Reinhold Knoll
Kann es Österreich ohne Sozialdemokratie geben?
Essay
Die österreichische Sozialdemokratie zählt zum festen Bestand der Geschichte Österreichs seit über 150 Jahren. Diese stetige Entwicklung hat Ludwig Brügel in der Geschichte der Sozialgesetzgebung nach 1848 in ihrem politischen Pragmatismus 1919 dargestellt (Brügel verstarb in Theresienstadt 1942), während im sozialphilosophischen Bereich mit Karl Kautsky ein spezifisches Programm entworfen wurde, das einerseits die österreichischen Sozialisten zur resoluten Analyse von Kapitalismus bewog, aber vom Gedanken der Weltrevolution entschieden abrückte.
Sehr früh war die eigenständige politische Überzeugung auf einer modernen philosophischen Grundlage errichtet worden, die sich zwischen dem Empiriokritizismus im Sinne von Ernst Mach und dem Neo-Kantianismus in der Erkenntnistheorie positionierte.
Die eine Seite forcierte im Wiener Kreis der Philosophie einen Positivismus, den Otto Neurath nahezu physikalistisch formuliert sehen wollte. Die andere Seite, die in Deutschland zum Bernstein-Revisionismus führte, entwarf eine philosophische Grundlegung der politischen Theorie. Hier hat Max Adler die Marburger Schule der Erkenntnistheorie erweitert. Er übersetzte sein Denken in alle Anwendungsbereiche nach Kriterien des Sozialismus.
Die Exponenten dieser Richtung waren in der Politik Otto Bauer und Karl Renner, in den Wissenschaften die frühe Sozialpsychologie, die Alfred Adler parallel zur psychoanalytischen Schule verfocht. Auf dieser Grundlage war die österreichische Sozialdemokratie zur beeindruckenden Kulturbewegung geworden, von der das Stichwort vom Roten Wien erhalten blieb.
Gegen diese Eigenständigkeit polemisierte Lenin mehrfach. Denn es war ihm die österreichische Version nicht nur vor dem Hintergrund des Empiriokritizismus ein Dorn im Auge, sondern vor allem irritierte ihn die Forderung, die führende politische Kraft nur in Verbindung mit einem strikten Bekenntnis zur Demokratie zu werden. Damit wurde die Weltrevolution gegenstandslos. Der bolschewikische Masterplan, im Kommunismus die Welt zu beherrschen, zog sich immer mehr auf das Territorium der Sowjetunion zurück, in der Stalin diktierte.
Die Zeit zwischen Erster Republik, Bürgerkrieg und Nationalsozialismus war zum erheblichen Teil von Sozialdemokraten bestimmt. Gleichzeitig geriet die junge Republik in diverse Spannungsfelder, die sie nicht zu bewältigen vermochte. Da war die übermächtige Geschichte der Donaumonarchie noch präsent. Die alternative Interpretation des Vielvölkerstaates war von den Sozialdemokraten nach den Vorlagen von Karl Menger und Aurel Popovici debattiert worden. Deshalb war auch Stalin 1913 nach Wien gekommen, um diese Art der Nationalitätenpolitik kennenzulernen. Die Debatten wurden freilich zu spät geführt und konnten politisch nicht mehr rezipiert werden, obwohl Viktor Adler sich stets für die Gleichheit und Ebenbürtigkeit der sozialdemokratischen Parteien in den vormaligen Königreichen und Ländern ab dem Hainfelder Parteitag 1888/89 eingesetzt hatte.
Nebenbei war es bemerkenswert, dass es bei den Rücktrittsverhandlungen mit dem schwachen Kaiser nicht Viktor Adler war, der diesen letzten Akt erzwang, sondern Friedrich Funder hatte als Chefredakteur der Reichspost Ignaz Seipel als Mitglied des Verhandlungsteams gebeten, in einer Folge von drei oder vier Leitartikeln den Neubau eines österreichischen Staates vorzustellen. Das war das Signal für die Resignation des Kaisers, der sich vorerst nach Eckartsau in eine Abwarteposition begeben hatte.
