Reinhold Knoll:
"Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse"
DER chinesische Roman
Für Stephan Eibel, der die Rezension mit Impertinenz einforderte…
Über zwei Monate war einer der ältesten Romane der Literaturgeschichte mein Begleiter. Mit Disziplin und Ausdauer waren die 1800 Seiten zu lesen. Es ist ein dickes, großes, schweres Buch, eng bedruckt.
Es ist die erste deutsche Gesamtübersetzung von der Vollständigen Überlieferung von den Ufern der Flüsse. Die Übersetzung liegt seit dem Frühjahr vor. Die Mitnahme des Buches auf kurze Wanderungen in der Umgebung der gegenwärtigen Kulturhauptstadt Europas, Bad Ischl, beeindruckte nicht viele, obwohl man in Ischl versucht hatte, das Salzkammergut ein wenig ans Chinesische zu gewöhnen – mit Ai Wei Wei.
Kennen aber jetzt die europäischen Kulturhauptstädter die Namen Lao Guanzhong und Shi Naian? Sie sind höchstwahrscheinlich die Autoren dieses mächtigen Romans. Vermutlich kennen sie schon nicht mehr die Namen Homer oder Vergil…
Die ersten hundert Seiten des Romans befremden. Da heißt ein Held Der Weisheit Tiefe, erschlägt aber beim Raufhandel den Metzger und entpuppt sich während der Flucht als daoistischer Mönch. In bunter Reihenfolge liest man von Mord und Totschlag und irgendwie gelingt es den Tätern, zu den Flachseen am Brückenberg zu fliehen.
Gleiches versuchen alle jene, die sich gegen korrupte Bürokratie und Hochmut im Amt empören, begehen Verbrechen aus Überdruss oder Wut gegen Bürokraten und bestechliche Beamte, und fliehen ebenfalls zum Brückenberg. Eigentlich kommt dort eine recht bunte Gesellschaft zusammen. Und alle sind überzeugt, ihre Missetaten mit einiger Berechtigung begangen zu haben.
In der Übersetzung von Rainald Simon ist man sehr schnell inmitten einer Erzählung, die in unserer Umgangssprache wiedergegeben wird. Da man im Hintergrund des Gedächtnisses noch über Erinnerungsfragmente ans Nibelungenlied verfügt, auch über die Übersetzungen des Lalebuchs vom Ende des 16. Jahrhunderts, besser bekannt als Schildbürger, ist man verwundert, dass der bei weitem ältere Roman von 1360 keine Alterungsspuren in den Sprachbildern und im Sprachgebrauch zeigt. Es wird das Verdienst des Übersetzers sein, der Eigenart altmodischer Sprache zu entgehen, die bis heute in den Literatursammlungen Verwendung findet.
Noch weiß der Leser nicht, was sich am Brückenberg abspielen wird, noch weiß eine Leserin nicht, weshalb sich so viele dem Zugriff der Behörden entzogen. Welche Pläne wird die Erzählung preis geben? Es werden 107 Helden sein, die zu Beginn jeder Leser als Straftäter verurteilen wird, darunter auch Ein Klafter Grün, die 108. Ritterin, die ebenbürtig Turniere gegen Männer bestreitet, wie einst auch Johanna von Orleans in Europa, sollten wir Friedrich Schiller weiterhin Glauben schenken. Wie die Ritter neben ihr sind sie alle gewalttätig und furchtlos, tapfer und empört über Gott und Welt. Manchen stehen sogar Zaubersprüche zur Verfügung, durch die über Kampfgebiete der Nebel hereinfällt, die Sonne sich verfinstert oder die Waffen selbst eine dämonische Wirkung haben. Es sind die Spurenelemente, die aus dem Daoismus erhalten geblieben sind und sich ins Geisterreich einer Naturreligion zurück entwickelten.
Man darf die Einführung von Rainald Simon ja nicht vorher lesen.
