu ziehen, und für uns wäre es ein Leichtes gewesen, ihm zu helfen.
Die Pflegerin sagte, das sei bei ihm immer so, und Mittagessen gäbe es erst in einer halben Stunde. Irgendetwas müsse der Mann doch tun, und es sei noch nicht einmal sicher, ob er unsere Hilfe zu schätzen wisse.
Es gibt Leid, und trotzdem feiert die Welt immer wieder irgendwelche Feste, Jubiläen und andere Geselligkeiten, zu denen ich mich während der schweren Zeit lustlos hinschleppte. Ich wollte ja nicht neben der Lebensfreude auch noch meine Freunde verlieren. Und trotz meiner schlechten Laune und dem Gefühl, nichts, außer Unschönem erzählen zu können, habe ich mich dann prächtig amüsiert, über Witze gelacht, mit großem Appetit Torten verschlungen und anregende Gespräche geführt.
Es gibt Leid, aber es gibt auch Lust, Spaß und freudige Momente, manchmal sogar Tage des Wohlergehens: ein beruflicher Erfolg, die Blumenfrau, ein Chopin-Klavierstück, mein Sohn kommt zum Essen oder ich setze mich mit einer Tasse Tee auf mein Sofa, blättere in einer Zeitschrift und entdecke neue Kochrezepte, die ich ausprobieren möchte.
Dabei kann ich recht fröhlich werden, auch wenn ich eigentlich nicht verstehe, warum.
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Alles kann nicht falsch gewesen sein. Die Weightwatchers sind kürzlich pleite gegangen. Es hat vermutlich so gut funktioniert, dass es keine Übergewichtigen mehr zu geben scheint.