Reinhold Knoll
Wie die Lemminge
Die Demokratie befördert durch ihre Meinungsfreiheit
Massenpanik.
Essay
Wenigstens der Legende nach scheinen Lemminge dem periodisch eintretenden Populationsdruck mit massenweiser Auswanderung zu begegnen, die angeblich im Massenselbstmord endet. Diese völlig aus der Luft gegriffene Behauptung war in einem der Disney-Filme Weiße Wildnis lanciert worden und genügte, dass die Ansicht von vielen bis heute geteilt wird. Es mag zwar stimmen, dass in der arktischen Tundra eine Überbevölkerung des Lemmus amurensis eintritt, rätselhaft genug, die Folge ist eine Wanderungsbewegung, doch sie endet nicht wie im Drehbuch der Disney Corporation behauptet.
Dennoch ist daraus ein politisches Paradigma entstanden, das durch das Computerspiel Lemmings 1991 frisch in Erinnerung geblieben ist. Damit wurde es eine geläufige Bezeichnung für irrationale soziale Bewegungen wie die Hexenjagd in der Darstellung von Arthur Miller 1953. Elias Canetti arbeitete an dem Thema in seinen historisch-politischen Aphorismen in Masse und Macht. Und die wohl bedeutendste Analyse für politische Massenphänomene hat Hermann Broch während des Zweiten Weltkriegs in der Emigration verfasst: Schrittweise weitet sich der Dämmerzustand der politischen Öffentlichkeit aus und nimmt die totalitären Perspektiven willfährig auf.
Die Schwierigkeit der Analyse von Massenphänomenen besteht darin, dass bei Spannungen oder Konflikten in oder zwischen Gruppen, Schichten oder Klassen, traumatisch erfahrene Veränderungen – wie nach dem Ersten Weltkrieg – generell vorausgesetzt werden, um dann die gewaltigen Aberrationen als Konsequenz zu bezeichnen. Wie oft sind wohl zur Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus Inflation, Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit verwendet worden?
Gleichzeitig begegnen wir in unserer Gegenwart weitaus günstigeren Bedingungen allgemeiner Wohlfahrt, des breiten sozialen Aufstiegs nach den Hungerjahren, einer unvergleichbaren sozialen Sicherheit, von der gesagt wird, dass es noch nie eine derartige lange Phase des Friedens und des Wohlstands gegeben hat. Diese Entwicklung hat zu dem Optimismus beigetragen, dass sich nicht nur Geschichte nicht wiederholt, sondern dass auch dem Radikalismus der Boden entzogen wurde.
So ist es paradox, dass die Unzufriedenheit zunimmt, die Abneigung gegenüber der Demokratie, ein allgemeines nicht definierbares Unbehagen, ebenso wird der in der Moderne unerfüllbare Wunsch nach Geborgenheit stärker, nach stabiler sozialer Umwelt trotz Bevölkerungswachstum, die Sehnsucht nach Idylle, die in keinem Urlaubsort mehr zu finden ist.
Nun kann man ein Individuum für geisteskrank erklären, wenn es zum Amokläufer wird, doch wenn ein ganzes Volk sich in dieses Unbehagen hineinsteigert, darin die Frustrationen erlebt, wird das Urteil über dieses Verhalten zu einem Politikum. Dieses Unbehagen findet seit geraumer Zeit seine politische Artikulation. Es ist in Europa gelungen, die völlig verschiedenen Lebensumstände als einen einzigen und einheitlichen Lebenskampf der Gesellschaften darzustellen, von Holland bis Ungarn, und mit ihm wurde wie in vormodernen Gesellschaften zum populären Beschwörungstanz aufgerufen, der genügende Teilnehmer im magischen Denken vereint, das ebenso logisch, plausibel, vernünftig ist wie irgendeine praktische Einrichtung.
Die Kritiken an Politik, Gesellschaft und Konsum enthalten Ergebnisse teilweise richtiger Wahrnehmungen und werden zur Grundlage einer mehr als obskuren Weltinterpretation.
Nach Hermann Broch überfällt dieser politische Beschwörungstanz ein politisches Gefüge, in dem die Demokratie nicht alle Voraussetzungen für ein zentrales Wertsystem erfüllen kann, so sie die Meinungsvielfalt als Postulat gelten lässt. Ja, die Demokratie spiegelt sogar den Zerfall der Werte wider, da sie eine Vielzahl von Wertsystemen duldet..
In dieser Breite repräsentierter Meinungen erweist sich die Demokratie schwächer als jene Intentionen, die ihr diese Schwäche vorwerfen. Gerade in den Parlamenten zeigen sich in den Parteien die unterschiedlichen Werthaltungen, die aber zugleich das Funktionieren des Abwägens der Meinungen unterbinden. So war vor vierzig Jahren noch der Ruf nach versachlichter Politik scheinbar die Lösung, doch nicht lange.
Zu wenig wird berücksichtigt, dass mit der Zunahme der Komplexität von Staat und Gesellschaft viele Bereiche in eine Unterbestimmung geraten, deren Förderung stets mit dem Hinweis vertagt wird, Geldmangel erlaube keine Reform oder die Reform werde demnächst in Angriff genommen – am Sankt Nimmerleinstag. Gerade im Bereich Bildung und Schule wurde jede Verbesserung oder Reform mittels Umetikettierungen obsoleter Inhalte seit 1975 vertröstet – besonders in Europa, sodass Friedrich Nietzsches Vorträge Über den Niedergang der Bildungsanstalten 1872 den gegenwärtigen Zustand noch immer zutreffend beschreiben.