Wenn er im Nachwort schreibt, schon am Beginn des Romans zeige sich die Welt des Neokonfuzianismus, schon am Beginn werde durch einen Dummkopf das Böse aus dem Tempel auf die Menschen losgelassen, die Grausamkeit zeige sich von Beginn an in Kannibalismus, Kindesmord oder Mord, dann ist die geistige Quelle des Romans für den Leser profaniert und wird zur Darstellung von Raubrittern oder zum Abenteurerroman.
Wenn man das alles noch nicht weiß, glaubt man vorerst an eine frühe Ausgabe eines romantischen Ritterromans, auch wenn man inzwischen nachgelesen hat, dass der Roman die Zeit der Song Dynastie (960 – 1279) umfasst. Viel später bemerkt man die Verwandlung der 108 Heroen in Erd- und Astralgottheiten, obwohl sie im Unterschied zu den Göttern bei Homer in der Personalisierung und Vermenschlichung verbleiben, weiterhin einer Handlungsorientierung folgen, ja sich dieser verpflichtet sehen.
So ist der Brückenberg an den Flachseen jener Ort, den man nicht mit den Romanen von Walter Scott verwechseln darf, es gibt keine Parallele zu Ivanhoe, obwohl man beim Lesen sehr oft daran erinnert wird, wäre da nicht die Mystik der Natur, die wunderbaren Erscheinungen der Jahreszeiten.
Also versammeln sich Täter und zu Unrecht Verfolgte, weil sie die Alternative der Rechtschaffenheit, des Anstands, der Humanität sein und leben wollen. Sie erklären aller Welt den Krieg, weil die Welt fest im Griff der Bosheit, der Korruption, der Lüge und üblen Nachrede und Erpressung ist.
Unwillkürlich denkt man ans Frühmittelalter im Donauraum, wo es den Kuenringern nicht gelang, ihre angestammte Heimat zu behalten, ja von den Babenbergern in die Enge getrieben, nur noch von Raub und der gewaltsamen Aufbringung der Donauschiffe leben konnten.
So ähnlich muss es Song Jiang, dem Strom, ergangen sein. Einmal war er Kanzleischreiber, erlebte Unterschlagung und Bestechung, Amtsmissbrauch und Willkür, Korruption und Diskriminierung. Also beschloss er wie ein Robin Hood gewaltsam dagegen zu Felde zu ziehen. Nun ist sein Beiname Rufer für die Bewahrung von Recht und Billigkeit. So problematisch nun die Entscheidung von Song Jiang war, ähnlich einem Wild-West-Film gegen das Böse zu Felde zu ziehen, im Namen von Recht und Billigkeiten Straftaten zu begehen, die ein Naturrecht als außerirdische Legitimation benötigen, so hätte die politische Konstruktion der kaiserlichen Bürokratie pragmatisch und rechtschaffen bleiben müssen. Undenkbar wären die Vergehen im Amt gewesen. Die Briganten drehen also sittliche Normen um und erklären den Rechts- und Verwaltungsstaat des kaiserlichen China für einen üblen Schwindel, in dem man nicht einmal vor Mord zurückschreckt. Also mobilisiert man die kaiserliche Armee gegen die Banditen an den Flachseen.
Wenn es also halbwegs gelingt, die Vielgestalt der Erzählung zu begreifen, den Aufstieg von Song Jiang nicht mit der Karriere des Generals einer Militärjunta vergleicht, den Vergleich mit Mao tse tung weit von sich weist, sondern nach den zahlreichen militärischen Erfolgen der Brigantenarmee auch deren politisch-moralische Erfolge würdigt, ist man recht schnell mit den ungewöhnlichen Plänen von Song Jiang vertraut.
Verwundert verfolgt man den von Song Jiang erstrebten Austausch der Beamtenstäbe, wobei er mit Augenmaß vorgeht. In Kenntnis der Schwierigkeiten, als Beamter korrekt zu bleiben, werden untergeordnete Dienststellen bestätigt, deren Leiter entweder an Ort und Stelle enthauptet oder gar nach schwereren Verbrechen zerschnitten, also einer Tortur bis zum Eintritt des Todes unterzogen. Immer wieder beteuert Song Jiang, die Sache des Kaisers zu vertreten, während die kaiserliche Armee vor Beginn der Kampfhandlungen beschimpft und beleidigt wird, eigentlich für die falsche Sache ins Feld gezogen ist. Sie verdient daher die Niederlage.
