Reinhold Knoll
Sind wir noch Europäer?
Essay
Europa war über Jahrhunderte von der geistigen Gemeinsamkeit mit den antiken Quellen geprägt. Heute haben nur mehr Altphilologen und Althistoriker als Spezialisten den Zugang zur alten Welt. Sie können noch Homer, Vergil und Sophokles lesen.
Wir verdanken unseren Lehrern ab 1965, die alten Wissensstoffe über Bord geworfen zu haben – zu Gunsten von Informatik und Bedienung von Rechenmaschinen. (1965 war die 500-Jahr-Feier der Universität Wien – begleitet vom Slogan: Unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren)
Wir bemerkten nicht unsere geistige Verarmung – jetzt seit gut 60 Jahren. Hin und wieder fällt uns beim TV-Quiz auf, was Kandidaten nicht mehr wissen. Das ist nicht der schlimmste Verlust. Durch die Kenntnis der Antike, aus deren Geist zuletzt der Historismus entstand, sahen sich die Europäer immer in einer kulturellen Nachfolge, als Erben von Rom, Athen und Jerusalem.
Dieser Verlust ist nicht das Schlimmste. Am schlimmsten ist der Verlust der Bindung an eine ästhetische und antike Klassik bei gleichzeitig ausgeübter Barbarei. In dieser Spannung zwischen humanitas – hier als lateinischer Begriff der Bildung und Erziehung – und Grausamkeit hat Europa die wichtigsten Anregungen erfahren. Diese Bipolarität war der Motor der europäischen Geschichte.
Das vor allem griechische Erbe ergriff die arabische Welt, reichte in Form des Hellenismus bis nach Indien, daher ist Europa nicht allein erbberechtigt.
Schwieriger ist es im Fall der Barbarei. Die Europäer haben unter dem Druck der Humanismen ihre Barbarei verinnerlicht. Sie können so grausam sein wie bei Urbevölkerungen üblich – aber im Schatten gotischer Kathedralen. Die Verinnerlichung der Barbarei, die im 30-jährigen Krieg zu einem namenlosen Exzess geführt hat, konnte nur besänftigt werden durch den Export der Barbarei in den Imperialismus und Kolonialismus. Heute sollten wir uns die Frage stellen, ob unser Wunsch nach einer Festung Europa nicht eine Kompensation dieser Barbareien ist?
Inzwischen ist es die gemeinsame Überzeugung der EU-Innenminister, sei es auf der Zugspitze, sei es in Brüssel, Europa als Innenwelt zu definieren. Was draußen ist, gehört nicht zu uns. Es ist dies das Ergebnis dummdreister Nationalismen, gleichzeitig ein Dokument der Hilflosigkeit. Europa sieht sich selbst bedroht und Invasionsphantasmen werden kolportiert. Den ersten Roman darüber schrieb Jean Raspail, in dem eine Invasion von einer Million Inder bevorsteht: Das Heerlager der Heiligen von 1973.
Diese Urangst der Europäer hat wohl die Überzeugung eingebüßt, dass Europa vor allem jenen etwas zu bieten hat, die sich weit außerhalb unserer Grenzen und Kultur befinden. Wie in einem Prosastück Peter Handkes wollen wir in dem circulus vitiosus bleiben, nämlich unsere Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt gleichzusetzen.
Wenn sich Europa in der speziellen Engführung der Europäischen Gemeinschaft so sieht, so glauben wir nicht mehr daran, der Welt noch etwas bieten zu können. Wladimir Putin lehrte uns seine Verachtung im Konfirmationsanzug von 2000, so wie Donald Trump die Schulden Europas bei den USA einkassieren möchte. Neu in Europa ist, dass wir uns erstmals in der Geschichte unterlegen fühlen. Mag der Babenberger-Herzog Leopold ein Hochstapler in unzugänglichen Donau-Wäldern gewesen sein, aber er sah sich berechtigt, der Schwiegersohn eines byzantinischen Kaisers zu sein. Karl der Große war im Vergleich zu den römischen Soldatenkaisern ein Nichts, aber die Sprache der Aachener Pfalzkapelle ist alles andere als kleingläubig und unterwürfig.