Noch schlimmer steht es bei anderen gesellschaftspolitisch relevanten Fragen: soziale Sicherheit, Energieversorgung, veränderte Arbeitswelt, Migration und Integration.
In Europa war man allein schon bei der Frage nach der Sicherung der Außengrenzen der EU mehr als säumig geblieben, weshalb sich diese erhebliche Frage nach Begrenzung in den europäischen Binnenstaaten einnisten konnte und zu rächen begann.
In der Energieversorgung hatten sich alle in der EU ausgerechnet auf Russland verlassen, Ausnahme Norwegen, weshalb die Überraschung groß war, als sich Putin keineswegs als Lehrling in Sachen Demokratie entpuppte, wie es um 2000 von vielen Politikern Europas euphorisch angenommen wurde. In dieser Begeisterung fürs Neue Russland war nicht mehr die absolute Freiheit das politische Kriterium gewesen, worüber man in den Schriften von Anna Politkowskaja. Putins Russland – hätte lesen können. (Am Geburtstag Putins wurde sie am 6. Oktober 2006 ermordet.)
Wichtiger ist, dass in den Erhebungen in den europäischen Gesellschaften stets die Sicherheit als politisches Ziel an vorderster Stelle genannt wird, doch bleibt man die Interpretation schuldig. Sicherheit scheint bis zum Krieg gegen die Ukraine nur Russland geboten zu haben, weshalb man in die selbst verschuldete Abhängigkeit geriet.
Hermann Broch bezeichnete dieses Phänomen Sicherheit als Stadium der Vor-Panik. Die Steigerung der Vor-Panik wird durch den Missbrauch der ureigensten Bestandteile demokratischer Freiheiten erzielt, wodurch der Demokratie auf Dauer Schaden zugefügt wird. Das Rechtsverhältnis zwischen Personen wird immer undurchsichtiger und in die Rechtssätze fließen die zersetzten gesellschaftlichen Verhaltensnormen ein, die das Zusammenleben unbestimmbar, auch willkürlich machen. Relativ leicht kann man das in Paranthese an der zunehmenden Lärmerzeugung durch Konserven-Musik ermessen, die ohne Rücksicht auf andere auf sich aufmerksam macht, sogar machen darf – der akustische Beginn des Terrors.
In der Tradition des Rechtsstaats ist die alte Gewaltenteilung eine der wesentlichen Bausteine der Demokratie. Die Bindung des Parlaments an die Verfassung, die nötige Trennung von Legislative und Exekutive sehen oft wie ein Hemmschuh aus, auf rasche Wandlungsprozesse nur verspätet politisch reagieren zu können. Es ist der Erfolg des Populismus in der Wiedervereinigung der getrennten Gewalten sich wie die Retter der Gemeinwesen aufzuführen, die Funktionen des Staates wieder in Gang zu setzen und somit wird die lähmende Schwerfälligkeit überwunden.
Damit hat der Beschwörungstanz des Populismus ein Regiekonzept an der Hand, dessen Attraktivität kaum zu überbieten ist. Und wie man es neuerdings bemerken kann, plärren die sozialen Medien in diese Richtung, eröffnen gegen die bereits sprachlosen Vertreter des Rechtsstaats ihren shit storm. Und so geschieht, dass gerade konservative Parteien, die über keine solide weltanschauliche Basis mehr verfügen, kapitulieren. Und die sozialdemokratischen Parteien, die einmal als Weltparteien für alle geographischen Lagen kompetent schienen, bemerken nicht, wie ihnen die Wähler abhandenkommen. Sie merken nicht, dass – wie in den Nashörnern von Eugène Ionescu – fast die Hälfte ihrer Gefolgschaft die Seiten zum Faschistischen wechselte – europaweit.
Nun ist jede Analyse so gut wie die daraus zu ziehende Konsequenz. Vermutlich wäre gerade noch die Kontrolle der sozialen Medien zu erreichen, vielleicht ist diese Praxis des Vulgären dank Kommunikationselektronik noch zu unterbinden, ohne individuelle Freiheitsrechte zu verletzen. Es ist höchste Zeit daran zu denken, jene Medien strafrechtlich zu verfolgen, die Falschmeldungen in die Welt setzen, die bewusst Panik schüren. Es muss klar sein, dass die Irreführung eine Verletzung der Menschenrechte bedeutet.
Eine andere Sache ist es, die anstehenden Desiderata europäischer Politik, die nicht einfach an die nationale Verfügungsgewalt zurückzuweisen sind, umgehend einzulösen – wie illusorisch dieses Ansinnen auch klingen mag. Und ferner ist in einer zeitgenössischen Sozialpolitik in Europa wieder jene Stabilität im politischen Bewusstsein zu wecken, die schon vorhanden war, als es galt, Europa neu zu bauen.
Natürlich wird es immer psychopathologische Eruptionen geben und deren Auftreten kann die normale Abnormalität des Menschen noch abnormaler machen. Doch sollte den Menschen erneut die Gnade widerfahren, wieder auf Grund einer absoluten und dauerhaften Moral zu handeln.
Der Turmbau zu Babel muss unvollendet bleiben….
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Den Satz „Es ist höchste Zeit daran zu denken, jene Medien strafrechtlich zu verfolgen, die Falschmeldungen in die Welt setzen, die bewusst Panik schüren. Es muss klar sein, dass die Irreführung eine Verletzung der Menschenrechte bedeutet.“ möchte ich unterstreichen. Es ist eine Anomalie, dass Soziale Medien mit ihrer Reihung der Beiträge und redaktionellen Auswahl des Angebots nicht den gleichen Regeln unterliegen, wie alle redaktionellen Medien!