Noch immer bewegt man sich entlang eines klaren Konzepts, meint man. Die vielen Seiten zeigen einerseits die Armee der Briganten als Hort der Tugend, in deren Dienst sich Menschen stellen, die im Grunde eine Doppelexistenz verkörpern. Sie gehörten der kaiserlichen Bürokratie an, waren vielleicht hochgestellte Offiziere in der kaiserlichen Armee, waren aber wegen diverser unliebsamer Vorfälle ausgeschieden. Man kann im Sinne des europäischen Mittelalters von einem Dienstadel sprechen, der sowohl Verwaltungsaufgaben erfüllte, als auch militärische Ausbildung leitete, zugleich aber der chinesischen Familientradition verhaftet bleibt. Mit der Strafverfolgung ist der Kontakt zur Familie erschwert oder gar unterbunden und sie ist die Ursache von Leid und Trauer.
Die Beobachtung des Verwaltungswesens stimmt mit den Analysen des Historikers Eric Hobsbawm überein, der in den Sozialrebellen des Mittelalters die Überzeugung beschreibt, dass sie nicht nur die Ordnung mit ihren Überfällen oder Gewalttaten wiederherstellen wollten, sondern diese Tätigkeit wäre nicht vonnöten gewesen, würde der jeweilige König oder Kaiser von den Zuständen wissen. So urteilt auch Song Jiang. Was auch später der Fall sein wird, ist mit der Erfüllung von Recht und Billigkeit zu erreichen, nämlich vom Kaiser endlich die Amnestie zu erwirken.
Song Jiang erreicht diese höchste Anerkennung und ab nun darf er für den Kaiser Recht und Ordnung durchsetzen.
Mit dieser Wunschliste erfahren die Leser von der am Papier perfekten Durchorganisation des Reiches und den Mängeln. Man erfährt von der hierarchischen Gliederung, die in den Formen der sprichwörtlichen Höflichkeit und im formalisierten Sprachgebrauch auch bestätigt und gefestigt wird. Ebenso muss auch die militärische Organisation gewaltige Ausmaße erreicht haben, da bei den Schlachten der Aufmarsch von hunderttausend Soldaten nichts Außergewöhnliches ist.
Etwas verwirrend ist die Bezeichnung der Anführer, sie alle sind sofort im Status eines Generals, also kämpfen Dutzende Generäle auf je einer Seite. Als Stoßtrupp zur Erkundung feindlichen Terrains sind stets etwa 5000 Soldaten im Einsatz, die wieder von einem General geleitet werden. Will man die militärische Hierarchie etwas plausibler darstellen, so wird wohl ein Spieß, die höchste Charge eines Unteroffiziers im europäischen Heer, die Leitung übernommen haben, aber in der Erzählung gelten sie alle großzügig als Generäle.
Das eröffnet gleich eine weitere Facette, die aus dem Roman nicht erklärt werden kann. Es muss wohl generell in den politisch-bürokratischen Zentren einen erstaunlichen Vorrat an Silber gegeben haben, teils als Münze, teils aber als Silberblech unbearbeitet. So heißt es im 37. Kapitel, dass Song Jian, obwohl verhaftet und während der Überstellung in die nächstgelegene Präfektur, doch so viel Silber bei sich führte, dass er dem Aufseher zehn liang Silber (gab), zusätzlich sandte er zehn liang Silber und Geschenke ins Verwaltungsbüro, auch den in der Verwaltung Beschäftigten, den Soldaten in Rufbereitschaft und anderen, allen sandte er etwas Silber…und der Aufseher in der Halle, der Bestechungsgeld erhalten hatte, sagte: …(es) müssen alle neu eingelieferten Männer einhundert Schläge mit dem todbringenden Prügel ertragen… Jedem wird zur Ausführung einer Aufgabe gleich entsprechend Silber mitgegeben, weshalb Straßenüberfälle keine Seltenheit waren.