Am Anfang schien Europa als EU sich zwar als Besonderheit wahrzunehmen, diese beschränkte sich mehr und mehr auf die gemeinsame Währung, denn wir meinen, heute für die Welt eine geringe Bedeutung zu haben. So begann die Litanei der europäischen Selbstaufgabe. Plötzlich sind wir überzeugt, dass Freiheit oder Rechtsstaatlichkeit vom kulturpolitischen Kontext abhängt. Plötzlich sind die alten politischen Forderungen aus Europa dem Gesichtspunkt der Ethnologie unterzuordnen. Die personale Integrität soll vom soziopolitischen Hintergrund der jeweiligen Landesgeschichte abhängig sein, weshalb wir die Menschenrechtsverletzungen in China oder Kenya nicht mehr bemängeln. Für die Europäer ist Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zur Mode geworden, wie das Tragen von Dirndl und Steirerhut.
Nun müssen wir uns eingestehen, dass die Menschheit im Zeitalter der Technik oder in der Epoche des Anthropozän zwar an Selbstherrlichkeit zugenommen hat, doch dort sind keine Europäer zu finden, hingegen Chinesen und Inder, Amerikaner, Perser und Argentinier, aber noch immer leben wir in der Hoffnung, dass sich die Welt zu uns bekehren wird, zum European way of life.
Gerade während des Höhenflugs der Europäischen Union, also vor gut dreißig Jahren, beschlich uns das beunruhigende Gefühl, den Sinn europäischer Geschichte neuerlich zu verfehlen, obwohl uns zwei Weltkriege eine deutliche Warnung waren. Uns beschlich das Gefühl der Minderwertigkeit – ausgeübt in den Begeisterungen für USA oder Sowjetunion, und so bewog uns dieses weiterhin bohrende Gefühl, Europäer zu sein, zur Suche nach unseren Ursprüngen.
Auf den Banknoten sehen wir diese nostalgisch anmutenden Bauwerke, bald eine Brücke, immer Renaissance-Portale, bald ein gotisches Fenster, aber alle ohne Quellennachweis, Luftschlösser mit einem Wort, Dokumente der Nostalgie. Als müsse diese Nostalgie das verlorene Selbstwertgefühl der Europäer ersetzen, dringen Reisewellen in die Innenstädte der Hauptstädte ein, sinnlose Wanderungsbewegungen aus Jux und Tollerei zum Zweck der endgültigen Zerstörung des individuellen Selbstbewusstseins, nämlich keinen Anteil an diesen Zeugnissen mehr zu haben.
Wir kennen zwar diese Metapher, auf Schultern der Riesen zu stehen. Wir kennen die konsequente Einsicht, gemessen an den Vorfahren Zwerge geworden zu sein. Also marschieren Zwerge durch die Innenstädte und bewundern Bauwerke, die nicht mehr zu ihrer Geschichte gehören.
Erstmals beschrieb Bernhard von Chartres 1125, dass für ihn Aristoteles der Riese ist. Oft wird diese Metaphorik zitiert und schließlich sieht sich selbst Isaac Newton auf den Schultern von Riesen. Jonathan Swift nimmt uns auf die erste Fernreise des Gulliver mit und führt uns bis Liliput. Denn in der Selbsteinschätzung ist der Europäer kein Zwerg mehr, wegen der technischen Errungenschaften ist er dominant und ignorant zugleich.
Die Selbsterniedrigung des Europäers zum Mitläufer von Reisegesellschaften korrespondiert mit der Vorstellung, die europäische Geschichte als Verfall der ursprünglichen Wahrheit anzusehen. Da man vom Verfall anderer Kulturen wenig weiß – Afrika, Mittel- und Südamerika, islamische Welt des frühen Mittelalters – konzentrieren sich die Europäer auf den Triumph der Moderne, die zweifellos in Europa begann.
Den Optimismus steigert die Idee des Fortschritts im 18. Jahrhundert und vermittelte uns vor 150 Jahren den unerschütterlichen Glauben, in einer immer besseren Welt leben zu können. Und so ging Jahr um Jahr das Wissen um das Erbe verloren. Goethe hatte davon noch Kenntnis: Uns auf der Höhe der barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu erhalten, das ist unsere Pflicht.
Und ausnahmsweise soll in diesem Zusammenhang an Friedrich Nietzsche erinnert werden. Er hat als erster die komplexe Bewusstseinslage des Europäers analysiert, nämlich generell seine geistige Heimat verloren zu haben. Also sind seine Sätze die Präambel zur gegenwärtigen Verfassung der europäischen Staaten:
Die deutsche Philosophie als Ganzes ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen, – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überall hin, in alle Heimaten und „Vaterländer“, die es für Griechen-Seelen gegeben hat.
Und Leo Strauss erinnerte sich noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts, was wir hier in Europa verloren: One must be swayed by a sincere longing for the past… (Man muss sich von einer aufrichtigen Sehnsucht nach der Vergangenheit leiten lassen…)
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