Die Haltung der Sozialdemokraten war im ersten Moment unentschieden, was auch die Stimmung in der Bevölkerung wiedergab: sollte es einen Anschluss an Deutschland geben? Die skandalösen Verhandlungen beim Pariser Vorortefrieden bereiteten jedoch jeder Option eines Anschlusses ein Ende.
In weiterer Folge war der Leidensweg der österreichischen Sozialdemokratie absehbar und im Bürgerkrieg 1934 noch nicht zu Ende. Österreich, ob Republik oder Ständestaat, war zu einem Spielball der Interessen in Europa geworden. Die drei Pfeile im Wappen der Partei erinnern noch heute daran. Die Pfeile waren gegen Kapitalismus, Faschismus und Bolschewismus gerichtet.
Dennoch hat diese Partei eine Kraft bewahrt, um 1945 mit Karl Renner wieder einen Staat zu kreieren. Diese Kreation erhielt sogar die Billigung Stalins, der Renner aus früheren Tagen kannte. Am Telephon soll der Diktator gemäß seiner Art verwundert gesagt haben: Was, dieses Schwein lebt noch?
Zum Glück lebten noch mehr, was der Sowjetunion wenig Freude bereitete: Theodor Körner oder Karl Seitz, Adolf Schärf oder Julius Deutsch. Zum Aufbau der Zweiten Republik hatten die Sozialdemokraten mehr als nur ein Ruhmesblatt beizutragen, vor allem errichteten sie in der Koalition mit den Konservativen ein kleines, aber starkes Land, einen sozialen und modernen Staat.
Ende der Nachkriegskoalition
Diese Koalition, die immer öfter als politischer Zwang bezeichnet wurde, endete 1966 mit dem Wahlsieg von Josef Klaus. Es war überhaupt zu einer konservativen Welle in Europa gekommen, und allzu gern orientierte man sich an der neuen Politik von Charles de Gaulle – so auch Josef Klaus. Die SPÖ, wie sie jetzt genannt wurde, war ihrerseits heillos zerstritten.
Zwischen Bruno Pittermann und Franz Olah tobte der innerparteiliche Grabenkampf, wobei Olah als vormaliger Präsident des Gewerkschaftsbundes und Innenminister den gesellschaftlich rechten Rand ansprechen wollte, um die konservative Vormacht zu brechen. Dies geschah mit dem merkwürdigen Kauf der Kronenzeitung samt ihrer berüchtigten Blattlinie. Die Folge war eine dramatische Krise der sozialdemokratischen Partei. Es war zugleich die Chance für Bruno Kreisky, der eher auf der Seite Franz Olahs stand.
Mit Bruno Kreisky gab es wieder die Sozialdemokratie, es gab vor allem die Wiederkehr der historischen Träume und Visionen. Die Modernisierung Österreichs war das Leitmotiv. Dass der politische Weg Österreichs damals durchaus paradox war, schien Kreisky zu beflügeln. In den 60er Jahren war die linke Frankfurter Schule in aller Munde. Sie erntete das Protestpotential der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der Gegner des Vietnam-Kriegs, was sich hierauf in Paris und Berlin fortsetzte. Die Studentenrevolten rissen nicht ab.
Dirigent der allgemeinen Unruhe-Stiftung war Daniel Cohn-Bendit, in Deutschland Rudi Dutschke. De Gaulle musste abtreten, in Österreich war hingegen noch kein solcher Aufbruch zu spüren. Mit Kreisky war aber der Sozialismus dennoch in aller Munde, eine laizistisch-bürgerliche Form – aber immerhin. Für die Sozialdemokratie in Europa gab es nun wieder einen starken Aufwind. Diesen verkörperten Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky, später Francois Mitterand.