Der häufige Griff in die Silberlade ist der Hinweis, dass nicht nur in jedem Haushalt reichlich Silber vorhanden war, sondern es diente vornehmlich der Bestechung gefügiger Exekutivorgane. So wird dieses Geheimnis gelüftet, dass generell Korruption in großem Stil betrieben werden konnte, solang Silber in der Lade ist. Es muss in den Präfekturen, in den Kreishauptstädten Unmengen an Silber gegeben haben, an dem man sich leicht vergreifen konnte. Und zur Verhinderung von Anzeigen höheren Ortes werden wohl Erpressungen an der Tagesordnung gewesen sein.
Wie im Nachsommer von Adalbert Stifter taucht dann in der Östlichen Hauptstadt ein allerhöchster Beamter und kaiserlicher Ratgeber auf, Cai Jing, also ein chinesischer Risach, der einen geheimnisvollen Zugang zum Kaiser hat, und in jener Manier zu regieren weiß, was später den Habsburgern nachgesagt wurde: divide et impera. Besagter Cai Jing scheint mit der Ausstattung von Macht durch Ruhe das politische Gleichgewicht gesichert zu haben.
Obwohl es offensichtlich rundherum brannte, fortwährend Arrogationen von Macht und Landerwerb durch Okkupation stattfanden, war er auch nach den eindrucksvollen Siegen von Song Jiang zu einer Reichsreform nicht zu bewegen, oder hätte nicht einmal Strukturveränderungen geplant. Daher war Cai Jing automatisch Gegenstand der Zuwendungen, von Brokat und Seide, Gold und Silber. Der Sachwert hätte jeder Schatzkammer Ehre gemacht, also erhielt jeder Transport einen Begleitschutz von 10.000 Soldaten. Der Sinn war, Cai Jing gnädig zu stimmen, denn er war das Bindeglied zwischen Bürokratie, Generalstab und Kaiser. Ein Draht dorthin war mit dem hohen Offizier Wu Yong, Stern der umfassenden Weisheit, gegeben, der sich offenbar für die Beratung von Son Jiang vom Hof beurlauben ließ.
Wie ein Sturzbach kommt das alles auf den Leser zu, der bald verzagt. In den Lesepausen kommt alles durcheinander und kaum meint man, eine Struktur zu erkennen, wird schon der nächste Kampf vorbereitet, die nächste Stadt belagert, einer der 108 Briganten aus dem Kerker der Gegner befreit. Es gibt keine Atempause, denn schon behauptet ein selbst ernannter Potentat Land und Herrschaft für sich. Alle scheinen sie die Stabilität des Reiches der Mitte in Frage zu stellen, quälen die Bauern und beuten die Städte aus.
Unermüdlich sind Song Jiang und Wu Yong zur Stelle. Sie ziehen nach reiflicher Beratung mehr als hunderttausend Soldaten zusammen, organisieren die Verstärkung und denken auch an Flankenschutz durch Kavallerie. Das geht von Feldzug zu Feldzug wie es uns gerade noch vom Prinzen Eugen von Savoyen erzählt wird.
Die Vorbereitungen zur Schlacht, die Wahl der Strategie füllt zahllose Seiten des Romans. Die Zuteilung der Generäle zu Truppenteilen, die Ausstattung der Abteilungen mit Fahnen, Kleidung und Bewaffnung, die Beiziehung der Flussflottille, die Bereitstellung zehntausender Pferde für die Kavallerie wird mehrfach immer wieder präzise geschildert. Bis zu den letzten Kämpfen bleibt die Gruppe um Song Jiang erfolgreich. Er steigt zur wichtigen Stütze des Kaisers auf und in dieser Betrachtung ist das Strickmuster des Romans einfach. Seit den Siegen des preußischen Königs im 18. Jahrhundert sind diese Erfolgsgeschichten immer wieder geschrieben und wiederholt worden – und so wird es auch in China gewesen sein.
