Reinhold Knoll
Gegen die Anarchie des Libertinismus
Die US-Wahlen aus Sicht des Soziologen
Das Wahlergebnis in den USA ist keineswegs einzigartig oder überraschend. Selbst wenn man der Wahl den Anschein der Einmaligkeit geben will, sollte man wissen, dass die virtuelle Welt der Medien eine herbe Niederlage erlitten hat. Gesiegt hat die politische Wirklichkeit, so schwer es auch fällt, mit dieser künftig leben zu müssen.
Hat man wenig Verständnis für den Wahlsieg von Trump, verheddert man sich rasch in die woke Sprache der Medien und verliert die Mündigkeit einer eigenständigen Beurteilung der Lage. Zwar ist seit geraumer Zeit eine Sattelzeit der Demokratie, diesmal von der Moderne in die Spätmoderne, im Sinne von Reinhart Koselleck zu bemerken, aber die Präsidentschaftskandidatin hatte nur sich selbst zu bieten und repräsentierte die USA von vorgestern. Den darin enthaltenen Libertinismus hat vor Jahren bereits Philipp Roth im politischen US-Kulturmodell Monica Lewinsky / Bill Clinton beschrieben.
Auf der Gegenseite ist Gepolter zu hören. Der Wahlsieger wird ein skurriler Herr im Weißen Haus sein. Er wird die neue Haus- und Weltordnung zu bestimmen versuchen. Seine politische Kostümierung wird er alten Kleiderschränken entnehmen. In ihnen befinden sich jene Klamotten, in denen Putin oder Xi eine gute Figur machen, jedenfalls eine bessere als die Repräsentanten des demokratischen Westens.
Weitere politische Transformationen werden die Gesellschaften des Westens in eine noch größere Spannung und Spaltung treiben. Die autoritären Staatsführungen in China oder Russland kennen vergleichbare Belastungen nicht.
Kamala Harris verlor nicht nur aus Gründen, vornehmlich eine generell kleinere Bildungsschicht angesprochen zu haben, sondern sie konnte den Gegensatz der Moderne – Freiheit, die keinen Grund hat, sonst wäre sie nicht Freiheit, und Leben, das in stetiger Gefährdung alltäglich gelebt werden muss – nicht überbrücken.
Die Philosophin Agnes Heller war die erste, die diesen Gegensatz formuliert hat. Im Wahlkampf präsentierte Harris das Thema der Abtreibung, womit sie generell die Frauen anzusprechen beabsichtigte. Zu ihrer Enttäuschung war das aber ein Problem, das ethisch seit vierzig Jahren gelöst ist. Inzwischen wird Freiheit längst viel radikaler als selbstbestimmter Umgang mit dem eigenen Leben verstanden.
Die gegenwärtig entpolitisierte und vornehmlich nur individuell verstandene Freiheit erweist sich zugleich jedoch immer öfter als eine geradezu gesundheitsschädigende Negation des Lebens. Der Libertinismus hat uns von den Zwängen des Alltags nicht wirklich befreit.
Immer begleitet Libertät und Emanzipation, was Sigmund Freud 1930 als ein ozeanisches Lebensgefühl bezeichnet hat und den Menschen zu grenzenlosem Narzissmus verführt, auch ein kulturelles Unbehagen der Ambivalenz. Zur Beruhigung desselben ist ein sozioökonomisch immer kostspieligerer Aufwand zur Bewältigung des Lebens nötig, worauf Trump gesetzt hat.
Da konnte er punkten. Er nutzte die biopolitischen Dispositionen des amerikanischen Alltagslebens in seinen drastischen Reden, die nie genötigt waren, sich der Wahrheit zu stellen. Das ersparten ihm die Medien des Elon Musk, die sich natürlich zugleich fortschrittlich-liberal und demokratisch geben.