Mit Kreisky begann der Siegeslauf der Sozialdemokraten, den Franz Vranitzky fortsetzen konnte. Es gab aber um 1985 auch schon deutliche Signale, der Sozialdemokratie drohe der Abschwung – in ganz Europa. Noch konnte man sich retten, es gab Bundeskanzler, die aus der SPÖ stammten, aber die ideelle Koalition, die Kreisky für Bürgerliche vorsah, wurde vernachlässigt .
Das neue Erscheinungsbild für die europäische Sozialdemokratie wurde Gerhard Schröder in Deutschland, in Österreich Alfred Gusenbauer. Sie schienen die Häme zu verkörpern, die oft genug wiederholt wurde: Sozialist kann man nur sein, wenn man auch Millionär werden kann. Mit dieser ironischen Zwischenbemerkung schien die Partei sich arrangiert zu haben, also liefen die Repräsentanten eher neoliberalen Erfolgsverheißungen nach als gegen Armut und für Bildung zu kämpfen. Das führte zur Pleite der sozialdemokratisch orientierten Bank für Arbeit und Wirtschaft, letztlich auch zur katastrophalen Schwächung der Gewerkschaften.
Die letzten Wahlen 2024 haben das Dilemma in der Sozialdemokratie deutlich gezeigt: Es gibt nicht einmal mehr den Anschein einer Bewegung in der Partei oder ein erkennbares realistisches Anliegen. Nicht einmal Kopien aus der Ersten Republik werden hergestellt, um weiterhin als Kulturbewegung zu gelten. Damals hatte es ein Arbeiter-Symphonie-Orchester gegeben, das zeitgenössische Musik angeboten hatte: Arnold Schönberg oder Richard Strauss.
Das heutige Musikverständnis richtet sich eher nach den Programmen rezenter und lauter U-Musik. Früher hatten Bildungsvereine verbilligte Abonnements für Burgtheater und Oper angeboten. Jetzt vernachlässigen die Sozialdemokraten ein Bildungsprogramm, das früher in der Ausrichtung von Max Adler auch die philologischen und historischen Humanwissenschaften enthielt. Umso öfter wird der alte Schlachtruf repetiert: Mehr Arbeiterkinder an die Universitäten.
Die neuen und zahlreichen Bildungswege orientierten sich mehr und mehr an einer Berufsausbildung und daher wird der traditionelle Gedanke humanistischer Bildung fallen gelassen. Das erleichtert das Schwimmen auf der Welle von Genderism, Binnen-I und Queer. Es scheint wichtiger zu sein, ängstlich den mondänen Mentalitätszwängen zu entsprechen. Also geben sich die Spitzenfunktionäre der Partei lieber dem Ökopazifeminismus hin, der in der Sozialdemokratie nie eine feste Heimat beziehen kann. Dieses Allerweltswort ersetzt Gesinnung und Programm.
So entspricht man Mentalitäten und nimmt die Frustration bei der großen Zahl gealterter Modernisierungsverlierer nicht wahr. Es herrscht die Überzeugung, den multilingualen Ort in Zukunft politisch ansprechen zu müssen und darunter versteht man das Akronym: /LGBTQ+/ – lesbisch, Gay, Bi, Trans, Queer, Intersex und mehr…– und steht jeder Weiterung zur Verfügung. Und seit Jahrzehnten werden auch die Folgen der Migration nicht benannt. Das führte in Deutschland zu den bis heute unbewältigten Vorwürfen von Thilo Sarrazin in Deutschland schafft sich ab, in Österreich verweigert man sich jeder Debatte darüber. Dennoch wundert man sich über das scharenweise Abwandern der Wähler nach rechts.
Sogar in Fragen der Arbeitswelt hat die Sozialdemokratie ihre Kompetenz eingebüßt. Es ist nämlich seit der Pandemie eine Arbeitswelt zum Vorschein gekommen, die die historische ablöste. Es wäre zu erwarten gewesen, dass hier die Sozialdemokratie ihre Kante zeigt. Offenbar überraschte das Problem einer Privatisierung der Arbeit in der Art des home office. Oder man hat es sogar begrüßt.