Nun ist der Beginn jeder Schlacht strikt ritualisiert. Ein General löst sich aus der Schlachtordnung, beschimpft unflätig seinen Gegner und bietet schließlich Freiheit und Überleben an, so sich die Gegenseite ergibt. Keiner der beiden Kämpfer denkt daran zu kapitulieren. Es kommt zu langen und erbittert geführten Zweikämpfen. Mehrmals stürmen in diesem Turnier die Gegner aufeinander los, sei es mit Lanze oder Schwert, mit Morgenstern oder geschickt geschleuderten Messern. Sollte der Kampf in eine kritische Phase geraten, eilen die Standesgenossen zu Pferd herbei, wobei auch wundersame Waffen zum Einsatz kommen, oder besondere Talente den Sieg versprechen.
Li Kui, eigentlich ein schrecklicher Raufbold, lässt stets seine Schwerter tanzen, ein anderer vermag mit einem speziellen Stein den Kopf des Gegners zielsicher zu treffen oder Hu Sanjang, ein Klafter Grün, stürzt sich mit Mut Selbstaufopferung in die Schlacht, wie es vielleicht in der Antike Amazonen taten. Kaum kommt der Gegner zu Fall, stürzen sich die Soldaten auf ihn und bereiten dem Unterlegenen die gleiche blamierende Niederlage wie die Bauern dem Ritterheer in der Schlacht von Morgarten 1315.
Jedenfalls entscheidet der Sieg im Zweikampf über den Verlauf der anschließenden Schlacht, die eher in ein Schlachten und Morden übergeht, in eine gnadenlose Verfolgung und Tötung der Gegner. Trommeln, Posaunen, geschwenkte Fahnen sind die Signale für die Truppenbewegungen. Freilich vermisst man bei diesen Kämpfen auf Biegen und Brechen die Klugheit jener Ratschläge, die die Strategie des Sunzi – um 544 v. Chr. – auszeichnen. Nur zwei Mal rät Wu Yong zur Vorsicht, als hätte er gerade Sunzi in Händen gehabt, will die Vorteile des Geländes nutzen oder lässt die Art der Befestigung der Stadt erkunden. Ein andermal wählt er eine Schlachtreihe aus den 36 Strategemen von Tan Daoji – 436 v. Chr., jedenfalls verspottet ein General seinen Gegner vorm Zweikampf, die Anordnung der Schlachtreihen nicht durchschaut zu haben.
Diese Schematisierung des Kampfes ist ein wesentliches Motiv für das gesamte Werk und scheint vordergründig die Erzählung zu dominieren.
Diese letzte Bemerkung scheint die Bedeutung des Romans zu mindern. Wie die Ilias mehr mitteilt als das Ende Trojas, wie sie mehr berichtet als über den Zweikampf von Hector und Achilles, immerhin belehrt sie auch, dass diese Belagerung über das weitere Schicksal Griechenlands und Kleinasiens entschied, so hat auch an den Ufern der Flüsse mehr stattgefunden als ein Kampf gegen Willkür und Korruption. Dieser Kampf endete ja im Grunde enttäuschend. Einflüsterer des Kaisers sorgten dafür, dass Song Jiang und die überlebenden Mitstreiter durch das Geschenk des kaiserlichen Bräus vergiftet werden. Die Angst ums Versiegen dieser Einnahmequellen war das Motiv, eine sorgfältige Verwaltung nachhaltig zu verhindern. Neu ist, dass der Kaiser von Träumen geplagt wird, seine persönliche Chance korrekter Regierungszeit verspielt zu haben.
Doch die Vorwegnahme des Endes der Geschichte lässt so viele anregende Details unbeachtet, die aber erst die Größe und Bedeutung des Romans nachweisen. Wie zur Ablenkung vom Kampfgeschehen werden die gegenseitigen Einladungen beschrieben, mit welchen Höflichkeitsformen sie eingeleitet werden und dass bis spät in die Nacht Schalen von Bräu getrunken werden müssen.