In der republikanischen Welt schien wieder ein traditionelles Leben möglich, auch wenn es mit der Fiktion einer permanent gefährdeten Glasmenagerie zu führen ist – seit Tennessee Williams nach 1944. Also musste Trump gewinnen, denn er setzte seine vulgäre Sprache für ein Allgemeinverständnis ein, mit der er die gegenstrebigen Fügungen im Alltag vergessen ließ. In seinen Reden schien jegliches nackte und beschädigte Leben verdrängt. Um dies zu erreichen, bedurfte es großsprecherischer Träume.
Solche Konstellationen zählen schon längst zum Kernbereich der Politik. Deshalb sind beide Kandidaten trotz ihrer Unterschiede Exponenten auslaufender Modelle der Moderne in der längst eingetretenen Spätmoderne. Das war den Kommentaren anzumerken: Denn vor und zu den Wahlen dominierte stets die Präferenz für das kleinere Übel, vor allem wegen der weiteren Entwicklung der Welt, Europas, der Weltwirtschaft oder des deutschen Exports.
Nach diesem Gesichtspunkt muss man die Formel von Karl Löwith in Erinnerung rufen, der von der Politisierung des Lebens geschrieben hat. Er konnte beobachten, wie vor 1939 Volksbewegungen begonnen hatten, einen starken Staat zu wünschen. Er war vom Nationalsozialismus nicht überrascht worden. Löwith hatte gesehen, dass Demokratie und Formen des Totalitarismus wesentliche Berührungspunkte haben. Vor allem zeigen Gesellschaften die Tendenz, zum Staat zu werden. Wir haben auf diese neuralgischen Punkte glatt vergessen.
Die Politikwissenschaften haben uns hier hinters Licht geführt, weil sie lehrten, dass am Ende jeden Tages automatisch eine parteienstaatliche Demokratie eintritt. Wir haben unsere Wahl- und Wählerstromanalysen perfektioniert und unser politisches Interesse kapriziert sich nur mehr auf statistische Prognosen.
Außerordentlich klar hat lange vorher Karl Löwith seine Analyse verfasst, die uns jetzt doppelt trifft: Diese Neutralisierung der politisch maßgebenden Unterschiede und das Hinausschieben ihrer Entscheidung hat sich seit der Emanzipation des dritten Standes und der Ausbildung der bürgerlichen Demokratie und ihrer Weiterbildung zur industriellen Massendemokratie bis zu dem entscheidenden Punkt entwickelt, wo sie nun in ihr Gegenteil umschlägt – in eine totale Politisierung aller, auch der scheinbar neutralsten Lebensgebiete. So entstand im marxistischen Russland ein Arbeiterstaat, der mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat der absoluten Fürsten, im faschistischen Italien ein korporativer Staat, der außer der nationalen Arbeit auch den Dopolavoro (die faschistische Organisation für Freizeit und Erholung 1925) und das gesamte geistige Leben normiert, und im nationalsozialistischen Deutschland ein völlig durchorganisierter Staat, der auch noch das bisher privat gebliebene Leben durch Rassengesetze und dgl. politisiert.
In dieser politischen Parallelverschiebung erleben wir die Neuauflage des selten bemerkten Verschwindens der Demokratie. Wie innert Stunden kommunistische Staaten nach der Wende Demokratien wurden, ohne uns über diesen Gesinnungswandel zu wundern, so erleben wir jetzt den Backlash, der uns ebenfalls nicht verwundert. Mit Trump meinen die meisten im Westen, dass nur autoritäre politische Strukturen den ökonomischen und nationalen Ist-Stand sichern werden und erwarten sich in Zukunft eine solche Politik.
Aber es sind nicht allein die USA, die fast ahnungslos in den politischen Transformationsprozess geraten. Trump hat ja den wahren Gegner seiner Vorstellung von Demokratie präzise genannt. Und das ist nicht die Diktatur, wie die Politologen seit Jahrzehnten gedankenlos plappern, sondern die Anarchie.
Da ihm das Meiste anarchisch vorkommt, wird er nicht ruhen und rasten, diesen inneren Feind zu jagen. Und das hat die Mehrheit gut verstanden.
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