Die Möglichkeit der Selbstausbeutung sehen Sozialdemokraten nicht als Schwund an ihrem Arbeitszeit-Modell. Über Leiharbeit schweigt man betreten, dafür wird die krause Idee ventiliert, nach einem künftigen Wahlsieg eine Drei- oder Vier-Tage-Arbeitswoche als sozialpolitisches Ziel durchsetzen zu wollen. Es erinnert an einen bekannten Buchtitel der 60er Jahre von Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen.
Die Sozialdemokratie hat in der Postmoderne die Dynamik eingebüßt. Im Gegensatz zur Zeit ihrer Gründung hat sie große Teile des Politischen aus der genuinen politischen Theorie ausgesondert. In logischer Folge sind damit große Menschengruppen aus der politischen Domäne verloren gegangen, wenn man hier etwa an das Versäumnis denkt, die Folgen der Migration eher vor sich her zu schieben als zu lösen.
So geschah es, dass die Sozialdemokratie am Mangel einer politischen Klasse zu leiden begann und einer Gesellschaft gegenübersteht, die immer komplexer und undurchsichtiger wird. Die sozialen Prozesse der Gegenwart schaffen die neue Diversität der Gesellschaft, die nun dringend einer politischen Theorie bedürfte. Das Dilemma äußert sich akut in dem neuen biopolitischen Gegensatz zwischen Freiheit und Leben. Tendenziell orientiert sich die Sozialdemokratie an Freiheitsformen eines abgestandenen Individualismus, während das Leben nur als Wiederkehr autoritärer Zugriffe auf Individuen aufgefasst wird.
Die Migration hat es deutlich gemacht. Über eine politische Theorie war einmal in der Frankfurter Schule und mit Herbert Marcuse in Deutschland gesprochen worden, doch das hatte auf die österreichische Sozialdemokratie kaum abgefärbt. Sie hat sich stattdessen im Wiener Rathaus und im Rückblick aufs grandiose Rote Wien hinterm Eigenlob verschanzt. So stark die Wiener Sozialdemokratie in ihrer politisch-ethischen Substanz auch sein mag, so war man doch dem Hegel´schen Ende der Geschichte nahe gekommen, also dem Verlust an Perspektive innerhalb eines demokratischen Sozialismus.
Die sozialen Bestimmungen der Menschen werden durch organisch-genetische oder techno-ökonomische substituiert. Innerhalb dieses Begriffsfeldes soll es noch Freiheit geben, allerdings eine Freiheit ex negativo. Da sich die österreichische Sozialdemokratie stets als besonderes Kulturmodell verstanden hat, ist der Misserfolg bei der letzten Wahl ein katastrophales Zeichen, weil klar geworden ist, dass eben dieses politische Kulturmodell nur mehr eine mangelhafte Präsenz im österreichischen Selbstverständnis besitzt.
Mit dem Anwachsen der Diversität in der Gesellschaft ist eine weitere Schwächung zu befürchten. In welche Richtung werden die politisch Obdachlosen wohl gehen? In der Donaumonarchie hatte es Ferdinand Kronawetter klar und bündig ausgesprochen: Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls.
Also wurde 2024 nicht einmal Kreiskys Plan von 1968 kopiert, einen Rest von Intellektuellen zu mobilisieren. Sozialdemokratisch wurde zum Eigenschaftswort von Phantasielosigkeit und Blickverweigerung. Wenn schon in Europa Sozialismus in ein Niemandsland abdriftet, so befindet sich Österreich mitten drin.
Oder kann argumentiert werden, die oft erwähnten Ziele des Sozialismus seien in der Gesellschaft mit Wohlstand, sozialem Frieden und gesichertem Alter schon erreicht? Sind das die Ziele gewesen? Und sind jetzt nicht wieder Zustände eingetreten, die laut nach Sozialismus rufen: Mangelhafte Ausbildung? Krieg? Armut?
Der Eindruck ist überdeutlich: Die Sozialdemokratie schafft sich selbst ab.
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