Wie in Thomas Bernhards satirischem Schauspiel Die Berühmten, in dem Gänse und Wein bis zur Übersättigung in einer ehemaligen Mühle aufgetischt werden, die die Musik-Elite der Salzburger Festspiele vereint, so auch die Festessen der Höheren Beamten, oder das gelungene Mahl in einem einfachen Wirtshaus am Land oder mitten im Wald. Offenbar gibt es immer einen Anlass, ausgiebig zu essen und zu trinken. Und es ist eine besondere Auszeichnung, wenn Boten kaiserliches Bräu dem erfolgreichen Strategen nach einem Sieg zustellen.
Fast kommt man zu der Einschätzung, dass diese halb-feudale chinesische Elite, und nur von dieser ist im Roman hauptsächlich die Rede, aus Spiegel-Trinkern besteht, denn immer und überall ist Bräu vorhanden, wird entweder schnell frisch zubereitet oder erwärmt. Dieses bai jiu ist eine Art Bier, ist die Grundlage für eine fast schon verpflichtend dargestellte exzessive Trinkgewohnheit, aus der man auf einen Männlichkeitskult schließen kann, der in einer mittelalterlichen Ständegesellschaft das soziale Leben und die gesellschaftlichen Regeln bestimmte.
Das Wirtshaus ist jedenfalls das Zentrum des sozialen Lebens, immer geöffnet, immer in der Lage, größten Durst oder Hunger zu stillen. Im Wirtshaus werden die unteren Schichten sichtbar. Und so sie nicht bedrängt werden, nicht belogen, betrogen oder ausgebeutet werden, sind diese Leute redliche Handwerker, Bauern und Händler. Aus diesen Familien müssen wohl die zahllosen Soldaten stammen, die wie die Bauern im Schachspiel hin und her bewegt werden, da und dort sein sollen, deren Schicksal aber unverblümt erwähnt wird: sie sterben zu Tausenden im Krieg, sie sterben zu Tausenden an Seuchen oder Verletzungen, an den Folgen waghalsiger wie rücksichtsloser Unternehmungen. Wenn die Eroberung einer Stadt gelingt, säumen hunderte tote Torwächter die erfolgreiche Erstürmung der Stadtmauer und hatten noch das bessere Ende für sich. Die Grausamkeit folgt auf dem Fuß.
Der Roman schildert eine Ständegesellschaft, deren wichtigster Stand die wohlhabenden Bürger sind, Patrizier, kleinadelige Dienstnehmer, Gutsbesitzer, die im Wandel der Zeit unter die Räder kommen. Sie bleiben zwar von den ökonomischen Krisen halbwegs verschont, jedoch die Erosion politischer Moral im Wandel zum autoritären Staat, macht gerade diese bürgerlich-patrizische Elite zur Zielscheibe der Willkür und der Erpressung. Was Song Jiang zur Rechtschaffenheit motiviert, ist das unerträgliche System von Komplicenschaft und Nötigung. In dieser Mühle geht Stück für Stück die hohe Tradition Chinas verloren. In den vielen Kapiteln personifizieren die beiden Autoren diesen Wandel oder identifizieren mit handelnden Personen den jeweiligen Zustand einer Präfektur, einer Kleinstadt, eines Dorfes.
Inmitten dieses traumatisierenden gesellschaftlichen Wandels schlägt das Leben durch. Noch in der Zeit, in der Song Jiang der Gejagte war, der Häftling und einige Male knapp dem Tod entkommen, fehlt es nicht an Passagen ununterbrochenen Trinkens, worauf schon hingewiesen wurde. Im Mittelpunkt ist das Besäufnis wie in Artus Tafelrunde in der Schilderung von Wace um 1150.
Es reicht aber dieses Leben im Wirtshaus trotz des entspannenden Trinkens nicht aus, um sich mit dem Niedergang abzufinden. Es gibt eben im Roman 108 Beispiele, weshalb man das Räuberleben auf sich nimmt. Es sind die vergleichbaren Motive, die aus Friedrich Schillers Räuber geläufig sind, aus seiner Erzählung über den Verbrecher aus verlorener Ehre oder Kabale und Liebe. Man muss deviant werden, lehrt der alte Roman, will man das eigene Leben nicht erniedrigt und zerstört wissen.
Und die Vermeidung dieser existentiellen Katastrophe erzwingt eine grausame Konsequenz, nach deren Bewältigung nur mehr der Weg zum Brückenberg an den Flachseen möglich ist. Wu Song ist der unglückliche Rächer seines Bruders, den die Schwägerin vergiftet hatte, um mit dem Liebhaber das Leben fortzusetzen. Wu Song ermordet seine Schwägerin, den Liebhaber, die Kupplerin. Nach weiteren Tötungsdelikten kommt er in der Verkleidung eines Mönchs zum Brückenberg und tritt der Bewegung von Song Jiang bei.
Das deutet auf den neokonfuzianischen Hintergrund, wie Simon interpretiert. Im Roman sind die Handlungsdispositive nicht eindeutig dem Daoismus oder Buddhismus zuzuordnen, es überwiegt der von den Kriegen bestimmte Alltag. Lu Da, der Weisheit Tiefe, ist das im Roman mehrfach zitierte Beispiel, mit seiner Mönchsstange eine Kampfart anzuwenden, die durchgängig erfolgreich ist, also der Vorstellung eines Mönchs gar nicht zu entsprechen beabsichtigt, aber dann doch sich im Kloster integrieren will, was ihm bei aller aufrichtigen Anstrengung misslingt.
Es ist sein Abt, der für diesen schwer zu integrierenden Mitbruder Verständnis aufbringt und die andere Lebensform hinnimmt. Hier äußert sich das Merkmal des Buddhismus, eine kaum zu begrenzende Akzeptanz zu besitzen, ein grundsätzliches Verständnis für die Vielfalt der Menschen. Dem Daoismus ist hingegen die Wahrnehmung der Natur verpflichtet, wobei die Natur die Oberfläche einer Zauberwelt ist.
In den Passagen der Naturbeschreibung liegt vermutlich auch die Einzigartigkeit dieses gewaltigen Werks. Gemäß der Jahreszeiten wird die Einheit chinesischer Malerei und Naturbeschreibung mehrfach deutlich. Und im Roman wird diese Besonderheit auch dadurch hervorgehoben, dass in den lyrisch verfassten Erklärungen von Naturerscheinung, Kampfbereitschaft, oder Streit, Liebe und Tugend recht überraschend die Tonart der Erzählung unterbrochen wird und einer impressionistischen Dichtung der Vorzug gegeben wird. In der Lyrik wird das möglich, was selbst größte Siege nicht erreichten. Für den Roman ist es wahrscheinlich ein Abschluss, der die Zeit bis in unsere Tage als unglaublich töricht erscheinen lässt.
Die Erdsterne, das Scheffelgestirn sind schon nicht mehr,
Von verleumderischen Untertanen und Banditen ist der Hof doch nicht leer!
Hätte er früher gewusst, Gift lauert in Krügen, gelb eingeschlagenen,
Folgte er dem Chiyi Fan Li mit dem Schiff Angeratenen.
Als letzte von 1600 Fußnoten bringt sie die reale Geschichte Chinas unaufdringlich zur Kenntnis. In der unübersichtlichen Menge der Menschen gab es Fan Li, Beamter in der Zeit der Streitenden Reiche 480 bis 221 v. Chr., nannte sich plötzlich Chiyi Zipi und lebte fortan auf einem Boot und fuhr über Flüsse und Seen. Wahrscheinlich war er die Alternative zu Song Jiang.
Shui hu quan zhuan. Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse. Von Shi Naian und Lao Guanzhong (zugeschrieben), übersetzt von Rainald Simon, 1879 Seiten, Insel Verlag, Deutsche Erstausgabe Berlin 2024
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